Pflegefamilie: Eltern auf Zeit

Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo
In der Schweiz wachsen rund 19’000 Kinder und Jugendliche nicht bei ihren leiblichen Eltern, sondern in Heimen oder bei Pflegeeltern auf. So zum Beispiel Michael* und Nico. Aber wie lebt es sich als Pflegefamilie?
Yaris Narben sind mit ein Grund dafür, warum sich seine Eltern Karin und Thomas Bucher* für die Aufnahme eines Pflegekindes entschieden. Der Kindergärtler hatte bei seiner Geburt einen schweren erblichen Gendefekt. Eine Stammzellentransplantation machte ihn wieder gesund. Aber die Monate, die das Baby isoliert in einem Zelt im Spital verbringen musste, die Operationen, die Medikamente, die Angst – das wollten die Eltern von Yari und dessen Bruder Neo, 7, nicht nochmals erleben. Ein drittes Kind wollten sie trotzdem. «Aber die Idee einer Adoption behagte uns nicht», sagt Thomas. «Da geht es immer um viel Geld. Wir wollten uns nicht fühlen, als würden wir ein Kind kaufen.» Beim Googeln nach Alternativen stiessen sie auf die Fachstelle Pflegekind Aargau. Eine Idee war geboren.

«Seine Mutter ist sehr jung, der Vater unbekannt», erzählt Karin. Kontakt zur leiblichen Mutter gibt es keinen. Das ist eher ungewöhnlich. Zumal, im Gegensatz zu einer Adoption, die Herkunftsfamilie kaum Rechte abgibt.
«Die Idee einer Adoption
behagte uns nicht, da geht es immer um viel Geld»Pflegevater Thomas Bucher
Viele Kinder kommen in Heimen unter

Gemeinhin wird empfohlen, dass das Pflegekind jünger ist als die leiblichen Kinder der Familie. «So kann es sich in eine «normale» Geschwisterreihe einordnen», sagt Karin Gerber von der Fachstelle Pflegekind Aargau. «Aber es gibt immer auch Ausnahmen, in denen es anders super passt.»
Eine Garantie, dass Michael bei ihnen bleibt, haben Karin und Thomas nicht. Damit muss die Familie leben.
Ein gutes Verhältnis zu den leiblichen Eltern hilft
Das sieht auch die Pflegefamilie von Michael so – unabhängig davon, ob ihr Pflegekind dereinst Kontakt mit seiner biologischen Mutter haben wird oder nicht. Auf eine kürzliche Bemerkung des ältesten Sohnes Neo, dass Michaels Mutter ihn wohl nicht besonders lieb habe, antwortete seine Mutter: «Im Gegenteil. Sie liebt ihn so sehr, dass sie für ihn ein besseres Leben wollte als das, welches sie ihm im Moment bieten könnte.»
Der siebenjährige Neo macht sich am meisten Gedanken darüber, dass sein kleiner Pflegebruder irgendwann nicht mehr bei ihnen sein könnte. Sie selbst versuche diesen Gedanken immer wieder in den richtigen Kontext zu bringen, sagt Karin. «Kinder sind so oder so nicht unser Eigentum. Ich werde auch meine leiblichen Söhne irgendwann loslassen müssen.»
So sehen Karin und Thomas Bucher auch keine Unterschiede in ihrem emotionalen Verhältnis zu Neo, Yari und Michael. «Ausserdem ist nicht alles genetisch. Ich sehe durchaus auch Ähnlichkeiten zwischen den dreien.» Egoismus sei einem Pflegekind gegenüber fehl am Platz, findet Thomas: «Im Gegenteil. Wir würden uns für Michael wünschen, dass er irgendwann Kontakt zu seiner Mutter hat.»
Manche Kinder kehren in die Herkunftsfamilie zurück

«Kinder sind so oder so nicht unser Eigentum»
Pflegemutter Karin Bucher
* Die Namen der Pflegekinder sowie die Nachnamen der Pflegeeltern wurden geändert.
In der Schweiz suchen und vermitteln unterschiedliche Platzierungsorganisationen oder Vereine Pflegeplätze. Sie führen die Abklärungen für die kantonale Bewilligung durch und begleiten die Pflegefamilien von Beginn an. Am Anfang steht meist eine Informationsveranstaltung, welcher ein mehrtägiges Vorbereitungsseminar folgt. Hier werden die Familien von Fachleuten und erfahrenen Pflegefamilien über Alltag, Bedürfnisse und Zusammenarbeit informiert und der Umgang mit Konfliktsituationen in Rollenspielen geübt. Sie müssen zum Beispiel wissen, dass es zu Konfliktsituationen mit den leiblichen Kindern kommen kann – allein durch den Fakt, dass der Fokus oft auf dem Pflegekind liegt –, zu Eltern- und Behördenbesuchen, Therapien usw. Oder dass man durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Leuten und Institutionen ein gutes Stück Privatsphäre aufgibt, was immer wieder zu Konflikten führen kann, zum Beispiel mit der Herkunftsfamilie.
Umso wichtiger ist es, dass alle Familienmitglieder mit der Aufnahme einverstanden sind, und man auch hie und da als Kernfamilie etwas unternimmt. Die Organisation begleitet die Pflegefamilie im Umgang mit Behörden und der Herkunftsfamilie, führt regelmässige Standortgespräche durch, berät und hilft in Krisensituationen, beispielsweise wenn sich eine Partei nicht an getroffene Abmachungen hält. Bei Uneinigkeit mit der Platzierungsorganisation kann man sich an eine externe Fachperson oder eine Ombudsstelle wenden.
Pflegefamilien gesucht
Die Fachstelle Pflegekind Aargau sucht laufend engagierte Pflegeeltern, die Kindern ein zweites Zuhause geben möchten. Dabei werden potenzielle Familien fundiert beraten und auf ihre Aufgabe vorbereitet sowie engmaschig betreut. Alle Informationen und Beratung via Mail info@pflegekind-ag.ch oder per Telefon: 056 210 35 90 www.pflegekind-ag.ch
Pflegefamilie werden – das müssen Sie wissen
Dabei gibt es verschiedene Optionen wie Notfall-, Ferien-, Entlastungs-, Wochen-, Time-out- oder Dauerplatzierung. Bei den letzten beiden Varianten hat das Pflegekind seinen Lebensmittelpunkt in der Pflegefamilie. Meist hat es in der einen oder anderen Art Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie. Pflegeeltern enthalten einen Lohn plus Nebenkosten für Kost, Logie und Erziehung. Die Beträge variieren.
Bücher und Links zum Thema
Heide Küpper, Ines Kurek-Bender, Susanne Huber-Nienhaus: Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern. Pädagogische, psychologische und rechtliche Fragen des Adoptions- und Pflegekinderwesens. Schulz-Kirchner 2003, 269 Seiten, ca. 4 Fr. (Taschenbuch)
Vanessa Diffenbaugh: Die verborgene Sprache der Blumen.
Roman über ein in Heimen und Pflegefamilien aufgewachsenes Mädchen. Knaur 2012, 448 Seiten, ca. 12 Fr.
Pflege- und Adoptivkinder Schweiz PACH
Gesamtschweizerische Anlaufstelle für Fragen rund um Pflege- und Adoptivkinder.
www.pa-ch.ch
Schweizerische Fachstelle Pflegefamilie SFP
Vernetzung, Weiterbildung und Beratung für Pflegefamilien und Fachpersonen.
www.fachstelle-pflegefamilie.ch
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