«Viele Eltern begrüssen es, dass unsere Schule so schnell ukrainische Kinder aufgenommen hat»
Die Gemeinde Eschlikon TG hat als eine der ersten unbürokratisch drei ukrainische Flüchtlingskinder in die öffentliche Schule integriert. Thomas Minder, Präsident der Deutschschweizer Schulleitenden, hat die Integration eng begleitet.
Herr Minder, wann sind die ersten ukrainischen Kinder in Eschlikon angekommen?
Das war in der ersten Kriegswoche. Drei Kinder sind bei Verwandten bei uns im Dorf untergekommen. Sie sind im Alter von 5 bis 12 Jahren. Sie sprechen kein Deutsch. Unterdessen besucht ein weiteres Kind den Unterricht in unserer Primarschule. Vier weitere warten auf ihre Klasseneinteilung und werden voraussichtlich ab kommendem Montag, 21.3.2022, bei uns eingeschult.
Warum kommen die Kinder so «schnell» in die Schule?
Es ist wichtig, dass die Kinder so schnell wie möglich in einer gewissen Normalität ankommen. In ihrer (Gast-)Familie sind sie oft mit den schlimmen Nachrichten aus der Heimat konfrontiert. In der Schule erfahren sie etwas anderes, der Fokus liegt auf dem Erlernen der deutschen Sprache. Nach und nach verstehen sie die anderen Kinder, können partizipieren und spielen. Das tut ihnen gut.
Wie haben die anderen Kinder auf die neuen Mitschülerinnen und Mitschüler reagiert?
Die Klassenkameradinnen und -kameraden sind sehr offen. Viele wollten sich als Götti oder Gotti engagieren. Zwei Kinder kümmern sich nun intensiver und nehmen das neue Gspänli mit in die Pause. Wie sich der Kontakt in der Freizeit etabliert, muss sich zuerst noch entwickeln.
Normalerweise erhalten Flüchtlingskinder zuerst im Asylantenheim Unterricht. Ist das bei ukrainischen Kindern jetzt anders?
Viele ukrainische Kinder kommen nicht in ein Aufnahmezentrum, weil sie problemlos in die Schweiz einreisen können. Ein grosser Teil kommt bei Verwandten und Bekannten unter. So läuft es anders als mit Flüchtlingen aus anderen Krisengebieten.
Jedes Kind, das voraussichtlich länger als zwei Monate in der Schweiz lebt, hat Anrecht auf Bildung, sprich regulären und unentgeltlichen Schulunterricht. Normalerweise erhalten Flüchtlingskinder zuerst im Asylzentrum Unterricht, später besuchen sie Aufnahmeklassen – je nach Grösse der jeweiligen Schule. Im Falle der ukrainischen Flüchtlingskinder läuft es aktuell anders, viele werden direkt in die Schulen integriert. Flüchtlinge aus der Ukraine erhalten den Status S für Schutzbedürftige.
Die Webseite des Kantons Zürich listet sehr hilfreiche Angaben für die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen in die öffentliche Schule auf, auch in ukrainischer und russischer Sprache: www.zh.ch
Die Pädagogische Hochschule Zürich hat eine konkrete Checkliste mit Tipps für Schulleitende zusammengestellt für die Integration von ukrainischen Flüchtlingen: blog.phzh.ch
Man liest von der Gefahr einer erneuten Traumatisierung von anderen Flüchtlingskindern aus anderen Ländern, die schon länger da sind. Ist das ein Thema bei Ihnen?
Wir hatten in der Vergangenheit Kinder aus anderen Krisengebieten, aber die sind unterdessen nicht mehr bei uns oder die Integration liegt sehr weit zurück. Mich beschäftigt generell mehr, mit welcher Herzlichkeit die Menschen aus der Ukraine aufgenommen werden – was mich sehr freut – und mit welchen Berührungsängsten wir mit Flüchtlingen aus anderen Krisengebieten umgegangen sind. Wir tun uns in unserer Gesellschaft schwer mit Menschen aus anderen Kulturen. Eine Immigrantin hat mir mal erzählt, dass die Schweizerinnen und Schweizer sehr höflich seien. Sie werde immer sehr freundlich gegrüsst, aber niemand spreche mit ihr. Ich wünschte mir da mehr die Sichtweise der Griechen, dort gibt es die Bezeichnung Xenos. Sie steht für den Anderen, das Fremde und bedeutet gleichzeitig aber auch Gast.
Mit welchen Angeboten werden traumatisierte Kinder unterstützt?
Wir haben keine speziellen Angebote in Bezug auf Traumata. Es fehlen noch Therapeutinnen oder Therapeuten, die ukrainisch und/oder russisch sprechen. Vielen ist möglicherweise nicht bewusst, dass einige der Flüchtlinge russischer Muttersprache sind, die in der Ukraine ja weit verbreitet ist. Wir werden versuchen, die Familien untereinander zu vernetzen. Aus dem Bereich des trauma-sensitiven Unterrichtens ist bekannt, dass für die Kinder wichtig ist, auch ausserhalb der Familie ihre Muttersprache sprechen zu können, um allfällige schwierige Erfahrungen im Dialog zu verarbeiten.
Mit welchen besonderen Herausforderungen sind Schulleitung und Lehrpersonen jetzt konfrontiert?
Wir werden sehr achtsam sein müssen, allfällige Traumatisierungen zu erkennen, was aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten gar nicht so einfach ist.
Wie viele Kinder können Sie so «unbürokratisch» aufnehmen in Ihrer Schule? Wann ist eine Grenze erreicht oder was braucht es, sollten bald noch viele weitere Kinder ankommen?
Das ist nicht so einfach zu beantworten. Wir haben Jahrgänge, die schon sehr gut «gefüllt» sind. Wenn wir dort noch mehr Zuwachs bekommen, wird uns das bei der Raumplanung sicher herausfordern. Noch schwieriger könnte sich die Personalsuche gestalten. Derzeit ist es nicht einfach, genügend Lehrpersonen zu finden.
Wie werden die Eltern der anderen SchülerInnen informiert über die ukrainischen Flüchtlingskinder?
Wir machen das so unaufgeregt wie möglich, so wie bei anderen Zuzügen auch. Etwa im Stil von «Ab kommenden Montag haben wir ein neues Mitglied in unserer Klasse… Wir freuen uns auf…».
Welche Rückmeldungen gab es aus der Elternschaft?
Wir haben bei zufälligen Kontakten mit Eltern viel Zuspruch bekommen. Es wurde begrüsst, dass unsere Schule so unbürokratisch und mit Menschlichkeit die Kinder aufgenommen hat.
Welche Erfahrungen können Sie an andere Schulen weitergeben, die ebenfalls Flüchtlingskinder integrieren möchten?
Es ist wichtig, dass die Kinder zeitnah ausserhalb der eigenen Familie zu Kontakten kommen. Das wirkt sich in der Regel positiv auf die Kinderseele aus. Dazu dürfte reichen, dass man den Kontakt mit anderen ukrainischen Familien herstellt. Falls das im eigenen Dorf nicht möglich ist, hilft bestimmt der Kontakt zur Schule in einer angrenzenden Gemeinde.
Ganz wichtig scheint mir auch, dass Kinder mit russischer Nationalität nicht exponiert und ausgegrenzt werden. Ihnen gehört auch ein besonderes Augenmerk. In den Medien ist da und dort von «Russenhatz» zu vernehmen. Ich appelliere an dieser Stelle, dass wir all unseren Mitmenschen mit Achtung begegnen. Ich meine sogar, dass Menschen, die von Argumenten der Putin-Administration überzeugt sind, nicht ausgeschlossen werden sollen. Krieg und Gewalt sind ganz klar zu verurteilen. Aber wir sollten andersdenkende Menschen nicht ausgrenzen, schon gar nicht in der Schule. Wir sollten mit gutem Beispiel einen respektierenden Diskurs zulassen, um die Integration aller Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen.