Klar darf ich naschen!
Diabetes Typ 1 ist die häufigste Stoffwechselerkrankung bei Kindern. Betroffene müssen lebenslang Insulin zuführen. Mit entsprechender Unterstützung können sie aber ein fast ganz normales Leben führen.
Die Stimme der Freundin klingt besorgt: «Ich glaube, du darfst das nicht essen, du hast doch Diabetes», sagt Mia zu Leonie, während sie in der Klasse ihren Geburtstagskuchen verteilt. «Doch, natürlich darf ich Kuchen essen, und zwar so viel ich will», entgegnet Leonie, «Ich brauche nur vorher eine Insulinspritze.»
«Mit solchen Vorurteilen haben kleine Diabetes-Typ-1-Patienten und deren Eltern leider sehr häufig zu kämpfen», beklagt Manuela Göldi, selbst Mutter eines an Diabetes Typ 1 erkrankten Kindes und Leiterin der Regionalgruppe Zürich beim Selbsthilfeverein Swiss Diabetes Kids. «Viele Menschen verwechseln Diabetes Typ 1 noch immer mit dem sehr viel häufigeren Diabetes Typ 2, der auch Alterszucker genannt wird und vor allem bei Erwachsenen vorkommt.»
Der Körper greift sich selbst an
Mit falschen Ernährungsgewohnheiten oder Übergewicht, wie bei Diabetes Typ 2, hat der kindliche Typ-1-Diabetes überhaupt nichts zu tun. «Diabetes Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung», erklärt Stefanie Wildi-Runge, Kinderärztin in Dübendorf ZH, spezialisiert auf pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie. «Dabei greift das Immunsystem des Körpers die eigenen insulinproduzierenden Zellen an und zerstört diese.» Steht dem Körper deshalb zu wenig oder gar kein Insulin mehr zur Verfügung, fehlt der Stoff, um die Kohlenhy-drate aus der Nahrung in die Zellen transportieren zu können. «So entsteht eine Schieflage, bei der der Blutzuckerspiegel auf der einen Seite immer weiter ansteigt, während die Körperzellen – trotz Überangebot – kaum noch Energie erhalten», sagt Wildi-Runge.
Wird nicht rechtzeitig gegengesteuert, kommt es – neben der Überzuckerung – zur sogenannten Ketoazidose, einer Übersäuerung des Blutes, die schlimmstenfalls zu einem lebensgefährlichen diabetischen Koma führen kann.
Wie es zu der Autoimmunerkrankung kommt, ist bis heute ungeklärt. «Es konnten zwar saisonale und regionale Häufungen beobachtet werden», sagt die Kinderdiabetologin. Auch die Genetik scheint eine gewisse Rolle zu spielen. So ist das Risiko für eine Diabetes-Typ-1-Erkrankung erhöht, wenn bei einem Elternteil (3 bis 5 Prozent) oder Geschwistern (5 bis 10 Prozent) ein Typ-1-Diabetes vorliegt.»
Die Ursachen liegen im Dunkeln
Eine eindeutige Ursache für die Autoimmunerkrankung konnte aber bis heute nicht ausfindig gemacht werden. «Betroffene Kinder oder deren Eltern tragen also keinerlei Schuld an der Erkrankung und können diese auch nicht beein-flussen oder gar verhindern», ver-sichert Stefanie Wildi-Runge. Groben Schätzungen zufolge sind in der Schweiz aktuell rund 3000 Kinder und Jugendliche von Diabetes Typ 1 betroffen.
«Jedes Jahr kommen etwa 220 bis 250 Neudiagnosen hinzu», sagt die Diabetes-Expertin. Als typisches Anzeichen für eine beginnende Diabetes-Typ-1-Erkrankung gilt sehr starker Durst. «Die Kinder trinken auffällig viel Flüssigkeit, müssen entsprechend häufig auf die Toilette, manche nässen nachts plötzlich wieder ein, obwohl sie schon trocken waren», so die Kinderdiabetologin. Es kann auch zu ungewollten Gewichtsverlusten kommen, weil der Körper zur Energiegewinnung Fett- und Muskelzellen abbaut. Darüber hinaus fühlen sich betroffene Kinder oft müde und schlapp und haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. «Liegen Verdachts-momente für eine Erkrankung an Diabetes Typ 1 vor, ist der erste Ansprechpartner der Kinderarzt oder die Kinderärztin», so Wildi-Runge. «Sie kann einen Blutzuckertest durchführen und bei Auffälligkeiten zur weiteren Abklärung an eine Fachärztin überweisen.»
Diabetes Typ 1 ist nicht heilbar
Wird Diabetes Typ 1 diagnostiziert, müssen die betroffenen Kinder lebenslang mit Insulin behandelt werden. «Eine Heilung ist bis heute leider nicht möglich», bedauert die Kinderdiabetologin. Dazu wird in der Regel ein bis zweimal am Tag ein langwirksames sogenanntes Basalinsulin gespritzt, das den Energiebedarf des körperlichen Grundumsatzes sichert. Zusätzlich muss zu jeder Mahlzeit noch ein kurzwirksames Insulin verabreicht werden, damit der Körper die Kohlenhydrate aus der Nahrung verwerten kann. Bei dieser Form der Insulintherapie dürfen die Kinder grundsätzlich alles essen und trinken, was sie möchten.
Eltern sollten die Schule von sich aus über die Diabetes-Erkrankung ihres Kindes informieren
Vor dem Verzehr jeder Mahlzeit müssen sie allerdings immer den Gehalt der Kohlenhydrate in der Nahrung bestimmen und den aktuellen Blutzuckerwert messen. Nur so kann die jeweils benötigte Insu-linmenge berechnet werden. «Das ist für die betroffenen Kinder und deren Familien natürlich erst mal eine immense Herausforderung», weiss Wildi-Runge. Zwar gibt es selbstverständlich Hilfen durch praxisnahe Schulungen und Ernäh-rungsberatungen. Auch besteht in gewissen Fällen die Möglichkeit der Blutzuckermessung und Insulinabgabe über moderne Insulin-Pumpensysteme, trotzdem stellt die neue Situation den Alltag der Betroffenen zunächst einmal komplett auf den Kopf.
Plötzlich ist alles anders
Was soll ich kochen? Wie berechne ich die Kohlenhydrate? Was passiert, wenn ich zu viel oder zu wenig Insulin gegeben habe? «Am Anfang hat man Fragen über Fragen, weil alles neu ist und man fürchterlich viel Angst hat, etwas falsch zu machen», weiss Manuela Göldi aus eigener Erfahrung. «Meist spielt sich das irgendwann ein und wird neuer All-tag.» Was jedoch bleibt, ist die Angst, loszulassen, darauf zu vertrauen, dass auch andere Betreuungsperso-nen gut achtgeben können bezie-hungsweise, dass das Kind sein Insu-linmanagement auch selbst gut hinbekommt – vor allem während der Schulzeit.
«Zuerst mal muss man wissen, dass Kinder und Jugendliche mit Diabe-tes Typ 1 grundsätzlich alles machen dürfen, was Kinder ohne Diabetes auch machen dürfen», betont Göldi. «Dazu gehört, dass Kinder mit Dia-betes Typ 1 die ganz normale Regelschule besuchen können und darauf auch ein Anrecht haben.» Weil die Eltern während der Schulzeit nicht dabei sein können, sollte es selbst-verständlich sein, dass sie die Schule über die Diabetes-Erkrankung des Kindes informieren.
- Die Patientenorganisation Diabetes Schweiz ist der Dachverband von 20 regionalen Diabetesgesellschaften. Auf der Website finden Interessierte, Betroffene und deren Angehörige viele Hintergrundinformationen zum Thema sowie Hilfe und Beratung zu lebenspraktischen, aber auch zu rechtlichen Fragen in Bezug auf Diabetes, z. B. das Merkblatt Schule und Kindergarten oder das Merkblatt Hilflosenentschädigung. www.diabetesschweiz.ch
- Swiss Diabetes Kids ist der Selbsthilfeverein speziell für Familien mit diabetischen Kindern. Hier können sich betroffene Familien an regionalen Treffen und Events persönlich austauschen und finden Rat, Hilfe und Unterstützung auch bei Fragen zum Schulbesuch sowie der Lehrstellensuche. www.swissdiabeteskids.ch
- kiknet bietet für Lehrpersonen kostenlose Materialien für den Unterricht zu den unterschiedlichsten Fachthemen an. So steht auch ein umfang-reiches Angebot an Lern-, Übungs- und Unterrichtsunterlagen zum Thema Diabetes zum kostenlosen Download zur Verfügung.
«Von der ersten bis zur neunten Jahrgangsstufe sind Eltern wegen der Mitwirkungspflicht im Schulbetrieb sogar dazu verpflichtet», betont Caroline Brugger Schmidt, Rechtsberaterin und zuständig für den Fachbereich Kinder, Jugend und Eltern bei der Patientenorganisation Diabetes Schweiz. Aber auch später noch ist es sehr sinnvoll, dass sich Eltern und Schule stets miteinander austauschen. «So haben Lehrpersonen dem betroffenen Kind gegenüber auch eine gewisse Mithilfepflicht», erklärt Brugger Schmidt. «Das heisst, dass Eltern erwarten dürfen, dass die Lehrperson das Kind nach Absprache zum Beispiel an die Blutzucker-messung und Insulinabgabe erinnert und ausserdem mithilft, die vorher von den Eltern angegebenen Blutzucker werte und Insulineinheiten zu überprüfen.»
Eine Insulindosis zu verabreichen, gehört aber nicht mehr zur Mitwirkungspflicht und können die Eltern von der Lehrperson auch nicht verlangen. «Wenn das Kind sich noch nicht zuverlässig selbst spritzen kann, können Eltern für das Znüni beispielsweise auf kohlenhydratfreie Snacks ausweichen, denn dann muss erst zum Mittagessen wieder Insulin gegeben werden», rät Brugger. Ansonsten sollte immer ein Ansprechpartner für die Schule beziehungsweise die Lehrpersonen erreichbar sein, der weiss, was im Notfall zu tun ist und auch handeln kann. «Alles in allem halte ich es für das Wichtigste, dass die Eltern den Lehrpersonen die Angst nehmen», rät Brugger Schmidt. «Gewisse Blutzuckerschwankungen sind normal und schwere Komplikationen sind heutzutage extrem selten.» Mit ein wenig Unterstützung und Toleranz auf beiden Seiten können Kinder mit Diabetes Typ 1 so eine ganz normale Kindheit und Jugend sowie Schulzeit verbringen.