In welcher Welt wollen wir leben? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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In welcher Welt wollen wir leben?

Lesedauer: 2 Minuten

Wenn wir nach der Corona-Krise eine gerechtere Welt für unsere Enkel aufbauen wollen, sollten wir ein Gedankenexperiment wagen.

Meine Kinder nahmen anfangs das Virus, das Homeschooling, die steigenden Opferzahlen, die sich ausweitenden Katastrophenmeldungen nicht sonderlich ernst. Gegen das Virus waren sie nicht immun, wohl aber gegen das Endzeitgefühl, das uns Erwachsene so schnell und so nachhaltig erfasste. Während ich schon morgens von unserer Wohnung aus auf die menschenleere Strasse blickte und mich ernsthaft zusammenreissen musste, um nicht laut zu schreien: «Wo bist du hin, Leben?», lebten sie den uralten Traum aller Schüler und Schülerinnen: Ferien für immer.
 
Inzwischen ist die Krise fortgeschrittener. Die unperfekten Stellen unserer Familie fallen mir jetzt deutlicher auf. Dass auch die Gesamtsituation immer bedrückender wird und die Aussicht düster bleibt, lastet auf uns wie ein Mantel aus Blei. Etwas vom am schwierigsten zu Ertragenden ist die Ungewissheit.
 
Wenn meine Kinder fragen: Wann ist das alles mal vorbei?
Muss ich antworten: Ich weiss es nicht.
Wenn Sie fragen: Wird es irgendwann wieder so sein wie vorher?
Muss ich antworten: Ich weiss es nicht.

Die Menschen setzen sich zusammen und entwerfen eine neue Gesellschaftsordnung

Natürlich gibt es Menschen, die in der derzeitigen Krise eine Chance sehen. Aber «Corona als Chance begreifen» ist wohl vor allem etwas für Leute, die «365 Tage im Jahr eh jede Chance der Welt haben», wie die deutsche Satirikerin Sophie Passmann treffend beobachtete. Und doch müssen wir uns mitten in der Ungewissheit diese Frage stellen: Wie wollen wir leben? Auch hier: Ich weiss die Antwort nicht. Aber wie wir uns einer Antwort annähern können, dazu hätte ich einen Vorschlag.
 
Er stammt vom amerikanischen Philosophen John Rawls, der als junger Soldat eine tiefe Ungerechtigkeitserfahrung machte, die ihn nachhaltig prägte: Er war degradiert worden, nachdem er sich geweigert hatte, einen Untergeordneten zu bestrafen. Rawls promovierte in Philosophie und schrieb 1971 seine Theorie der Gerechtigkeit. Grundlage der Arbeit ist ein Gedankenexperiment: Wie würde eine gerechtere Welt aussehen? Und wie könnten sich die Menschen darauf einigen, dass alle, wirklich alle sie als gerecht empfinden? 
 
Seine Antwort ist der sogenannte «Schleier des Nichtwissens»: Die Menschen setzen sich zusammen und entwerfen eine neue Gesellschaftsordnung. Und zwar unter einer einzigen Bedingung: Sie wissen nicht, wo in dieser neuen Gesellschaft sie später stehen werden. Ob sie krank oder gesund sind, stark oder schwach, arm oder reich – das ist der Schleier des Nichtwissens. Unter dieser Bedingung, so Rawls, wenn wir nicht wissen, ob wir profitieren können, würden wir eine gerechte Welt erschaffen. Es ist ein utopischer, unrealistischer Gedanke. Aber wenn wir nach Corona eine neue Welt aufbauen werden, eine Welt, die wir unseren Kindern zumuten können, sollten wir ihn vielleicht doch zu denken wagen.


Über den Autor:

Mikael Krogerus ist Autor und Redaktor des «Magazins». Mikael Krogerus ist Vater einer Tochter ­und eines Sohnes. Er lebt mit seiner Familie in Basel.


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