Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen
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Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen

Lesedauer: 7 Minuten

Schon Sechsjährige klagen heute über Rückenbeschwerden. Die Ursachen können vielfältig sein, der Schulthek ist aber meist nicht schuld. Viel öfter stehen mangelnde Bewegung oder seelische Belastungen im Vordergrund.

Text: Claudia Füssler
Bild: Plainpicture

Verspannungen im Nacken und an den Schultern, ein Gefühl von Steifheit auf Höhe der Brust oder ein dumpfer Schmerz unten an der Lendenwirbelsäule: Längst haben sich Rückenschmerzen als Volkskrankheit Nummer eins einen Namen gemacht. Weniger bekannt ist, dass immer mehr Kinder und Jugendliche über solche Symptome klagen.  

«Es gibt zwar keine evidenzbasierten Zahlen für die Schweiz», sagt Sylvia Willi, «doch ich habe auch den Eindruck, dass das zunimmt.» Praktisch täglich hat die Orthopädin mit eigener Praxis in Zürich mit jungen Patienten zu tun, denen das Kreuz wehtut.

Die Schätzungen der Fachleute, wie viele Kinder und Jugendliche betroffen sind, variieren stark, im Mittel geht man von etwa einem Drittel aus. Zu diesem Ergebnis kommt unter anderem die europaweit grösste Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, KiGGS genannt, des deutschen Robert-Koch-Instituts. «Wir sehen oft schon Sechs- und Siebenjährige, die unter Rückenschmerzen leiden, mit zunehmendem Alter werden es mehr», sagt Sylvia Willi. Mädchen seien häufiger betroffen als Buben.

Seelische Belastungen und Stress

Warum aber sind die jugendlichen Rücken so schmerzgeplagt? Mediziner haben da mehrere Verdächtige ins Visier genommen. Auch wenn heute noch immer einige Orthopäden dieser Meinung sind, ist der Schulthek als Verdächtiger doch weitgehend entlastet. Weiter unter kritischer Beobachtung stehen einige andere Faktoren: seelische Belastungen oder Stress zum Beispiel, und – besonders naheliegend – mangelnde Bewegung. Dass ein Zusammenhang besteht zwischen langem Sitzen und Rückenschmerzen, haben inzwischen einige Studien belegen können. 

«Fakt ist, dass die Kinder heute sicher eine sehr andere Alltagsbewegung haben als die Kinder vor zwanzig oder dreissig Jahren», sagt Sylvia ­Willi. «Das liegt einerseits natürlich an der zu­nehmenden Digitalisierung und der für jeden verfügbaren Elektronik, andererseits aber auch am guten Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs.» 

Kinder sitzen zu viel

Eine halbe Stunde Fussweg in die Schule oder am Nachmittag fünf Kilometer mit dem Rad zum Fussballtraining oder Klavierunterricht waren früher ganz selbstverständlich und weder Eltern noch Ärzte haben das als körperliche Bewegung eingestuft. 

Heute fallen bereits kürzere Strecken in die Kategorie «Sport». Dafür gehen bei vielen Kindern und Jugendlichen zusätzlich zur Sitzdauer in der Schule täglich zwei bis drei Stunden für Computerspiele und Fernsehen drauf – Zeit, die ihnen für Bewegung fehlt. Dabei muss es gar nicht zwingend ein «echter» Sport sein, sagt Willi. Es reiche völlig, sich mehrmals pro Woche ausserhalb der Schule intensiv zu bewegen – Abwechslung und Spass können dabei gerne im Vordergrund stehen.  

Fussball und Hockey sind nicht rückenfreundlich

Kinder, die Sport treiben möchten, suchen sich am besten eine Sportart aus, in der die Arme gefragt sind: Tanzen, Klettern, Volleyball, Handball oder ein Kampfsport zum Beispiel. «Da hat man mehr Körperspannung und Körpergefühl», sagt Willi, und der Rücken wird gut mit bewegt. Sportarten wie Fussball oder Hockey sind nicht so rückenfreundlich, da die Spieler sich oft in einer geduckten Haltung befinden. Aber sie sind besser als keine Bewegung. «Ich rate generell dazu, gemeinsam mit den Kindern einen Sport zu finden, der ihnen Spass macht, denn nur so bleiben sie wirklich dran», sagt Willi.

Egal bei welchem Sport: Dehnen ist im Kindes- und Jugendalter besonders wichtig, da sich die Muskeln im Wachstum befinden. Verkürzen sich die Muskeln in dieser Phase, weil sie zu einseitig belastet werden, führt auch das wieder zu Schmerzen. 

Die Schmerzen und Fehlhaltungen sind meist etwas Vorübergehendes, sie kommen und gehen auch wieder.

Sylvia Willi, Orthopädin

Hilfreich sei, in Vereinen Sport zu treiben. Joggen gehen mit Mami, sagt Willi, sei zwar ein gut gemeinter Ansatz, funktioniere aber auf Dauer meist nicht. In Gruppen und mit Gleichaltrigen sei die Dynamik höher und die Motivation zum Weitermachen entsprechend stärker.  

Genauso, wie sich zu wenig Bewegung auf die Rückengesundheit auswirken kann, ist das Wohlbefinden unserer Wirbelsäule und Rückenmuskulatur gefährdet, wenn Kinder ins andere Extrem umschlagen und ihrem Körper zu viel abverlangen, im Leistungssport etwa.

Die Schmerzen sind meist vorrübergehend

Die Sorge vieler Eltern, die Rückenprobleme ihrer Sprösslinge seien die Grundlage für entsprechende Beschwerden im Erwachsenenalter, ist unbegründet, dafür gibt es bislang keine wissenschaftlichen Belege. «Die Schmerzen und Fehlhaltungen sind meist etwas Vorübergehendes, die kommen und gehen auch wieder», beruhigt Sylvia Willi. Doch wer sich als Kind wenig bewegt, mutiert als Erwachsener eher selten zum Sportfan. Möglich also, dass sich mit zunehmendem Alter neue Rückenbeschwerden melden.

Mitunter liegen Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen im Wachsen begründet. Schiesst das Kind in die Höhe, verändern sich die Proportionen im Körper, dann geht schon mal das Körpergefühl ein wenig verloren. «Wenn ich einem solchen Kind sage: ‹Stell dich mal richtig hin›, dann kommt da eine ganz unnatürliche Haltung raus», erzählt Sylvia Willi. 

In solchen Fällen können bereits einige Sitzungen bei einem Physiotherapeuten viel helfen. Wichtig ist, einen Therapeuten aufzusuchen, der sich mit den Besonderheiten des im Wachstum befindlichen Körpers auskennt. 

Jüngere Kinder sollten keine Rucksäcke tragen, sondern einen gut eingestellten Schulthek.
Jüngere Kinder sollten keine Rucksäcke tragen, sondern einen gut eingestellten Schulthek.

Weitaus schwieriger ist die Behandlung eines Rückenschmerzes, der sich aufgrund seelischer Belastungen entwickelt hat. Sorgen oder Ängste übertragen sich bei Kindern und Jugendlichen schnell auf die körperliche Ebene. Streit mit oder unter den Eltern, Probleme in der Schule oder auch eine emotionale Vernachlässigung durch Bezugspersonen können sich als Schmerzen in Kopf, Bauch oder Rücken niederschlagen. Hier ist dann die behutsame Anamnese des Arztes gefragt.   

Ein hoher Prozentsatz der Rückenschmerzen bei Kindern hat keine organische Ursache, sagt Kerstin Kuminack, die die Sektion Kinderorthopädie der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am deutschen Universitätsklinikum Freiburg leitet. Das heisst: Veränderungen im Skelett oder am Körper können als Ursache für die Schmerzen ausgeschlossen werden. «Allerdings hat man Hinweise dafür gefunden, dass Rückenschmerzen und Stress zusammenhängen können», sagt Kuminack.

Wann sollte der Arzt konsultiert werden?

Klagt ein Kind oder ein Jugendlicher über Rückenschmerzen, sollten diese auf jeden Fall medizinisch abgeklärt werden. Denn auch wenn es sich um funktionelle und muskuläre Probleme handelt, können schwerwiegende Krankheitsbilder hinter den Beschwerden stecken. Eine ausgeprägte Skoliose zum Beispiel, ein angeborenes Wirbelgleiten, Tumore oder ein sogenannter Flachrücken. Auch Fehlhaltungen, die nicht schmerzhaft sind, seien ein häufiger Grund für den Besuch in der Klinik, sagt Kuminack.

Wichtig für Eltern ist zu wissen, dass sie vor allem bei plötzlich auftretenden und sehr genau zu lokalisierenden Schmerzen einen Arzt aufsuchen. «Auch bei Begleitsymptomen wie Fieber oder Gelenkschmerzen oder anderen auffälligen Veränderungen im Körper sollte medizinischer Rat eingeholt werden», sagt Kuminack. 

Leiden Kinder und Jugendliche unter chronischen, oft nicht genau lokalisierbaren Rückenschmerzen und kann eine organische Ursache ausgeschlossen werden, sollten die familiäre und die schulische Situation ebenso wie der Lebensstil – Stichwort Bewegung und gesunde Ernährung – kritisch unter die Lupe genommen werden. 

Theoretisch können die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine Schmerztherapie bekommen. Praktisch sollten Eltern jedoch niemals in Eigenregie Schmerztabletten ausgeben, sondern sich ausführlich mit einem Kinderarzt beraten. «Der weiss, welche Medikamente sich für den speziellen Fall eignen und ob womöglich auch eine Verhaltensänderung angesagt ist. Das kann beispielsweise mehr Bewegung oder auch eine Sportreduktion sein», erklärt Kuminack.

Schulthek rückenschonend einstellen

Lange gaben Experten die Empfehlung aus: Das Gewicht eines Schultheks darf höchstens zehn Prozent des Körpergewichts des Kindes betragen. Davon ist man inzwischen abgekommen, denn es konnte nicht gezeigt werden, dass Theks, die schwerer sind, dem Rücken schaden. Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie schwer der Schulranzen sein darf.

So sollten Eltern sich an der Muskelkraft ihres Kindes und an der Länge des Schulwegs orientieren und vor allem den Weg einmal gemeinsam mit vollgepacktem Thek ablaufen. Während ein Kind schon mit einem Ranzen, der zehn Prozent seines Körpergewichtes wiegt, nach zwei Drittel der Strecke ins Schnaufen kommt, schafft ein anderes vielleicht problemlos fünfzehn Prozent seines Körpergewichts. Sich an pauschalen Angaben zu orientieren, ist nicht sinnvoll.

Für alle Kinder gilt jedoch: Das Rückenteil des Ranzens sollte gepolstert sein und sich gut an die Körperform anpassen. Breite Schultergurte erleichtern das Tragen, da sie das Gewicht des Ranzens besser verteilen. Sie sollten straffgezogen sein, so dass der Thek an den Schulterblättern anliegt und die Oberkante mit den Schultern abschliesst.

Sind sie zu lang eingestellt, beugt sich das Kind bei entsprechendem Gewicht ins Hohlkreuz. Dadurch werden Muskeln und Gelenke stärker belastet. Auf Rucksäcke sollten jüngere Kinder noch verzichten, sie bieten weniger Stabilität und können sich nicht passgenau an den Rücken anlegen.

Vorsicht, Smartphone-Nacken droht, weil der Kopf in diesem Winkel so viel schwerer ist. Bild: Eric Antunes
Vorsicht, Smartphone-Nacken droht, weil der Kopf in diesem Winkel so viel schwerer ist. (Bild: Eric Antunes)

Der Smartphone-Nacken 

Die nach vorne gebeugte Haltung beim Blick aufs Handy kann auf Dauer zu starken Beschwerden führen. So beugen Sie vor. Den Blick ständig nach unten aufs Display gerichtet, so wird die Generation Smartphone gerne beschrieben. Mediziner nennen das Flexionshaltung: den Kopf weit nach vorn abgeknickt, als würde sein Inhaber ihn bis auf die Brust sinken lassen wollen.

Im Normalfall balancieren wir unseren etwa 5 bis 7 Kilogramm schweren Kopf – bei Kindern und Jugendlichen wiegt dieser je nach Alter nicht viel weniger – über dem Körpermittelpunkt. Damit sind wir aufgerichtet und im Gleichgewicht. US-Wissenschaftler haben in einer Studie festgestellt, dass sich das Gewicht, das der Hals tragen muss, bei einem Neigungswinkel des Kopfes von 15 Grad auf 13 Kilogramm erhöht.

Im Alter bekommen wir die Rechnung

Neigen wir den Kopf um 45 Grad – typisch für Handynutzer –, erhöht sich diese Last auf mehr als 20 Kilogramm. Das Problem ist, dass es sich hier nicht um eine kurzfristige hohe Belastung handelt, sondern dass diese Beugehaltung permanent stattfindet. Das Nach-vorne-Beugen des Kopfes führt zu Stress im Nacken und generell auf der Körperrückseite. Die Muskeln verkürzen sich und lassen sich schlechter dehnen, das Aufrichten wird immer schwieriger. 

Die Haltung sorgt dafür, dass die Schulterköpfe weiter nach vorn treten, der Oberarmknochen ist nicht mehr richtig in der Schulter positioniert. Dadurch werden Gelenkkapsel und Sehnenstrukturen mehr belastet. Das führt auf Dauer zu Schmerzen und einer eingeschränkten Bewegungs­fähigkeit. Ein junger Körper steckt diesbezüglich noch viel weg, aber mit zunehmendem Alter erhalten wir die Rechnung für unsere Fehlhaltungen.  

Lieber Sprach- als Textnachrichten

Wird der Kopf nach vorn gebeugt, muss er gehalten werden. Das tut unter anderem auch der Muskel, der für das Heben der Schulter zuständig ist. Verspannt der aufgrund der Dauerbelastung, kann das zu Nacken- und Kopfschmerzen führen. Die Bandscheiben in der Halswirbelsäule sind weniger kräftig als die in der Lendenwirbelsäule, sie reagieren auf die Belastung mit Knochenauflagerungen am Rand. Diese können zum Teil sehr scharf werden, bei Unfällen oder Stürzen kann das leicht zu einer schwerwiegenden Verletzung der Halswirbelsäule führen. Vor allem von jungen Sportlern wie Snowboardern oder Mountainbikern sind solche Fälle bekannt.

Auch sogenannte Parästhesien, also Kribbeln und Taubheitsgefühle in Armen und Händen, sind die Folge überlasteter Bandscheiben. Was hilft? Lieber Sprachnachrichten diktieren, statt zu tippen, und – auch wenn das doof aussieht – das Handy auf Augenhöhe halten, statt den Kopf zu senken. 

Claudia Füssler
arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Am liebsten schreibt sie über Medizin, Biologie und Psychologie.

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