Ich erzähle: «Ein Kind ist kein Mini-Me» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Ich erzähle: «Ein Kind ist kein Mini-Me»

Lesedauer: 1 Minuten

Brigitte, 45, aus dem Kanton Aargau ist Kaufmännische Angestellte und Yogalehrerin. Selbst eher streng erzogen, will die Mutter zweier Töchter von 12 und 15 Jahren ihren Kindern viel Gestaltungsraum für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit lassen. Doch nicht beide mögen das.

«Selbstliebe bei Kindern zu fördern, heisst für mich, herauszufinden, was das Kind braucht, also sein Wesen, seine Bedürfnisse und Leidenschaften zu sehen, anzuerkennen und ihm dabei zu helfen, diese zu leben. Mein Kind ist weit mehr als eine Miniversion meiner Selbst, ein ‹Mini-Me›.

Ich wurde so erzogen, dass es wichtig ist, einen guten, finanziell sicheren und gesellschaftlich anerkannten Job zu finden. Erst als Erwachsene konnte ich gewisse Vorstellungen meiner Eltern, wie ich zu sein habe, ablegen und mich mehr und mehr dem widmen, was mich wirklich interessiert(e).

Wie vermittle ich aber meinen Kindern Selbstliebe, wenn ich sie selbst nur mässig erfahren habe? Glücklicherweise habe ich mich irgendwann mit Yoga befasst und konnte mich dadurch meinen wahren Bedürfnissen annähern.

Meine Kinder befinden sich in einer speziellen Situation: Sie haben eine degenerative Nervenerkrankung. So müssen sie sich also nicht nur mit der pubertären Identitätssuche herumschlagen, sondern zu akzeptieren lernen, dass sie auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Ihnen immer wieder zu vermitteln, dass es okay ist, so wie sie sind, ist unsere Erziehungsaufgabe. 

Meine ältere Tochter ist ein offener, toleranter Mensch, hat aber gerne Strukturen, Vorgaben, Regeln und Leitlinien. Weil ich eher autoritär und sehr patriarchalisch aufgewachsen bin, wollte ich als Mutter meinen Kindern das genaue Gegenteil – viel Entscheidungsfreiheit – vermitteln. Ich habe meiner Tochter sogar geraten, ein Zwischenjahr einzulegen, um innezuhalten, zu lesen, zu malen oder zu zeichnen, nicht sofort ins Hamsterrad der Erwachsenenwelt einzusteigen. Irgendwann habe ich glücklicherweise gespürt, dass ihr das nicht entspricht. 

Seitdem kann ich sie darin bestärken, was ‹ihr Ding› ist. Sie wünscht sich einen Job mit geregeltem Einkommen und geregelten Arbeitszeiten. Also helfe ich ihr aktiv dabei, diesen Beruf und diese Lehrstelle zu finden – was mit ihrer Krankheit doppelt schwierig ist. 

«Ja, du hast recht, diese Frisur verdirbt jetzt den Tag»

Meine jüngere Tochter ist ganz anders, explosiv und sensibel. Ich habe lange nicht verstanden, warum sie beispielsweise wegen einer nicht akkuraten Frisur in Tränen ausbricht. Seit ich akzeptieren kann, dass sie diese Gefühlsexplosion braucht, um ihren Frust loszuwerden, reagiere ich anders. Ich nehme sie in den Arm und stimme ihr zu, dass ihre Frisur jetzt den Tag verdirbt. 

Danach beruhigt sie sich wieder, weil sie sich von mir verstanden und im Wesen anerkannt fühlt. Grundsätzlich sollte jedes Kind das Glück erfahren, sich annehmen zu dürfen und geliebt zu werden, wie es ist.»


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Das ganze Dossier zum Thema Selbstwert lesen Sie in der Dezemberausgabe 2019, die Sie hier bestellen können. 
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