«Anzahl Suizidversuche ist deutlich gestiegen» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

«Anzahl Suizidversuche ist deutlich gestiegen»

Lesedauer: 4 Minuten

Laut dem Kinder- und Jugendpsychiater Gregor Berger litten 90 Prozent der Opfer im Jahr vor ihrem Suizid an einer psychischen Erkrankung wie einer Depression. Er rät Eltern, ihre Kinder bei ersten Anzeichen darauf anzusprechen.

Herr Berger, Sie haben fast täglich mit Depressionen und ­Suizidversuchen von Kindern und Jugendlichen zu tun. Wie stellt sich hierzulande die ­Situation insgesamt dar?

Wir haben pro Jahr in der Schweiz zwischen 30 und 50 Suizide bei unter 20-Jährigen, vor allem von 13- bis 19-Jährigen, selten von 10- bis 13-Jährigen. Wobei die Dunkelziffer der Kindersuizide vermutlich höher liegt, da geht man öfter unwissentlich von Unfällen aus.

Hat sich dieser Wert in den ­vergangenen Jahren verändert?

Bei Erwachsenen und älteren Menschen sind die Zahlen von Suiziden in den meisten Ländern rückläufig. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind sie allerdings relativ konstant. Erste Daten aus den USA zu aktuellen Entwicklungen zeigen leider, dass vor allem bei weiblichen Adoleszenten die Zahlen sogar deutlich steigen.

Gregor Berger ist Leitender Arzt und Leiter des psychiatrischen Notfalldienstes und Home Treatments der Kinder- und ­Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Gregor Berger ist Leitender Arzt und Leiter des psychiatrischen Notfalldienstes und Home Treatments der Kinder- und ­Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Ist das auf die Schweiz übertragbar?

Das zeigt die Erfahrung, ja. In den USA werden die Zahlen schneller gemeldet, zudem lassen sich Effekte und Trends dort genauer ablesen, weil das Land 330 Millionen Einwohner hat. Bei uns können schon wenige Suizide bei Minderjährigen die Statistik dieser Altersgruppe ­verändern.

Warum steigen die Zahlen?

Bei den Mädchen und jungen ­Frauen vermutlich deshalb, weil sich die Suizidmethoden verlagern. Erhängen oder Erschiessen wurden früher vor allem von Männern gewählt, nun entscheiden sich auch Frauen immer öfter für sogenannte «harte Methoden». Eine grosse Rolle spielen auch die Medien. In der Netflix-Serie «13 Reasons Why» nimmt sich ein junges, starkes, eloquentes, intelligentes Mädchen das Leben. Wir haben da einen modernen Werther-Effekt (Nachahmereffekt, Anm. d. Red.), in den USA wurde mit der Ausstrahlung der Serie ein deutlicher Suizid­anstieg unter jungen Menschen, besonders ­Frauen, verzeichnet.

Also besser keine Suizide zeigen?

Es kommt darauf an, wie mit diesem heiklen Thema umgegangen wird. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Suizid ist in dieser Lebens­phase häufig und wichtig, was auch Umfragen aus der Schweiz zeigen. Doch die Frage, wie darüber berichtet wird, ist hier zentral. Jugendliche, die keine Prädisposition haben, ­können wahrscheinlich auch mit expliziten Darstellungen von Suizid umgehen, doch geht es um die Adoleszenten, die sich sowieso schon mit dem Thema schwertun und psychische Probleme haben. Bei solchen sogenannt vulnerablen Adoleszenten senken Filme wie «13 Reasons Why» die Schwelle für Suizidhandlungen. Aus meiner Erfahrung ist jedoch ein Suizid im Jugendalter nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen, sondern ein komplexes Zusammenkommen von vielen verschiedenen Faktoren. Damit der Werther-Effekt zum Tragen kommt, muss er wohl auf ein belastetes Umfeld und eine entsprechende Lebensgeschichte treffen.

Mir scheint auch der Druck auf die Jugendlichen deutlich gestiegen zu sein.

Der gesellschaftliche Druck steigt generell. Im Sport, in der Schule, im Beruf – alles ist ein bisschen extremer, das belastet auch eine jugendliche Psyche. Auch die Vielfalt der Möglichkeiten und von der realen Welt entkoppelte Rollenvorbilder erschweren eine gesunde Identitätsentwicklung. Auch die häufiger ­veränderten und komplexeren familiären Strukturen stellen Belastungsfaktoren dar. Hinzu kommen veränderte Peergruppenstrukturen, die durch die sozialen Medien einen ganz anderen Hebel haben als noch vor zehn Jahren.

Wieso durch die sozialen Medien?

Früher waren Ausgrenzungsphänomene oder Mobbing in der Regel auf jene sechs, acht Stunden beschränkt, die man in der Schule verbrachte. Heute hört das gar nicht mehr auf, das Internet ist 24 Stunden am Tag verfügbar. Und während früher Mitschüler aus der eigenen Klasse und vielleicht noch der Parallelklasse beteiligt waren, bekommt es heute im Handumdrehen die ganze Gemeinde mit.

Gibt es weitere Gründe?

Meiner Beobachtung nach konsumieren die Jugendlichen heute in jüngerem Alter Drogen wie Alkohol, Cannabis oder Designerdrogen. Die auf der Strasse gehandelten Substanzen sind oft viel potenter als in den 70er-, 80er-Jahren. Und wenn man eine depressive Veranlagung hat, können solche Drogen die Hemmung verringern, und dann erscheint einem der Sprung aus grosser Höhe plötzlich gar nicht mehr so schlimm.

Wenn man all das weiss, wie versucht man dann, Suizide zu verhindern?

In der Schweiz laufen auf verschiedenen Ebenen Suizidpräventionsmassnahmen, die besonders auf Menschen ausgerichtet sind, von denen wir wissen, dass sie ein erhöhtes Suizidrisiko haben, zum Beispiel Menschen nach Klinikentlassungen. Die Früherkennung bei Depression wurde verbessert, da wird nicht mehr so lange wie früher mit Hilfsmassnahmen gezögert. Denn auch wenn die Zahl der Suizide selbst in der Schweiz noch konstant ist – aufgrund der starken Zunahme der Notfallkonsultationen in der Kinder und Jugendpsychiatrie ist davon auszugehen, dass die Anzahl der Suizidversuche in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen ist.

Was genau meint selbstverletzendes Verhalten?

Das klassische Beispiel hierfür ist das Ritzen. Kinder und Jugendliche ritzen sich mit scharfen Gegenständen wie Messern oder Scherben die Haut an Armen und Beinen auf. Das hat sich pandemisch ausgebreitet, inzwischen gibt es in der Schweiz kaum eine Oberstufenklasse, in der sich nicht ein oder zwei Mädchen ritzen. Wir wissen, dass damit das Risiko für einen späteren Suizidversuch steigt.

Wie können Lehrer und Eltern ­präventiv tätig werden?

In der Schule und in der Allgemeinheit sollten psychische Probleme wie Depressionen, Sucht, selbstverletzendes Verhalten, aber auch Suizid offen thematisiert werden. Mit anderen über ihre Probleme zu reden, hilft Kindern und Jugendlichen, was ein wichtiger Beitrag zur generellen Prävention ist. Häufig haben Lehrer und Eltern Angst, dass sie jemanden direkt in den Suizid treiben, wenn sie das Thema ansprechen. Das ist inzwischen wissenschaftlich widerlegt – im Gegenteil, das Ansprechen kann helfen, dass sich jemand Hilfe sucht und nicht mehr so alleine fühlt.

Was raten Sie Eltern?

Wenn Anzeichen da sind, dass etwas nicht stimmt, empfehle ich Eltern, ihr Kind offen darauf anzusprechen und sich frühzeitig Hilfe zu suchen. Leider ist es bei der Depression so, dass Eltern diese deutlich schlechter erfassen als die Jugendlichen selbst. Sie bemerken, wenn sich ihr Kind sozial zurückzieht oder schlechter isst. Aber andere wichtige Faktoren wie Traurigkeit, Schlafstörungen, Energielosigkeit oder ein unerklärbarer Leistungsknick werden von den Eltern oft nicht oder weniger ausgeprägt wahrgenommen. Vieles wird auf die Pubertät abgeschoben, besonders die Reizbarkeit und der soziale Rückzug. Es ist eine Herausforderung für Eltern und Therapeuten, diese Warnzeichen zu erkennen, ernst zu nehmen und an den Punkt zu kommen, wo der Adoleszente und die Eltern bereit sind, Hilfe anzunehmen.

*Für das Dossier «Depression» durfte Gabi Vogt mit der Familie Wirth aus Zürich eine ­Bildstrecke inszenieren. Die darin gezeigten ­Personen haben keine Verbindung zu den Texten in diesem Heft. Die Fotografin hat für Fritz+Fränzi bereits mehrere Dossiers umgesetzt.


Lesen Sie mehr zum Thema Depression:

  • «Geht es immer so weiter, dieses Leben?»
    Stefanie* hat diesen Sommer die Matura bestanden. Wer die aufgestellte 18-Jährige trifft, glaubt nicht, dass sie seit ihrer Kindheit unter Depressionen leidet.
  • «Es tut Justus gut, wenn er mit jemandem reden kann»
    Als Bettina H.* mit ihrem Mann und ­ihren zwei Söhnen in den Kanton Bern gezügelt war, dachte sie erst, dass es allen gut gehe in der neuen Heimat. Bis sich ihr Sohn Justus*, 15, immer ­weiter von ihr entfernte.
  • Depression: Schatten auf der Seele
    Die Pubertät ist eine Zeit der Veränderung. Psychische Erkrankungen wie Depressionen treten dann gehäuft auf. Geschätzte 10 bis 20 Prozent aller Jugendlichen leiden phasenweise an dieser psychischen Störung. Wie entsteht eine Depression, wie zeigt sie sich? Auf welche Warnsignale sollten Eltern achten und wann braucht es eine Therapie?