«Wie soll ich reagieren, wenn meine Freundin sich ritzt?»

Die 14-jährige Chiara hat am Arm ihrer Freundin Ritzspuren entdeckt. Nun weiss sie nicht, wie sie damit umgehen soll, und bittet unsere Expertin Sarah Zanoni um Hilfe.
«Frag doch mal Sarah»
Meine Freundin hat mehrere Ritzspuren am Arm, die aussehen, als ob sie sich mit einem Messer verletzt hätte. Als ich das entdeckte, hat sie sich schnell den Ärmel drübergezogen. Wie kann ich ihr helfen? Sie tut mir voll leid. Ich weiss, dass sie es zu Hause nicht leicht hat.
Chiara, 14 Jahre
Liebe Chiara
Ich finde es schön, dass du gegenüber deiner Freundin so aufmerksam bist. An ihrer Reaktion hast du merken können, dass da tatsächlich etwas ist. Man nennt es «Ritzen», es gehört zu den selbstverletzenden Verhaltensweisen.
Manche Jugendliche – meist sind es Mädchen -, die unter hohem Druck stehen und von grossen Sorgen geplagt sind, beginnen, sich zu ritzen. Das klingt vielleicht paradox, aber mit dieser Selbstverletzung verschaffen sie sich für einen kurzen Moment Erleichterung. Es geht dabei nicht darum, sich einfach extra weh zu tun. Aber der Schmerz, der eintritt, sobald die Haut aufgeritzt ist, ist angenehmer, als den ganzen inneren Druck auszuhalten.
Stell dir vor, du kochst Kartoffeln im Dampfkochtopf. Der Druck wird mit ansteigender Temperatur so hoch, dass das Ventil zu pfeifen beginnt. Dies ist das Signal, das meldet, dass der Druck sein Maximum erreicht hat. Ausserdem entweicht nun etwas Dampf – würde das Ventil keine Luft ablassen können, würde der Topf irgendwann mal explodieren. Du stellst aber natürlich rasch die Herdplatte runter, damit der Druck nachlässt.
Genauso fühlt sich das für deine Freundin an. Nur dass sie im Moment leider kein anderes Ventil hat, bei dem sie Luft ablassen könnte. Der psychische Druck ist sehr unangenehm und sie fühlt sich zeitweise wahrscheinlich völlig verzweifelt.
Das Beste, was du deiner Freundin schenken kannst, ist ein offenes Ohr.
Was kannst du also tun, um deiner Freundin zu helfen? Sprich sie darauf an – und zwar so, als ob es das Normalste der Welt wäre. Zum Beispiel so: «Hey, ich habe gesehen, dass du dich ritzt. Kann ich dir irgendwie helfen? Möchtest du über deine Sorgen reden?»
Indem du sie auf diese Art und Weise ansprichst, zeigst du ihr, dass du ihr Problem erkannt hast, ohne daraus ein Drama zu machen. Das finde ich wichtig, denn sonst würde sie sich vielleicht wieder zurückziehen.
Und sobald sie sich dir gegenüber öffnet, kannst du ihr zuhören. Das ist das Beste, was du ihr schenken kannst: ein offenes Ohr. Danach könnt ihr zusammen überlegen, ob sie professionelle Unterstützung suchen möchte. Damit ihr Druck kleiner wird und sie sich nicht mehr ritzen muss, sollte sie unbedingt über ihren Stress, ihre Ängste und Nöte mit jemandem reden können. Offenbar kann sie das zu Hause nicht, deshalb sollte sie sich externe Hilfe holen. Eine Therapie wäre sinnvoll, dann würde sie sich nach einiger Zeit wieder besser fühlen.
Eine erste Ansprechperson könnte da die Schulsozialarbeiterin oder der Schulsozialarbeiter an eurer Schule sein. Diese Person unterliegt der Schweigepflicht. Das heisst, niemand würde davon erfahren, wenn deine Freundin das nicht möchte. Biete ihr doch an, sie dahin zu begleiten. Wenn man den ersten Schritt nicht allein machen muss, ist das oft hilfreich.
Trotz aller Freundschaft zwischen euch bitte ich dich, dass du auch gut zu dir selbst schaust. Rede mit deinen Eltern oder jemandem, dem oder der du vertraust, damit das Ganze nicht plötzlich zu einer grossen Belastung für dich selbst wird.
Denke daran: Lass die Probleme und Sorgen anderer nur ein Stück weit an dich rankommen und schütze dich davor, dass sie dich nicht überfordern. Aber empathisch, hilfsbereit und aufmerksam einem Menschen zur Seite stehen, das darf man immer und macht echte Freundschaft aus!
In unserer Rubrik «Frag doch mal Sarah» beantwortet Jugendcoach Sarah Zanoni Fragen von Kindern und Jugendlichen.
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