Begabte Kinder im Schulalltag
Das Mittelfeld voranbringen: Die schulische Förderung von Begabungen konzentriert sich nicht mehr nur auf die Hochbegabten. Es gibt inzwischen einige Programme und Instrumente für Lehrpersonen.
Wer besonders schwach ist in Mathe oder Deutsch, der braucht Nachhilfe, klar. Auch Überflieger, die sich im Unterricht schnell langweilen und ihn daher oft stören, müssen besonders gefordert werden, um ihrer Hochbegabung Rechnung zu tragen. Das war jahrzehntelang der Status quo in Schulen – nicht nur in der Schweiz. Deshalb gab und gibt es Förderkurse am Nachmittag und in den Sommerferien für die Schwachen, Wettbewerbe und Arbeitsgruppen für die Schlauen.
Zwischen diesen beiden Polen liegt ein grosses, breites Mittelfeld von Schülerinnen und Schülern, die ihre schulischen Aufgaben problemlos alleine bewältigen können, ohne dabei immer mit herausragenden Ergebnissen aufzufallen. Und die fielen meist auch durch jedes Förderraster. Seit gut zwei Jahrzehnten aber nehmen Lehrpersonen und Schulen das Mittelfeld stärker in den Fokus. Die Begabungs- und Begabtenförderung in Schulen wird populärer, auch, weil sich Erfolge einstellen.
Einen grossartigen Einblick in die Ideen einzelner Schulen in der Deutschschweiz geben die Filme der sogenannten LISSA-Preisträger. Mit dem LISSA-Preis zeichnet die Stiftung für hochbegabte Kinder seit 2004 vorbildliche Schulprojekte aus, die in den Schulalltag integriert sind und eine breite Begabungsförderung für alle Kinder anstreben.
Heisst: Mit einem stärkenorientierten Unterricht wird jedes Kind nach seinen Bedürfnissen gefördert. Das Credo vieler LISSA-Projekte lautet «Interesse für die Interessen der Kinder zeigen». Statt Unterricht nach Schema F zu halten, versuchen die Lehrpersonen, auf die individuellen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler einzugehen.
Das eigene Können und Tun reflektieren
Vor inzwischen 21 Jahren hat Beat Schelbert gemeinsam mit Mitstreitern das Forum für Begabungsförderung gegründet. Ziel war es, die Entwicklung von Begabungs- und Begabtenförderung im Schulbereich zu unterstützen. Eine Pionierarbeit. Mittlerweile wird das Thema von vielen Menschen und Institutionen aufgegriffen. Das Forum für Begabungsförderung war erfolgreich und hat seinen Existenzzweck damit selbst abgeschafft. Beat Schelbert aber ist dem Thema treu geblieben.
Seit jetzt bald 20 Jahren arbeitet der Lehrer an der Schule Riedmatt in Wollerau SZ unter anderem mit dem Talentportfolio. «Ich habe in all der Zeit kein anderes Instrument entdeckt, mit dem ich die Jugendlichen ähnlich effektiv in die Position bringe, in der sie wissen: Ah, jetzt bin ich der Gegenstand, um den es sich dreht, ich muss mal über mich nachdenken.»
Dank dem Talentportfolio wissen Jugendliche: Jetzt dreht es sich um mich.
Beat Schelbert, Lehrer
Dieses Reflektieren des eigenen Könnens und Tuns sei ein entscheidender Punkt, um sich über Begabungen und Talente klar zu werden, und gleichzeitig ein schwieriger Prozess. «Der wird mit Hilfe des Talentportfolios viel angenehmer», sagt Schelbert. Vor allem in der Oberstufe merke man deutlich, dass der Fächerkatalog alleine nicht unbedingt zu einem geeigneten Beruf führe.
«Und wie soll man einen Beruf wählen, wenn man sich selbst und die eigenen Stärken nicht kennt?» Umso mehr, wenn diese im schulischen Bereich gar nicht oder nicht in der vollen Ausprägung gezeigt werden können. Oder aber zu unspezifisch sind. Denn wer weiss schon, was genau ein Schüler kann, wenn im Zeugnis bei sozialem Verhalten steht, er habe die Vorgaben erreicht oder übertroffen?
Individuelle Fähigkeiten erkennen
«Der Portfoliogedanke versucht, solchen Aussagen ein Bild zu geben», erklärt Schelbert. Wie sinnvoll es sein kann, über den Schulalltag hinaus auf die Suche nach individuellen Fähigkeiten zu gehen, erklärt Schelbert an einem Beispiel: Ein 13-jähriger Schüler ist in der Schule bisher vor allem mit schwachen Leistungen aufgefallen. In seiner Portfoliomappe findet sich jedoch der Hinweis «top in Leadership». Weil der Junge als Captain einer Fussballmannschaft ausserhalb der Schule Verantwortung übernimmt, sein Team bei einem Rückstand motiviert und im Training mit gutem Beispiel vorangeht.
«Und wer wählt den Captain? Die anderen Spieler, sie erkennen ihn an und zeigen damit, dass sein Portfolionachweis auf guten Füssen steht», sagt Schelbert, dessen Kollegin auch schon mit der ganzen Klasse im Kuhstall stand, als zwei Jungs behauptet haben, sie könnten eine Kuh von Hand melken. Es stimmte, die Qualifikation durfte ins Portfolio.
Das Wissen um die eigenen Talente motiviert und kann bei der Berufswahl helfen.
Chiara Nemeht, Schülerin
«Am Talentportfolio gefällt mir, dass man dadurch neue Fähigkeiten von sich kennenlernen kann», sagt die Schülerin Elena Marty, 13 Jahre alt. «Es ist wie eine persönliche Mappe, in der meine positiven Eigenschaften festgehalten werden.» Ihre Freundin Chiara Nemeth, ebenfalls 13-jährig, findet, dass das Wissen um die eigenen Talente motiviert und später bei der Berufswahl hilfreich sein kann. «Ausserdem lernt man in der Arbeit mit dem Portfolio neue Begriffe kennen und sieht bei anderen Kindern verschiedene Sachen, die diese gut können», sagt Chiara.
Ernüchterung ist Teil des Prozesses
Im Talentportfolio geht es auch um Ernüchterung. Mitunter müssen sich Schüler eingestehen, dass das, was sie zu können behaupten, keine besondere Fähigkeit ist. Dass sie vielleicht geblufft haben oder einfach nur ein bisschen übertrieben. «Das ist mitunter schmerzhaft, aber ein wichtiger Prozess in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung», sagt Schelbert.
Wann immer er mit einem Schüler oder einer Schülerin solche «falschen Talente» aufspürt, lenkt er den Blick gleich wieder aufs Haben-Konto. Denn die Diskrepanz zwischen Innen- und Aussensicht ist oft gross. Da ist ein Schüler frustriert, weil er scheinbar «nichts Besonderes» kann. Er spricht wie viele seiner Mitschüler drei Sprachen, das kann also kein Talent sein.
«Eine Sprache davon aber ist Urdu – und dann muss ich diesen Schüler darauf hinweisen, wie einzigartig er ist», sagt Schelbert. Das Anstoss-Geben, um genau hinzuschauen und die eigenen Fähigkeiten zu entdecken, sei essenziell. «Mir ist wichtig, dass jede Schülerin und jeder Schüler an den Punkt kommt, an dem sie und er sagen kann: Ich bin wer, ich weiss und ich kann was.»