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Bedürfnisorientierte Erziehung: Wie geht das?

Aus Ausgabe
06 / Juni 2025
Lesedauer: 16 min

Bedürfnisorientierte Erziehung: Wie geht das?

Auf die Bedürfnisse von Kindern zu achten, ist wichtig für ihre Entwicklung. Doch das Thema «bedürfnisorientierte Erziehung» ist in den letzten Jahren unüberschaubar geworden. Worauf kommt es dabei an? Und wie können Eltern sowohl ihrem Kind wie auch sich selbst damit gerecht werden?
Text: Michaela Davison

Bilder: Mara Truog / 13 Photo

Ein Samstagvormittag im Supermarkt, Jasmine Treiber ist mit ihrer dreijährigen Tochter beim Einkaufen. Plötzlich scheint ihre Tochter völlig überfordert. Sie schreit, stampft, weint, ist ausser sich. Die vierfache Mutter aber bleibt ruhig, versucht, Blickkontakt mit ihrem Kind aufzubauen, und berührt es sanft am Arm, spricht leise: «Es ist gerade viel für dich, nicht wahr? Ich kann das gut verstehen.»

Das Kind beruhigt sich nach und nach. Die ganze Zeit über bleibt Jasmine Treiber ihrer Tochter zugewandt, droht und straft nicht, sondern versucht, ihre eigene Ruhe auf das Kind zu übertragen.

Ich hätte mir gewünscht, mehr als Kind gesehen zu werden.

Jasmine Treiber, Mutter

Wie möchte ich mit meinem Kind umgehen? Und was ist eine «gute Erziehung»? Diese Fragen stellen sich viele Menschen, wenn sie Eltern werden. Oft lautet die Antwort auf die erste Frage zunächst: Nicht so, wie es meine Eltern gemacht haben. Aber wie dann?

Auf der Suche nach einem eigenen Umgang mit den Kindern bieten zahlreiche Ratgeber eine Vielzahl von Tipps und Möglichkeiten an. Eine Erziehungsmethode, die sich auch hierzulande in den letzten ein, zwei Jahrzehnten immer mehr etabliert hat, ist der Ansatz der bedürfnis- oder bindungsorientierten Erziehung.

Anders als die Generationen zuvor

Auch Jasmine Treiber gehört zu denjenigen Eltern, die es anders machen wollen als die Generationen zuvor. «Ich selbst hätte mir gewünscht, mehr als Kind gesehen zu werden. Als Kind, das durch sein Verhalten versucht, etwas auszudrücken, wozu es noch nicht in der Lage ist. Stattdessen wurde mein Verhalten nur bewertet», sagt die angehende Familienbegleiterin, die mit ihrer Familie in Süddeutschland wohnt.  

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Wie sie sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten unzählige Eltern auf den Zug der bedürfnisorientierten Erziehung aufgesprungen. Ein Paradigmenwechsel, der sich im deutschsprachigen Raum hauptsächlich in der oberen Mittelschicht vollzogen hat. 

Doch was bedeutet bedürfnisorientiert überhaupt? Wie geht es Kindern, die bedürfnisorientiert aufwachsen? Und warum mehren sich die Stimmen, die diesen Erziehungsansatz kritisch beurteilen? Die ins Feld führen, dass es immer mehr Kindern an Frustrationstoleranz mangelt sowie an der Fähigkeit, ein Bedürfnis auch einmal aufschieben zu können? Und geht die Tatsache, dass sich immer mehr Eltern gestresst fühlen, unter anderem auf diesen Erziehungsstil zurück? Diesen und weiteren Fragen möchte das vorliegende Dossier auf den Grund gehen.

Eltern, die ihr Kind bedürfnisorientiert begleiten, versuchen es möglichst nicht zu bestrafen, zu beschämen oder zu manipulieren.

Was steckt hinter dem Begriff?

Zunächst einmal: Eine allgemeingültige Definition von bedürfnisorientierter Erziehung gibt es bis heute nicht. «Vielmehr handelt es sich dabei um einen lebendigen, sich weiterentwickelnden pädagogischen Ansatz, bei dem unterschiedliche Fachpersonen unterschiedliche Schwerpunkte setzen», sagt die Familienpsychologin Stefanie Rietzler. «Im Zentrum steht das Bestreben, dass Eltern die vielfältigen Bedürfnisse ihrer Kinder wahrnehmen, ernst nehmen und im Umgang mit ihnen berück­sichtigen, ohne sich dabei selbst zu vergessen.»

Der Blick richtet sich somit darauf, was das Kind im jeweiligen Moment auf der körperlichen, emotionalen und sozialen Ebene braucht, damit es ihm langfristig gut gehen und es sich gesund entwickeln kann.

Mateo sitzt mit einem Beil am Feuer und bearbeitet ein Stück Holz
Matteos Mutter versucht, ihren Söhnen mit offenem Herzen und wachsamem Blick zu begegnen. Mehr dazu erfahren Sie hier.

«Anders als früher im autoritär geprägten Erziehungsstil werden Kinder in der bedürfnisorientierten Erziehung nicht als «Tyrannen­kinder» angesehen, die die Eltern mit ihrem Verhalten «manipulieren» wollen oder «absichtlich ein Theater machen» und gezüchtigt sowie geformt werden müssen. Vielmehr versteht man sie als eigenständige Persönlichkeiten, die durch ihr Handeln ihre Bedürfnisse zu befriedigen versuchen.

Bedürfnisorientierte Eltern suchen immer wieder nach dem Grund hinter dem Verhalten des Kindes: Wütet es gerade, weil es hungrig, übermüdet oder überreizt ist? Sehnt es sich eigentlich nach Nähe oder Aufmerksamkeit? Erlebt es hier gerade zu viel Zwang und bräuchte etwas mehr Mitspracherecht? Entsprechend versuchen sie, liebevoll darauf einzugehen», so Stefanie Rietzler, die mit ihrem Kollegen Fabian Grolimund die Akademie für Lerncoaching in Zürich leitet. 

Erziehen, ohne zu strafen

Will heissen: Eltern, die ihr Kind bedürfnisorientiert begleiten, versuchen ihr Kind möglichst nicht zu bestrafen, zu beschämen oder zu manipulieren, um ein bestimmtes Verhalten abzurufen. Sie knüpfen ihre Liebe und Zuneigung nicht an Bedingungen. Sie beziehen ihr Kind in Entscheidungen ein, die es betrifft, statt es zu übergehen. 

Dass eine empathische und wertschätzende Haltung gegenüber dem Kind sich positiv auf seine Entwicklung auswirkt, belegen zahlreiche Studien. Beispielsweise zeigt eine OECD-Studie aus dem Jahr 2020, dass Kinder, die autoritär erzogen wurden, einen geringeren Selbstwert, ein grösseres Perfektions­bestreben, mehr Ängste und ein aggressiveres Verhalten aufwiesen, während Kinder, deren Eltern zwar Grenzen setzten, aber einfühlsam auf deren Bedürfnisse eingingen, ein höheres Selbstwertgefühl zeigten und seltener zu Suchtmitteln griffen. Wie kommt es also zur Kritik an der bedürfnisorientierten Erziehung?

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Es fehlt an Orientierung

«Verfolge ich heute die Debatten in der bedürfnisorientierten Szene, so scheint die anfängliche Euphorie oft von Bedenken überlagert», schreibt der deutsche Kinderarzt und Buchautor Herbert Renz-Polster in seinem Buch «Mit Herz und Klarheit».

Renz-Polster engagiert sich seit vielen Jahren als Wissenschaftler und Publizist in der Erziehungsdebatte. Er empfindet es als sehr positiv, dass sich in den letzten Jahrzehnten in Sachen Eltern-Kind-­Beziehung viel getan hat. Eltern gingen nun viel achtsamer und ­liebevoller mit ihren Kindern um, als das früher der Fall gewesen sei. Gleichzeitig bemängelt er, dass es schon länger an Klarheit fehle. Vermehrt würden Klagen laut, Eltern stünden am Rande eines Burnouts, Kinder seien überfordert und orientierungslos. 

Wir müssen Kindern ­zeigen, dass es sowohl ein Ja wie ein Nein gibt, Freiheiten wie Grenzen.

Herbert Renz-Polster, Kinderarzt und Buchautor

«Eltern wollen nicht in die Fussstapfen der vergangenen Generationen treten. Sie wissen, dass die alte Art von Autorität nicht funktioniert. Aber wie sieht elterliche Verantwortung dann aus? Da fehlt es teilweise an Selbstverständlichkeit und Vorbildern», so Renz-Polster.

Die Folge sei eine Überkorrektur als Reaktion auf die Strenge einer autoritären Erziehung. Viele Eltern scheuten sich davor, sich und ihre eigene Position zu zeigen. Dabei komme aber ein wichtiges Bedürfnis der Kinder zu kurz, nämlich das Bedürfnis nach Orientierung.

«Kinder wollen wissen, wie Familie funktioniert. Wir dürfen ihnen zeigen, dass dazu sowohl das Ja gehört als auch das Nein. Sowohl Freiheiten als auch Grenzen», betont Renz-Polster. Sonst ergebe sich ein erneutes Ungleichgewicht in der Erziehung. «Es fehlt dann, ähnlich wie zu autoritären Zeiten, wieder an Balance, einfach in die entgegengesetzte Richtung», analysiert er die Entwicklungen der letzten Jahre. «Wir haben einen leeren Platz, an dem zuvor die Übermacht war.»

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Die Anfänge des Erziehungsstils

Um zu verstehen, wie es zu diesem Ungleichgewicht gekommen ist, lohne sich ein Blick auf die Anfänge der bedürfnisorientierten Erziehung, findet die Psychologin und Neurobiologin Nicole Strüber.

Der US-amerikanische Kinderarzt William Sears entwickelte in den 1980er-Jahren einen Erziehungsstil, der sich stark an den natürlichen Grundbedürfnissen von Babys und Kindern orientierte, und nannte ihn «Attachment Parenting» – eine gezielte Gegenbewegung zur damals autoritären Erziehungshaltung in den USA. Er legte den Fokus auf viel Nähe und Zuwendung, die Signalwirkung des weinenden Babys und die unmittelbare Befriedigung seiner Bedürfnisse. Dieser besonders achtsame Umgang mit dem Nachwuchs sollte die frühkindliche Bindung an die Bezugsperson fördern und stärken.

Es passiert leicht, dass Eltern die Abzweigung nach dem Babyalter verpassen und die eigenen Bedürfnisse zu lange ignorieren.

Herbert Renz-Polster, Kinderarzt und Buchautor

Mit den sogenannten sieben Baby-B liefert Sears die Bausteine für eine bindungsorientierte Elternschaft, wie zum Beispiel der Körperkontakt nach der Geburt («Bonding»), das Stillen («Breastfeeding») oder der Rat, frühe Erziehungsversuche zu unterlassen («Beware of baby trainers»).

Einseitiges Bindungsverständnis

William Sears setzte sich damals ­intensiv mit der Bindungstheorie auseinander, die der britische ­Kinderpsychiater John Bowlby, die US-amerikanische Psychologin Mary Ainsworth und der schottische Psychoanalytiker James Robertson in den 1970er-Jahren ins Leben gerufen hatten.

Diese betonte neben der Wichtigkeit von Nähe, Schutz und Geborgenheit für die Eltern-Kind-Bindung auch das ebenso wichtige Explorations­bedürfnis des Kindes – die natürliche Neugier und den Drang, seine Umwelt zu entdecken, zu verstehen und mit ihr in Interaktion zu treten – sowie die Wechselseitigkeit und Balance beider Pole. 

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Sears hingegen fokussierte allein auf die Geborgenheitsbedürfnisse von Babys. Die Bedeutung des Explorationsdrangs für die kindliche Entwicklung liess der Kinderarzt weitestgehend ausser Acht. «Sears’ Ansatz war erst mal ein Gegenpol zur autoritären Erziehung. Damals musste der Fokus sehr stark auf Bindung gelegt werden, weil der körperbetonte, liebevolle Umgang mit Kindern für viele neu war», ordnet Nicole Strüber diesen Umstand ein.

Diese einseitige Auslegung der Bindungstheorie sei aber bis heute so weitergegeben worden und führe zu einer Fehlinterpretation, die durch die sozialen Medien noch verstärkt werde. Als Folge nennt Strüber, dass die aufkommenden Autonomiebedürfnisse des Kindes häufig vernachlässigt würden, da der Fokus zu stark auf der Babyphase liege.

Zurück auf die Umlaufbahn

Auch Herbert Renz-Polster beobachtet, dass Eltern manchmal in diesem Fokus auf Bindung verharren und den Schritt hin zu einer Balance, in der auch die Exploration mit ins Spiel kommt, nicht gut schaffen. «Die Natur hat es zwar zunächst so vorgesehen, dass der Fokus auf dem Baby ist, alle um das Neugeborene kreisen», sagt er und ergänzt, in diesem Bild bleibend:

«Am Ende der Babyphase sollten die Planeten langsam ihre Gravitationstätigkeit wieder aufnehmen. Wenn das Kind im Mittelpunkt bleibt, dann ist es in dieser Position überfordert. Es will nach und nach auf die familiäre Umlaufbahn gelangen, auf der die Bedürfnisse aller gehört werden.» Es passiere leicht, dass Eltern diese Abzweigung nach dem Babyalter verpassten und die eigenen Bedürfnisse zu lange ignorierten. Das sei verständlich, weil in der Babyzeit ja oft das Gefühl entstehe: Hauptsache, mein Kind ist glücklich!

In den sozialen Medien ist vieles dogmatisch überspitzt und wirkt wie die Abarbeitung einer Checkliste.

Susanne Mierau, Pädagogin und Autorin

Ohne den Blick auf die eigenen Bedürfnisse fehle in diesem Planetensystem aber das eigentliche Kraftzentrum, nämlich Eltern, die sich in ihrer Rolle wohlfühlen. Und die auch deshalb ihr Kind auf der jetzt besonders schwierigen Gratwanderung gut begleiten können: dem Kleinkind viel Autonomie zuzugestehen – und gleichzeitig die Grenzen aller Familienmitglieder zu wahren.

Verzerrtes Bild in den sozialen Medien

Wenig hilfreich für Eltern ist dann auch das verzerrte Bild, das die sozialen Medien teilweise von diesem Erziehungsstil zeichnen. «Dort mahnen Tausende von Videos dazu, achtsam, warm und sanft zu sein. Manche Eltern fühlen sich dann als Versager, wenn sie das nicht immer schaffen», sagt Herbert Renz-Polster. Eltern suchten die Bestätigung derer, die es vermeintlich gut machen, und das verunsichere zusätzlich. Auch entstehe leicht der Eindruck, es gehe um das permanente Erfüllen jedes Bedürfnisses. 

Bedürfnis: Vater und Sohn sitzen in der Küche
Volker wurde liebevoll erzogen und greift im Umgang mit seinem Sohn Titus dankbar darauf zurück. Mehr dazu erfahren Sie hier.

Susanne Mierau sieht ähnlich besorgt auf die Entwicklungen in den sozialen Medien. Die Pädagogin und Autorin aus Berlin hat mehrere Sachbücher zum Thema «bedürfnisorientierte Erziehung» geschrieben. «Im Netz kann mittlerweile jeder als Experte agieren. Viele sind nicht qualifiziert, machen aber professionelle Videos und erlangen eine sehr grosse Reichweite.»

So seien viele Begriffe in Umlauf gekommen, die mit der ursprünglichen Idee von bedürfnis­orientierter Erziehung nichts mehr zu tun hätten. Auch werde die Bedürfnisorientierung meist viel zu einseitig dargestellt. «Vieles ist dogmatisch überspitzt und wirkt wie die Abarbeitung einer Checkliste», so Mierau.

Kinder nennen meist einen unmittelbaren Wunsch. Es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, welches Bedürfnis dahintersteht.

Patricia Lannen, Entwicklungspsychologin

Wunsch oder Bedürfnis?

Ein Missverständnis, das mit dieser Einseitigkeit verknüpft sein mag, ist auch die häufige Verwechslung von Wunsch und Bedürfnis. «Der dritte Schokoriegel ist kein Bedürfnis, regelmässig zu essen und keinen Hunger zu leiden, dagegen schon», sagt Susanne Mierau. Dieser Irrtum beruhe auf Halbwissen, mit dem sie in Interviews und in den Medien immer wieder konfrontiert werde.

So kann beispielsweise hinter dem Wunsch des Kindes, mit den Eltern einen Kuchen zu backen, das Bedürfnis nach gemeinsamer Zeit und Verbundenheit stehen. «Es ist wichtig, die Perspektive des Kindes einzunehmen», erklärt die Entwicklungspsychologin Patricia Lannen, Institutsleiterin am Zürcher Marie-Meierhofer-Institut für das Kind.

Ein Problem bei der Unterscheidung von Wunsch und Bedürfnis sei, dass Kinder, zumindest bis zu einem bestimmten Alter, ihrem unmittelbaren Wunsch Ausdruck verleihen und noch nicht selbst das Bedürfnis dahinter benennen können.

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«Es hängt mit der emotionalen und kognitiven Entwicklung des Kindes zusammen, wie es seine Bedürfnisse wahrnimmt. Kinder nennen meist einen unmittelbaren Wunsch. Es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, welches Bedürfnis dahintersteht.» So kann man als Mutter oder Vater beispielsweise sagen: «Leider können wir gerade keinen Kuchen backen, uns fehlen die Zutaten und ich bin zu müde dafür. Aber lass uns doch gemeinsam eine Geschichte lesen.» Damit ist der Wunsch nach dem Kuchenbacken zwar nicht erfüllt, aber das Bedürfnis nach gemeinsamer Zeit befriedigt.

Demnach hängt das Erkennen eines Bedürfnisses mit der Fähigkeit der Bezugsperson zusammen, die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren. «Diese sogenannte elterliche Feinfühligkeit ist eine intuitive Kompetenz. Fehlt diese, gilt es hinzuschauen, wie die Eltern darin gestärkt werden können, anstatt sie zu verurteilen», so Lannen.

Kinder brauchen Bezugspersonen, die ihnen etwas zutrauen und sie herausfordern.

Frustrationen zulassen

Es sei also wichtig, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen – dabei müssten aber auch Frustrationen zugelassen werden, betont die Psychologin. «Das ist wissenschaftlich belegt», sagt Patricia Lannen mit Verweis auf eine grosse Metastudie.

Der niederländische Psychologe und Professor für Pädagogik Marinus van IJzendoorn konnte zeigen, dass sich das Kind am besten entwickelt, wenn Eltern nicht bei jeder kleinsten Frustration helfen. So lernt das Kind, leichtes Unbehagen selbst zu regulieren. Die Entwicklung der Selbstregulation, also das erfolgreiche Handhaben von Gefühlen und anderen intensiven Zuständen, ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe, die für das ganze Leben wichtig ist.

Bedürfnis: Vater und Sohn spielen Fussball
«Wir haben keine Angst, die Kinder zu verwöhnen», sagt der dreifache Vater Alain. Mehr dazu erfahren Sie hier.

Kinder brauchen Bezugspersonen, die ihnen etwas zutrauen und sie herausfordern. Dies gilt keinesfalls nur für kleine, sondern genauso für ältere Kinder. So ist es natürlich bequem für das Kind, sofort Hilfe bei den Hausaufgaben zu bekommen, anstatt die Wut und den Frust über das Nichtverstehen der Aufgabe auszuhalten. Gelingt es ihm aber, dieses Gefühl alleine aufzulösen und sich nochmals an der Aufgabe zu versuchen, hat es viel gelernt.

Teenager müssen Grenzen erfahren

Dass dies bis ins Jugendalter gilt, weiss Psychologin Christine von Arx, die sich an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) mit der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beschäftigt.

«Gerade Jugendliche haben ein stark ausgeprägtes Autonomiebedürfnis. Sie brauchen Unabhängigkeit, um ihr Potenzial zu entfalten.» Das sei natürlich wichtig, aber wie immer komme es hier auf die richtige Balance an.

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«Wenn Eltern stets mit den Jugendlichen im Einklang sind und alles akzeptieren, was diese tun, hemmt dies deren Entwicklung. Sie brauchen die Eltern als Sparringspartner, mit denen sie sich auseinandersetzen können. Sie müssen erfahren, wo die Grenzen der Eltern, wo die der Mitmenschen sind und wo sie sich durchsetzen können.» Was also beim Kleinkind die Frustrations­toleranz sei, verhalte sich beim Jugendlichen mit dem Durchsetzungsvermögen ganz ähnlich.

Bedürfnisse im System Familie

So weit die Theorie. In der Praxis verlangt die bedürfnisorientierte Erziehung Müttern und Vätern ­einiges ab. «Aus dieser inneren ­Haltung ergibt sich für viele Eltern die Notwendigkeit, sich selbst, die eigenen Prägungen und Handlungsmuster zu reflektieren und zu hinterfragen, da man selbst vielleicht noch im eher autoritären Stil erzogen wurde», sagt Psychologin Stefanie Rietzler.

Um Kinder einfühlsam ­begleiten zu können, muss ich mich zuerst selbst regulieren können.

Stefanie Rietzler, Psychologin

Aber neue Handlungsmuster brauchen Zeit und Energie, um sich einzuschleifen – und fallen einem in Stresssituationen nicht immer ein. «Um Kinder einfühlsam durch Gefühlsstürme begleiten zu können, sie also co-regulieren zu können, muss ich zuallererst lernen, mein eigenes Nervensystem zu regulieren und die eigenen Impulse im Zaum zu halten. Andernfalls werde ich von der Frustration, Trauer, Wut, Angst oder Enttäuschung des Kindes allzu schnell angesteckt und mitgerissen. Dann werde ich selbst ungehalten, laut oder von Ängsten überflutet», so Rietzler.

Bedürfnis: Mutter und Sohn am Klavier
Ihre Söhne werden älter, die gemeinsame Zeit weniger: Conny und Basil am Klavier.

Vertrauen als Schlüssel

Darüber hinaus setze beziehungsorientierte Erziehung Vertrauen ­voraus: Vertrauen in das Kind, in einen selbst und in die Eltern-Kind-Beziehung. «Ich kann mich nicht darauf ausruhen, mich in Konfliktsituationen mit Strenge oder Härte durchzusetzen und mein Kind zu kontrollieren. Ich muss mich wirklich auf mein Kind einlassen, flexibel sein und individuelle Lösungen finden.» Damit mache man sich als Mutter oder Vater auch verletzlich.

Stefanie Rietzler erinnert sich an einen Tag, an dem sie übermüdet und gestresst war, woraufhin ihr fast dreijähriges Kind mit dem Fuss aufstampfte und ihren genervten Ton bemängelte: Stopp, Mama! Du sollst aufhören, dass du so unfair mit mir sprichst! Das mag ich überhaupt nicht! «Zuerst war ich überrumpelt», erinnert sich die Psychologin, «dann konnte ich dem Ganzen auch etwas Schönes abgewinnen.» 

Es geht um eine ­wertschätzende Haltung dem anderen Menschen gegenüber und um das ­Gefühl der Verbundenheit.

Susanne Mierau, Pädagogin

Auch Jasmine Treibers Alltag mit vier kleinen Kindern ist keineswegs perfekt. «Es gibt Tage, da läuft es gar nicht gut», sagt sie. «Aber ich habe eben auch meinen Rucksack mit meinen Problemen und meiner Tagesform. Ich bin trotzdem da, und wenn ich mal laut werde, entschuldige ich mich. Damit sehen die Kinder: Ich bin auch nur ein Mensch. Meine Grenzen sind wichtig, und an denen können sie sich entlanghangeln.»

Die gute Nachricht: Eine Medaille für die beste bedürfnisorientierte Erziehung gibt es ohnehin nicht. «Es geht nicht um Perfektion oder das Abarbeiten einer Checkliste aus dem Erziehungskatalog, sondern um eine wertschätzende Haltung dem anderen Menschen gegenüber», sagt Susanne Mierau.

Auch sei es nicht die Idee, jedes aufkommende Bedürfnis des Kindes unmittelbar zu befriedigen, sondern vielmehr, es zunächst wahrzunehmen. «Und letztlich geht es ja nicht nur um die Bedürfnisse der Kinder, sondern um Verbundenheit, das Miteinander und darum, zu verstehen, dass Bedürfnisse und Interaktionen in der Familie als System gesehen werden müssen.»