Herr Juul, wie gehe ich mit Tobsuchtanfällen um? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Juul, wie gehe ich mit Tobsuchtanfällen um?

Lesedauer: 4 Minuten

Durch die Luft fliegende Spielzeugautos, Wutausbrüche und Kraftausdrücke – eine Mutter weiss nicht mehr weiter mit ihrem Sohn. Sie wendet sich an Fritz+Fränzi und Jesper Juul antwortet ihr.

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Das Wichtigste zum Thema 

Wie gelingt es Eltern, ihrem Kind zu vermitteln, dass es auch bei Wutausbrüchen wertvoll und geliebt ist?

Im Text gibt der erfahrene Familientherapeut Jesper Juul ein anschauliches Beispiel, wie ein Gespräch mit dem Kind ablaufen könnte, um konstruktiv und effektiv eine Lösung zu finden. Er erklärt im vollständigen Text, warum der Junge sich so verhält und dass der Wutausbruch vor allem ein Signal ist, um mitzuteilen, dass das Kind mit der Familiensituation nicht glücklich zu sein scheint.   

Eine Leserin schreibt Jesper Juul:
Mit viel Interesse verfolge ich Ihre Rubrik im Magazin Fritz+Fränzi. Ich bin immer sehr gespannt auf Ihre Antwort und überlege mir im Voraus, wie ich handeln würde. Nun bin ich auch in einer Situation, wo ich mir nicht mehr zu helfen weiss, deshalb gelange ich an Sie.

Wir haben zwei Jungs im Alter von knapp 8 Jahren und 4 Jahren. Beide sind meistens lieb zueinander und verstehen sich trotz Altersunterschied ziemlich gut. Aktuell hat aber der Kleinere immer wieder extreme Wutausbrüche, wenn etwas nicht nach seinem Gutdünken läuft. Das typische Trotzen in diesem Alter. Nur fliegen leider Sachen wie Metall­autos und Legosteine in unsere Richtung (unsere Köpfe sind auch schon getroffen worden), wenn er noch im Wohnzimmer ist, sonst knallt er seine Türe zu und wirft auch dort seine Sachen an die Wand. Dies ist ziemlich anstrengend. Ich bin der Meinung, dass er in dieser Situation in sein Zimmer muss, nur wird er dann noch viel wütender. Haben Sie einen «besseren» Vorschlag, wie wir diese Wut in den Griff bekommen können? Vor allem möchte ich nicht, dass er uns Objekte an den Kopf wirft.

Ein weiteres Problem sind seine Kraftausdrücke. Wie sollen wir reagieren, wenn er uns zum Beispiel sagt, wir seien doof, oder seinem Bruder, er sei ein Doppel-A…? Seit einem halben Jahr bringen wir dies einfach nicht mehr von ihm weg. Obwohl sein grosser Bruder sehr selten solche Wörter verwendet, hat der Kleine keine Hemmungen, diese zu brauchen. Gespannt freue ich mich auf Ihre Antwort!

Jesper Juul antwortet:

Verhaltensweisen, wie Sie sie für Ihre zwei Söhne beschreiben, sind nur selten an ein spezifisches Alter gebunden. Sie sind lediglich das, was wir in der modernen Entwicklungspsychologie «Signale» nennen. In diesem Fall nennen Sie es ein Pro­blem, das nach einer Lösung verlangt. Wenn wir es jedoch ein Signal nennen, verlangt es nach Verständnis.
Lassen Sie mich mit Ihrem jüngsten Sohn beginnen. Sein frustriertes oder wütendes Verhalten ist ein Si­gnal, welches Ihnen zeigt, dass er sich nicht wohl fühlt so, wie Sie ihn zu erziehen versuchen. Wenn ein Kind das Gefühl verliert, wertvoll zu sein, und darauf mit Aggressionen reagiert – ob diese nun destruktiv oder selbstdestruktiv sind –, liegt das immer an der bewussten oder unbewussten Botschaft der Erwachsenen, die dem Kind zu verstehen geben, dass es mehr Belastung als Vergnügen ist. Frustration/Aggression (bei Kindern wie auch bei Er­­wachsenen) kann ein Zeichen dafür sein, dass Ihr Sohn nicht mag, was Sie von ihm zu tun oder zu lassen verlangen. Es ist aber auch ein Zeichen dafür, dass es für Ihren Sohn nicht angenehm, ja vielleicht sogar verletzend ist, wie Sie mit ihm gerade umgehen. In so einem Konflikt geht es oft viel mehr um das Wie als um das Was.

Wenn nun ein Familienmitglied immer wieder wütend und frustriert ist, ist das eine Botschaft an die Eltern, dass es sinnvoll ist, neue und konstruktivere Wege für das Mitein­ander zu finden.

Signale entstehen immer als ein Resultat, wie wir in der Gemeinschaft (als Familie) zusammenleben. Wenn nun ein Familienmitglied immer wieder wütend und frustriert ist, ist das eine Botschaft an die Eltern, dass es sinnvoll ist, neue und konstruktivere Wege für das Mitein­ander zu finden. (Ich habe dies in meinem Buch «Aggression» beschrieben.)

Aggression und Wut sind in vielen Familien aus moralischer Sicht generell nicht willkommen. Der traditionelle Weg, diese Gefühle bei den Kindern auszulöschen, ist die Anwendung von Macht: zum Beispiel das Kind in sein Zimmer zu schicken, ihm einen Klaps zu geben, das Kind zu beschimpfen, es anzuschreien, zu bestrafen. Von der Ge­sellschaft werden diese Erziehungsmassnahmen oft als solche gutgeheissen. 

Hier ist eine Alternative: Setzen Sie sich zu einem konfliktfreien Zeitpunkt mit Ihrem Sohn hin, sehen Sie ihm freundlich in die Augen und sagen Sie ihm: «Hör zu, mein Schatz, ich mag die Art und Weise nicht, wie wir streiten, wenn wir uns uneinig sind, und ich weiss, dass es in meiner Verantwortung liegt, dies zu ändern. Ich brauche deine Hilfe. Sag mir bitte, was ich anders machen kann, wenn es wieder so destruktiv zwischen uns wird. Ich will nämlich nicht, dass du Gegenstände herumschmeisst und Sachen beschädigst.» 

Auf diesem Weg wird er sich geliebt und wertvoll für Ihr Leben und die Familie fühlen, und ich verspreche Ihnen, dass er Ihnen einen oder mehrere Anhaltspunkte geben wird, um Sie zu konstruktiverer und effektiverer Kindererziehung zu führen.

Dass er mit seiner Zunge schlägt (Kraftausdrücke, die sie er­­wähnen), ist nur eine andere Form von Ag­­gression und ein anderes Signal, welches Ihnen zeigt, dass er sich als Familienmitglied unwohl fühlt. Ein Vierjähriger kann nicht kommen und sagen: «Ich möchte euch allen etwas sagen: Schon seit Längerem fühle ich mich unwohl mit meinem Leben in unserer Familie, und ich brauche eure Hilfe, um herauszufinden, was falsch läuft. Würdet ihr mir bitte helfen?»

Die Botschaft sollte lauten: Du musst nicht immer glücklich sein, damit ich dich liebe und unterstütze!

Auch die meisten Erwachsenen können das nicht. Die Erwachsenen brauchen oft auch eine Zeit, in welcher sie meckern, gereizt, kritisch oder deprimiert sind – was alles für ihr Umfeld nicht «nett» ist. Es kann ein beliebiges Familienmitglied sein, welches schimpft und schlecht gelaunt ist. Auch da können sie dieselbe Vorgehensweise wählen: «Ich habe bemerkt, dass du dich in letzter Zeit nicht wohl fühlst mit uns, und sofern du es mir erzählen kannst, möchte ich wissen, warum. Ich liebe dich genauso, auch wenn du dich schlecht fühlst.»

 

Das Einzige, was Sie als Elternteil oder Partner tun müssen, ist Folgendes: Lassen Sie die anderen Fami­lienmitglieder wissen, dass Sie von ihnen nicht erwarten, immer glücklich zu sein, und dass sie auch auf Ihre Liebe und Unterstützung zählen können, wenn sie es nicht sind oder nicht in der Lage sind, die richtigen Worte für ihr Unwohlsein zu finden. Kinder brauchen eine Kindheit lang – etwa zehn Jahre –, um ihre Impulse konstruktiv und kreativ umzusetzen. Damit ihnen das gelingt, brauchen sie Erwachsene, die Verständnis für ihre Frustration/Aggression haben.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

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