(Jemand) Anders sein
Als Kind lebt man das Rollenspiel noch voll aus, ist ständig jemand anderes. Was aber, wenn es auch später noch schwerfällt, sich selbst anzunehmen? Warum gibt es für das Leben keinen zweiten Versuch? Unser Kolumnist wagt zu träumen.
Meine Lieblingsfantasie als Kind war es, jemand anderer zu sein, als der, der ich bin. Stundenlang konnte ich mir ausmalen, eines Morgens als Fussballprofi, Archäologe, Geheimagent oder wenigstens als der breitschultrige Jens aus der Parallelklasse zu erwachen. Was heisst ausmalen, in diesen Momenten war ich ein Geheimagent. Ich war es mit einer Intensität und Ernsthaftigkeit, wie ich sie in meinem richtigen Leben nie mehr erreicht habe. Meine Träume waren immer realer als meine Wirklichkeit. Aber was macht man gegen dieses Grundgefühl der Pubertät?
Die Versuchung, sein Leben gegen ein anderes zu tauschen, ist nicht nur für Heranwachsende verlockend.
Niemand hat diese Frage radikaler und abschliessender beantwortet als Patricia Highsmith: In ihrem legendären Roman «Der talentierte Mr. Ripley» ermordet die eine Person (Tom Ripley), die andere (Dick Greenleaf) und nimmt ihre Identität an. Das Motiv dieser Tat wird nie verraten, genauer: muss nicht verraten werden, denn wer kennt nicht jenes Gefühl, dass nichts schlimmer ist, als man selbst zu sein?Und so schlüpft Tom Ripley stellvertretend für alle Missverstandenen, Unfertigen und Suchenden in die Schuhe eines anderen – denn was hat er schon zu verlieren, ausser seiner eigenen Geschichte?
Hat sich nicht jeder schon mal ausgemalt, wie es wohl wäre, sein Leben noch mal neu zu starten, als eine andere Person? Man darf Prüfungen wiederholen, warum dann nicht auch ganze Leben? Warum müssen wir ein Leben lang mit (Fehl-)Entscheidungen leben, die wir vor langer Zeit getroffen haben? Kurz: Warum darf man nicht vor seinem eigenen Leben davonlaufen? Mafiabosse, die durch die Kronzeugenregelung freigesprochen werden, dürfen im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms ein neues Leben beginnen.
Es gibt keinen Neustart, nur ein Ausprobieren, und, wenn wir Glück haben, ein Anfreunden mit dem, was wir sind.
Wo sind die Zeugenschutzprogramme für ganz gewöhnliche Menschen, die einfach vor ihrem langweiligen Leben fliehen wollen? Wo sind die Zeugenschutzprogramme für alle, die über belastende Informationen über sich selbst verfügen? Natürlich muss man vorsichtig sein, denn die Person, die wir am allerwenigsten dabeihaben wollen, werden wir natürlich nicht los: uns selbst. Ein anderer grosser Schriftsteller hat Highsmiths Fantasie, wenn man so will, widerlegt: Truman Capote. In «Frühstück bei Tiffany» liegt Holly Golightly, die vielleicht berühmteste aller Identitätswechslerinnen, in den Armen ihres Geliebten.
Er sagt: Wo immer du hinläufst, wie immer du dich nennst, dein Käfig wird immer derselbe und du immer du selbst sein. Eine Liebesszene, die ihre Zärtlichkeit daraus zieht, dass sie ein Stück Wahrheit über das Leben verrät: Wir alle sind Schnecken, die unsere Schalen, unser selbst, mit uns herumschleppen müssen, egal, wohin wir gehen. Was Truman Capote allen Heranwachsenden zurufen will, ist Folgendes: Es gibt keinen Neustart, nur ein Ausprobieren, und, wenn wir Glück haben, ein Anfreunden mit dem, was wir sind.