Sprachenstreit im Kindergarten
Über Sprache diskutieren Eltern oft hitzig: Manche sehen Hochdeutsch im Chindsgi als Startvorteil, andere wollen die Mundart unbedingt erhalten. Welchen Einfluss hat der Dialekt auf den Erwerb der Schriftsprache?
Mundart ist mehr als nur eine sprachliche Kunstform, sie ist hierzulande so etwas wie eine Identität, ein Lebensgefühl. Und fast immer ein hoch emotionales, oft auch politisches Thema. Das zeigte sich zuletzt bei der Volksinitiative «Ja zu Mundart im Kindergarten», über die in mehreren Kantonen abgestimmt wurde.
Während Zürich 2011 und der Kanton Aargau 2014 die Initiative annahmen, wurde sie 2016 im Kanton Zug verworfen. Das Ja im Aargau hatte Folgen: Seit Inkrafttreten der Regelung im Schuljahr 2016/17 sind im Kindergarten typisch helvetische Begriffe wie «Znüni» und «Finkli» sozusagen amtlich anerkannt. Und weil das Schweizer Schulsystem sehr vielfältig ist, sind Mischformen durchaus möglich. So unterrichtet eine Kindergartenlehrperson bei mir in der Gemeinde ab und zu auch Hochdeutsch, singt hochdeutsche Lieder, erzählt hochdeutsche Versli.
Die Befürchtung, dass Kinder in Kindergärten, in denen nur Mundart gesprochen wird, beim Erlernen der Standardsprache (Hochdeutsch in Wort und Schrift) benachteiligt sind, wurde unlängst widerlegt. Einer Studie zufolge hat die Mundart weder einen positiven noch negativen Einfluss auf das Hochdeutsch, das die Kinder später lernen. Zusammen mit der Hochschule für Logopädie Rorschach und den Pädagogischen Hochschulen Graubünden, Weingarten (Deutschland) und Vorarlberg (Österreich) erforschte die Pädagogische Hochschule St. Gallen drei Jahre lang, welche Auswirkungen Dialekt und Hochdeutsch als Unterrichtssprachen auf die Schreibentwicklung von Kindern haben.
200 Fachpersonen und 849 Kinder in 117 Kindergärten im Bodenseeraum wurden über einen Zeitraum von zwei Jahren dreimal getestet. In der Schweiz waren Kindergärten aus Zürich, St. Gallen, Graubünden und dem Aargau beteiligt. Einerseits machten die Kinder einen Schreibtest. Sie erhielten hierfür ein Blatt mit Bildern und schrieben die Wörter dazu. Andererseits machten sie einen Sprachtest, in dem sie Laute hören, Reime erkennen und Silben klatschen mussten. Die Ergebnisse lassen sich laut Studienleiterin Cordula Löffler wie folgt zusammenfassen: Zu Beginn des letzten Kindergartenjahres konnten 36 Prozent der Kinder bereits einzelne oder mehrere Laute der abgebildeten Wörter korrekt in Buchstaben übertragen, am Ende des Kindergartenjahres waren es 38 Prozent. Im Frühling der ersten Klasse konnte die Mehrheit der Kinder einen grossen Teil der Wörter schreiben.
Kaum Fortschritte beim Schreiben im Kindergarten
«Die Studie zeigt, dass die Wahl der Sprache im Kindergarten keinen Einfluss auf die Schreibentwicklung hat», sagt Franziska Vogt, Leiterin des Instituts Lehr- und Lernforschung der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Wichtig für die sprachliche Entwicklung sei die Art und Weise, wie die Kinder die Zweisprachigkeit im Kindergarten erleben.
Das Testergebnis veränderte sich übrigens nicht, wenn man jene Kinder separat betrachtete, deren Lehrpersonen nur Dialekt gesprochen hatten. «Wir konnten keinen statistisch bedeutsamen Einfluss der Sprachverwendung von Dialekt oder Hochdeutsch auf den Erwerb der Schriftsprache feststellen», sagt Franziska Vogt.
Hierzulande ist es wohl eher selten, dass in Kindergärten nur Hochdeutsch gesprochen wird. Zu reden geben allerdings die Fragen, ob fremdsprachige Kinder unsere Mundart lernen sollten und ob mit Schweizer Kindern Hochdeutsch gesprochen werden soll. Dazu haben die Forscherinnen eine klare Meinung, sie plädieren für Einheitlichkeit. «Es ergibt keinen Sinn, im Unterricht Dialekt zu sprechen, aber ein fremdsprachiges Kind auf Hochdeutsch anzusprechen», sagt Vogt. «Kinder mit Deutsch als Zweitsprache sollen auf keinen Fall anders behandelt werden als Kinder mit Deutsch als Muttersprache», bekräftigt auch Alexandra Zaugg von der Pädagogischen Hochschule Graubünden. Man wolle Diskriminierung unbedingt vermeiden.
Fremdsprachige müssen beide Sprachen lernen
Es sei wichtig, so ein weiteres Ergebnis der Studie, dass Lehrpersonen für die ganze Klasse von Mundart zu Hochdeutsch wechseln. Kindern müsse bewusst werden, dass Mundart und Hochdeutsch zwei verschiedene «Sprachen» sind, aber lernen müssten Fremdsprachige beide Idiome: «Ein Kind gehört zur Gruppe dazu, wenn es wie die anderen Dialekt beherrscht. Dadurch wird es viel mehr sprechen, und das ist ein Gewinn», so Regina Queitsch, Fachhochschullehrerin im deutschen Gengenbach. Denn tatsächlich gebe es bereits beim Kindergarteneintritt grosse Unterschiede in der Sprachkompetenz der Kinder. Laut Vogt können manche fremdsprachigen Kinder bei Kindergarteneintritt kaum Deutsch, da sie nicht in eine Spielgruppe oder Kita gingen und wenig soziale Kontakte hatten. Unter anderem deswegen begrüssen es die Studienautorinnen, wenn schon im Kindergarten regelmässig Hochdeutsch gesprochen wird. Ein weiterer Vorteil sei, dass den Kindern der Übergang in die Schule so leichter falle.
Mundart oder Hochdeutsch: Diese Debatte hat nicht nur politische Gründe. Aus der Sprachforschung weiss man schon länger, dass die Standardsprache, also Hochdeutsch, eher als Sprache der Distanz wahrgenommen wird und die Mundart entsprechend als Sprache der Nähe. So würden «harte» Schulfächer eher in Hochdeutsch, «weiche» Fächer wie Musik oder Zeichnen eher in Mundart unterrichtet, sagen Sprachforscher wie Horst Sitta. Damit ist klar, was das erklärte Ziel der Hochdeutsch-Offensive im Kindergarten ist: Die Sprache der Nähe, die traditionellerweise der Dialekt ist, soll im Schulkontext durch die Standardsprache ersetzt werden. Man verspricht sich dadurch Vorteile in der Lese- und Schreibkompetenz, welche später bei der Berufswahl wirksam werden. Dass Teile des Schulalltags in Hochdeutsch stattfinden, andere dagegen in Mundart unterrichtet werden, sei zu begrüssen, sagt der Schweizer Linguist Raphael Berthele in einem Aufsatz zur Studie. Denn: Ein bewusster Umgang mit beiden Sprachformen biete ein beträchtliches Potenzial.
In einer gross angelegten Studie haben Forscher der Universitäten Bern, Zürich und Salzburg die lokale und regionale Vielfalt der deutschen Sprache untersucht. Wie sie im Fachblatt «Plos One» berichten, wurden seit den 1970er-Jahren insbesondere in nördlichen und östlichen Teilen Deutschlands einige lokale Begriffe durch überregionale Bezeichnungen verdrängt. Beispielsweise nannte man in Norddeutschland das, was in der Schweiz Znüni heisst, früher «zweites Frühstück». Heute kennt die regionale Bevölkerung dafür nur noch die Begriffe «Pause» oder «Frühstückspause».
Während sich der Sprachgebrauch in Deutschland gewandelt hat, scheint die Schweiz im Vergleich eine Insel der Stabilität zu sein: «Hierzulande gab es zwar auch Verschiebungen von Mundartbegriffen, etwa ‹Bütschgi› für den Apfelrest, das sich von Zürich aus in verschiedenste Richtungen ausbreitet. Insgesamt aber ist die Mundart in der Schweiz im Vergleich zum restlichen deutschsprachigen Europa relativ stabil», sagt Adrian Leemann von der Uni Bern. Grund sei, dass der Dialekt in der Schweiz als Alltagssprache einen viel höheren Stellenwert geniesse als in Deutschland, wo man bei Jobinterviews teilweise sogar im Nachteil sei, wenn man kein reines Hochdeutsch spreche. «Die Situation in der Schweiz ist im deutschsprachigen Raum einzigartig», so Leemann. (Quelle: SDA)