Die kluge, strahlende Frau aus Luzern

Ellen Ringier-Lüthy war ein ungewöhnlich liebenswerter, kluger und aufrichtiger Mensch – und manchmal ein ungeduldiger. Am Beispiel ihrer Eltern hat sie gelernt, dass man nicht nur an sich selber denken soll, wenn es einem gut geht. Und dass Worte allein nichts wert sind, wenn sie nicht durch gute Taten beglaubigt werden.
Was Ellen in die Hand nahm, zog sie hartnäckig und mit unerhörter persönlicher Anstrengung durch. Die Ungeduld, die sie antrieb, hatte einen Grund: Sie sah, wie viel noch zu tun ist und wie wenig Zeit einem bleibt, wenn man in der zweiten Lebenshälfte angelangt ist.
Darum war Ellen so direkt. Manchmal äusserte sie ihren Unmut offen, wenn sie zum x-ten Mal erfahren musste, dass hundertfache Millionäre einfach nicht einsehen wollten, dass sie ohne Mühe etwas Gescheites für die Gesellschaft leisten könnten und müssten, wenn sie denn nur wollten.
Ihr Lebensthema war die Familie
Ellen Ringier widmete ihre Zeit und ihr Geld dem Lebensprojekt, das ihr durch persönlichstes Erleben zugefallen war: der Stiftung Elternsein und deren Monatsschrift «Fritz + Fränzi», die es seit bald 25 Jahren gibt und sich den ambitiösen Titel «Das Schweizer ElternMagazin» durch treffliche Themenwahl und gekonnte journalistische Aufbereitung redlich verdient hat. Ihre beiden Töchter Lilly und Sophie waren ihr ständiger Ansporn, deren Lebensläufe ihre Herausforderung.
Auch die besseren Kreise, die sie hinter vorgehaltener Hand als «Bettelweib» verspotteten, konnten nicht bestreiten: Wo immer es auf die Übereinstimmung von Wort und Tat ankam, war Ellen Ringier unschlagbar. Sie tat, was sie sagte, und sie dachte, bevor sie sprach. Manche ihrer Sätze waren unangenehm, aber wahr, zum Beispiel: «Andere Staaten haben ein Familienministerium. Aber in der Schweiz haben Familien keine Lobby.» Also half sie, diese Lücke zu füllen.
Die Ungeduld, die Ellen antrieb, hatte einen Grund: Sie sah, wie viel noch zu tun ist und wie wenig Zeit einem bleibt.
Seit Beginn ihres Bestehens schrecken die Stiftung Elternsein und deren Zeitschrift auch nicht vor heiklen Themen zurück: Gewalt, Sucht, Schulprobleme, psychische Erkrankung, Suizid. Fachleute werden zugezogen, die Dinge beim Namen genannt, es werden Erfahrungen vermittelt und Lösungen präsentiert. Deshalb kommen die kostengünstigen Angebote nicht nur bei Eltern, sondern auch bei Lehrerinnen und Lehrern gut an. Entgegen der Entwicklung der meisten Zeitschriften konnte «Fritz + Fränzi» in den vergangenen Jahren seine Leserschaft kontinuierlich ausbauen.
Dass im Laufe eines Vierteljahrhunderts die meisten namhaften Organisationen dieses Landes – Institute, Behörden inbegriffen – mit dieser privaten Initiative in engen Austausch getreten sind, war für Ellen Ringier eine positive Rückmeldung von kompetenten Stellen, was die Qualität ihrer Arbeit betraf.
Eine weltoffene Familie, ein nobler Partner
Ellens Eltern waren Harriet und Viktor Lüthy. Der Vater war Kürschner und Pelzhändler mit internationaler Spannweite. Zudem war er ein begeisterter und kundiger Kunstfreund und ein diskreter, aber bedeutender Sammler von Schweizer Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts. Er engagierte sich bis zu seinem Tod im Jahr 1998 als Präsident der Bernhard-Eglin-Stiftung. Diese konnte mit den Jahren über hundert Werke der Schweizer Kunst seit dem 18. Jahrhundert erwerben und damit die Grundlage für die hauseigene Sammlung des Kunstmuseums Luzern schaffen.
Die international ausgerichtete Geschäftstätigkeit des Vaters und die Biografie der Mutter Harriet bestimmten das Klima in der Familie. Harriet war vor den Nazis aus Österreich nach London geflüchtet. Ellen und ihre jüngeren Schwestern Janet und Kay lebten mit der Kunst, besuchten mit ihren Eltern viele Ausstellungen und hatten das Glück, in einer geselligen, weltoffenen Atmosphäre aufzuwachsen.
Ich wusste früh, dass ich frei wählen kann, was ich werden will.
Ellen Ringier
Als Mädchen begeisterte sich Ellen für grosse Frauengestalten wie Golda Meir oder Marie Curie. So sagte sie einmal: «Diese Biografien, aber auch die Erziehung meiner Mutter bestärkten mich, später nicht nur Hausfrau sein zu wollen und mich dem Gruppenzwang, auch ‹Gesellschaft› genannt, unterzuordnen. Ich wusste früh, dass ich frei wählen kann, was ich werden will.»
Ihr Grossvater hatte ihr schon im Teenageralter eine bedeutende Summe geschenkt, «damit du unabhängig bist von den Männern». Ellen schätzte dies als «unglaubliches Geschenk, weil ich dadurch schon mit zwölf Jahren wusste: Ich kann meinen eigenen Weg gehen, es wird immer ein Auffangnetz da sein.»
Traumberuf: Ärztin
Ihren Mann Michael hat sie an der Luzerner Fasnacht im legendären Jugendtreffpunkt, dem Mövenpick am Grendel, kennengelernt. Eigentlich war sie mit einer Freundin nur hingegangen, weil den beiden die Cinellen zu schwer waren, die sie als Mitglied einer Guggenmusik an der Fasnacht 1973 zugeteilt erhalten hatten; ein anderes Instrument konnte sie nicht spielen. «Ich wollte nur noch in die nächste Beiz und sie ablegen», erzählte sie später. Und dort sass halt der baumlange Michael Ringier, unmaskiert. Drei Jahre später wurde geheiratet. Die Partnerschaft hat fast 45 Jahre lang gehalten, weil beide Persönlichkeiten einander respektierten und halfen.
Eigentlich hätte Ellen Lüthy Ärztin werden wollen. Doch ihr geliebter, aber strenger Vater hielt die Chemie- und Physiknoten in ihrem Maturazeugnis für ungenügend. So entschied sich Ellen für das Studium der Rechte, das sie 1980 bei Professor Manfred Rehbinder mit dem Doktorat abschloss.
Dissertation aus der «Blick»-Redaktion
Ihre Dissertation trug einen sperrigen Namen: «Zivilrechtliche Probleme der identifizierenden Berichterstattung am Beispiel der Presse» (Zürich 1981). Als Grundlagen dienten Akten über persönlichkeitsrechtliche Streitigkeiten, die die Redaktion des «Blicks» austragen musste. Einen grossen Teil des Werks schrieb die Doktorandin auf Verlangen des Hausanwalts in einem der wenigen abschliessbaren Chefbüros des «Blicks». Gleichzeitig absolvierte Michael nach eher lustlosen Wirtschaftsstudien in St. Gallen den ersten Kurs der Ringier-Journalistenschule und fing Feuer für diesen Beruf.
Nach ihrer Ausbildung zogen Michael und Ellen zunächst nach Hamburg. Dort kannten nur wenige den Namen Ringier und die Bedeutung dieses Unternehmens in der Schweiz. Das junge Paar wurde nach seinen Leistungen beurteilt. «Diese Jahre gehören zu den glücklichsten meines Lebens», sagte Ellen später. Zunächst hatte sie keine Arbeitsbewilligung, da leistete sie halt unbezahlte Hilfe in ihrem Juristenberuf. Später, in Köln, arbeitete sie in einer grossen Rechtsabteilung.
Ihr wichtigstes Lebensziel war, zum Ausgleich zwischen Reichtum und sozialem Gewissen beizutragen.
Michael Ringier machte aus eigener Kraft Karriere als Journalist und Redaktor der für KMU-Betriebe bestimmten Wirtschaftszeitschrift «Impuls». 1985 übergab Hans Ringier die Führungsverantwortung des stark gewachsenen Verlagshauses an seine Söhne Christoph und Michael. Christoph wurde Präsident des Verwaltungsrates, Michael Direktionspräsident (oder CEO, wie es heute heisst).
Ellen Ringier hatte mit dem Verlag ihres Mannes nichts zu tun, ausser dass sie dort durch Beobachtung und kluge Umsetzung viel lernte, um ihre Lebensziele zu erreichen. Das wichtigste unter diesen Lebenszielen war für sie, zum Ausgleich zwischen Reichtum und sozialem Gewissen beizutragen.
Gründung der Stiftung Elternsein
Es war dieses Legat des Grossvaters sowie das Erbe der Eltern, die Ellen Ringier ermutigten, 2001 das Projekt ihres Lebens zu verwirklichen: die Gründung der Stiftung Elternsein und des «Schweizer ElternMagazins Fritz + Fränzi». Sie erkannte schnell: Was der Staat vernachlässigt, muss in der Schweiz durch private Initiative geleistet werden: Beratung und Hilfe bei Erziehungsfragen, Umgang mit dem Armutsrisiko oder der altersgerechte Gebrauch des Smartphones.
Die Stiftung trat mit einer modernen, fundierten Elternzeitschrift an die Öffentlichkeit. Schon deren Name «Fritz + Fränzi» signalisierte Optimismus, Aufgeschlossenheit, auch Offenheit gegenüber schwierigen und kontroversen Themen.
Ellen und ihre erste Chefredaktorin Sabine Danuser produzierten sechs Hefte pro Jahr. Sie wurden ein Diskussionsforum zu Themen wie «Feindbild Lehrer», Beruf und Elternrolle im Widerspruch, Medienverhalten, Sucht. Vertrieben wurden die Zeitschriften mehrheitlich kostenlos über die Schulen – mit Unterstützung der kantonalen Erziehungsdirektionen.
Die Seele des Non-Profit-Unternehmens
Ellen Ringier war die Seele des Unternehmens. Sie kannte genügend Fachleute aus dem grossen Verlagshaus, dessen Namen sie trug, um zu wissen, dass sie ein hohes finanzielles Risiko auf sich nahm. Es wurden ihr hohe Verluste vorausgesagt, die zeitweise auch eintraten.
Ellen Ringier erinnerte sich am 20. Geburtstag ihres Lebenswerks: «Ein Defizitjahr jagte das andere. Die Nächte wurden allzu oft zum Tag. Ferien machten Sabine Danuser und ich nur, um an einem anderen Ort Tag und Nacht weiterzuarbeiten. Die Auflage stagnierte, die Einnahmen aus Anzeigen reichten nicht. Defizite machten mir trotz Spendern und Sponsoren das Leben schwer. Das Start-up drohte zu scheitern. Aber Aufgeben kam nicht in Frage.»
Einer Journalistin der «Annabelle» sagte sie in einem Interview: «Ich konnte doch nicht Golf spielen gehen, wenn wir so wenig Inserate hatten.» Was Ellen verschwieg: Sie hat einen bedeutenden Teil ihrer Lebenszeit ihrem Projekt gewidmet und Hunderte von Anrufen getätigt, um Verbündete zu motivieren und Anzeigen einzuwerben. Während viele Leute fälschlicherweise glaubten, der mächtige Ringier-Verlag stehe hinter dem Unternehmen, hat sie im Lauf der Jahre einen bedeutenden Teil ihres persönlichen Vermögens in ihr Lebensprojekt investiert.
Inzwischen ist aus dem Pionierunternehmen längst ein professioneller Kleinverlag geworden, bestens vernetzt mit Organisationen und Stiftungen mit ähnlich fortschrittlicher Grundhaltung und angesehen in der Schweizer Bildungslandschaft. Seit 2010 erscheinen zehn Ausgaben pro Jahr. Darüber hinaus produziert die Redaktion von «Fritz + Fränzi» seit 2015 jährlich ein Spezialheft zur Berufswahl und seit 2018 vier Sonderhefte für Eltern von Kindergartenkindern.
Wirkung über den Tod hinaus
Ellen war – ein Geschenk ihrer englisch geprägten Mutter – nicht nur grundsätzlich fröhlich, sondern das, was man «open minded» oder «outspoken» nennt: eine junge Frau, die Klartext redete und für Haltungen einstand, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts noch nicht alle den herrschenden Wertvorstellungen der besseren Kreise entsprachen.
Zugleich war sie, wie sie einmal in einem Interview gestand, kein «show dog», sondern ein «working dog». Ihre enorme Arbeitskraft, gepaart mit Begeisterungsfähigkeit, widmete sie Werten, die ihr wichtig waren: einem wohl verstandenen Feminismus, dem Kampf gegen Rassismus, der Kultur und nicht zu vergessen dem Pfadfinderwesen. Vor allem aber den Anliegen und Problemen der Familien.
Heute ist Ellen Ringiers Lebenswerk stark genug, um über ihren Tod hinaus zu wirken.