«Pinocchio wäre vielleicht lieber ein Baum geblieben»
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«Pinocchio wäre vielleicht lieber ein Baum geblieben»

Lesedauer: 7 Minuten

Wu Tsang, Hausregisseurin am Zürcher Schauspielhaus, über Kinder als Publikum, zwei Lieblingsfiguren und warum sie ihren Pinocchio in einen grösseren, brandaktuellen Kontext stellt.

Interview: Maria Ryser
Bilder: Diana Pfammatter, zVg

Frau Tsang, wie sind Sie auf die Idee gekommen, Pinocchio zu inszenieren?

Es war keine intellektuelle, mehr eine intuitive Entscheidung. Ich spazierte mit meiner Freundin Tosh (sie spielt in Pinocchio die Hauptrolle, Anmerkung der Redaktion) in einem Wald in Zürich. Wir hatten eine Menge Spass und sagten plötzlich: Wie wärs mit Pinocchio? Wir haben noch nie ein Kinderstück gespielt. 

Wu Tsang ist eine preisgekrönte Filmemacherin und Performance­-Künstlerin. 2016 gründete sie zusammen mit der Künstlerin Tosh Basco die Performance-Gruppe Moved by the Motion. Einige davon sind mit ihr nach Zürich gezogen, um Teil des Ensembles des Schauspielhauses zu werden und ihre Zeit als Hausregisseurin zu begleiten.

Was braucht es dafür?

Kinder brauchen viel weniger Kontext als Erwachsene und haben einen eigenen Zugang zu Geschichten. Sie sind sehr offen, spüren emotionale Zwischentöne manchmal besser heraus und lesen Körpersprachen sehr genau. 

Die Kinder-Zuschauer reden, lachen oder rufen ungeniert mit.

Fantasie, Musik und Bewegung haben einen grossen Einfluss auf sie. 

Genau da setzen wir an. Ich denke, es war auch hilfreich, dass ich die deutsche Sprache nicht verstehe und mich wie ein Kind erst an sie herantasten musste. Wir wollten aber ein Stück, das sowohl für Erwachsene als auch für Kinder funktioniert. Das tut es auf verschiedenen Ebenen: sprachlich, dramaturgisch, visuell, klanglich. Wir schöpfen mit oftmals einfachsten Mitteln aus dem Vollen.

Haben Sie ein Beispiel?

Als Pinocchio auf dem Vogel fliegt. Die Schauspieler bewegen sich nur minim, doch die Videoeffekte nehmen das Publikum mit auf diesen Flug.

Ab durch die Wolken: Gut festhalten, Pinocchio!

Welches Feedback haben Sie von den Kinder-Zuschauern bisher erhalten?

Was mich bei jeder Aufführung berührt ist, wie die Kinder emotional mitgehen. Da gibt es keinen Filter, um die Gefühle für sich zu behalten: Sie reden, lachen oder rufen ungeniert mit.

Gibt es eine Szene, welche die Kinder besonders mögen?

Ganz viele. Eine davon ist, als Pinocchio zum Leben erwacht. Wie die Holzpuppe ihren Körper entdeckt. Die unbeholfenen Bewegungen zu Beginn, wenn er aufsteht, geht und wieder fällt. Da fühlen die Kinder voll mit.

Ich habe mich sofort in die Schnecke, eine der zwei Protagonistinnen verliebt. Was ist Ihre Lieblingsfigur?

Ich liebe sie natürlich alle (lacht). Die Kinder scheinen die Schnecke und die Amsel, die zweite Protagonistin, aber besonders zu lieben. Auf den Zeichnungen, die wir von ihnen erhalten, sind sie meistens abgebildet. Aufgrund ihrer Rollen sind Amsel und Schnecke den Kindern besonders nah: Sie stehen in direktem Austausch mit dem Publikum, stellen ihnen Fragen und beziehen sie mit ein. Das verbindet.

Amsel, Schnecke, Pinocchio als Baum und die blaue Fee (v.l.) treffen sich im Wald.

Und beide haben wahnsinnig tolle Kostüme.

Die Kostüme von Kyle Luu sind wirklich fantastisch.

In Collodis Werk wimmelt es von Tieren. Warum ausgerechnet eine Schnecke und eine Amsel als Erzählerinnen?

Wir wählten die Schnecke aus, weil sie so langsam ist und keine Eile hat. Sie lehrt Pinocchio geduldig zu sein und nimmt das Leben anders wahr als die Amsel. Diese ist sehr lebhaft, wissbegierig, flattert und hüpft umher und trägt das Herz auf der Zunge. Die Schnecke lebt am Boden. Die Amsel kann fliegen und zeigt Pinocchio die Welt aus der Vogelperspektive. Die beiden Erzählfiguren ergänzen sich perfekt und ermöglichen es, die Geschichte aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln zu erleben.

Infos zu Pinocchio:

Im diesjährigen Familienstück des Schauspielhauses Zürich nimmt sich die Gruppe Moved by the Motion dem klassischen Stoff an und behandelt dabei die philosophische Frage, was es eigentlich bedeutet, ein«echter Junge» zu werden. Empfohlen ab 6 Jahren.

Aufführungsdaten:

Pinocchio läuft noch bis am 5. Februar 2023 im
Schauspielhaus Zürich: Pfauen, Rämistrasse 34, 8001 Zürich.

Vergünstigungen:

Sonntag 18. Dezember 2022 (zahlen, was man will); weitere Vergünstigungen erfahren Sie hier.

Eine Pinocchio-Geschichte, die so noch nie erzählt wurde. Wie kam es zu dieser Version?

Ich sehe unser Stück als einen Hybriden aus Collodi und Disney. Von der Erzählweise her haben wir uns an der kompakten Disney-Version orientiert. Collodi hat Pinocchio als Serie in einer Zeitschrift konzipiert. Also sehr lose und narrativ schwierig zu folgen. Dafür sind wir von seiner wilden Fantasie sehr angetan.

Erzählen Sie.

Im Unterschied zu Disney geht es Collodi weniger um Pinocchios Entwicklung von der Holzpuppe zu einem echten Buben. Er startet wie wir als Teil eines Baumes. Pinocchio trägt diese wilde, ursprüngliche Natur in sich und muss irgendwie mit der menschlichen Realität zurechtkommen.

Strahlende Stimme: Pinocchio (Tosh Basco) verzaubert das Publikum auch mit seinem Gesang.

Sie gehen noch weiter: Pinocchio ist Teil eines beseelten Baumes, eines beseelten Waldes. Sie stellen ihn in einen grösseren Kontext als das Original.

Das tun wir ganz bewusst. Wir haben bei der Recherche viele Bücher über Bäume und den Wald gelesen. Eines, das uns besonders begeistert hat, ist «Das geheime Leben der Bäume» des deutschen Försters Peter Wohlleben. Er zeigt die Funktionsweisen und Lebensstrategien der Bäume auf, wie sie ganze Gemeinschaften, ja Familien bilden und wie die Starken sich um die Schwachen kümmern.

Pinocchio bringt das ganze Waldwissen, dieses tiefere Verständnis für Ökosysteme und sozialen Zusammenhalt mit. 

Pinocchio ist nicht die dumme, einfältige Holzpuppe, die von den Menschen eines Besseren belehrt werden muss?

Nein, im Gegenteil. Pinocchio wird am Ende zu Geppettos Lehrmeister. Er bringt dieses ganze Waldwissen, dieses tiefere Verständnis für Ökosysteme und sozialen Zusammenhalt mit. 

Dennoch ist Pinocchio wie im Original nicht gefeit vor menschlichem Versagen. Er stolpert von einer Falle in die nächste.

Es entspringt seiner Waldnatur: Pinocchio ist viel zu vertrauensselig. Er teilt alles, so wie er es als Baum getan hat. In der Menschenwelt wird das ausgenutzt. Wer Collodi aufmerksam liest, entdeckt eine ausgeprägte Gesellschaftskritik. Er warnt die einfachen Bauern und Leute vor den Gefahren der Industrialisierung und des Kapitalismus. Wir gehen zudem der Frage nach, wie man das Lebendigsein, das Liebevolle in uns nähren und sich gleichzeitig schützen kann vor einem Umfeld, dass nicht liebevoll und nährend ist.

Pinocchio will gar kein Mensch werden?

Diese Frage steckt für uns im Original drin und finden wir spannend. Pinocchio kennt und schätzt die Vorteile der Holzpuppe durchaus. Zum Beispiel, dass er nicht ertrinken kann.

Auf seinen Abenteuern landet Pinocchio auch im Meer und tanzt mit den Fischen.

Was bedeutet für Sie Mensch sein?

Nun gut, ich bin ein Mensch (lacht) und kann nur versuchen, mir vorzustellen, was eine nicht-menschliche Erfahrung sein könnte. Diesem roten Faden folge ich in meiner Arbeit seit Jahren: ich versuche die begrenzte menschliche Perspektive auszuloten und zu umarmen.

Was haben Sie dabei entdeckt?

Menschen sind viel emotionaler und einfacher gestrickt in ihren Bedürfnissen als sie es gerne hätten. Unser Verhalten wurzelt in unseren Beziehungen, unseren Familien, unseren Kindheitserfahrungen. Uns fesselt diese Fantasie von Technologie, Fortschritt und Überlegenheit. Ich empfinde uns nicht als Krone der Schöpfung. 

Das menschliche Konzept von Geschlecht ist im Vergleich zur Tierwelt ein sehr enges.

Auch Pinocchios Geschlecht ist weiter gefasst: Die Holzpuppe zielt nicht, wie in Disney darauf ein Bub zu werden.

Ich denke das menschliche Konzept von Geschlecht ist im Vergleich zur Tierwelt ein sehr enges. Wir sehen es fliessender und versuchen es mehr zu öffnen. 

Nicht nur beim androgynen Pinocchio, auch bei Figuren wie der blauen Fee mit der Postur eines Wikingers, die im Tütü verspielt durch die Sphären tänzelt.

(lacht) Zum Beispiel.

Welchen Weg soll Pinocchio einschlagen?

Alles ist beseelt und miteinander verbunden. Das Stück kreiert auch eine spirituelle Dimension.

Wir reden viel über Transformation. Pinocchio wäre vielleicht gerne ein Baum geblieben und lieber nicht gefällt worden. Einmal passiert, kann die Figur aber nicht in die Baumform zurück. Dasselbe gilt für Geppetto, der sich nach seinem Tod im Baum wiederfindet. Vielleicht als Erinnerung, als Gedanke nur, wir lassen es offen. Das Stück hat viel Raum für Interpretation.

Was möchten Sie dem Publikum mitgeben?

Nebst bester Unterhaltung und viel Glitzer?

Genau. Ihre Kernbotschaften.

Pinocchio wird unfreiwillig in diese Welt hineingeboren. So wie wir. Wir alle starten mit unterschiedlichen Voraussetzungen und suchen dann den Weg, der für uns stimmt. Veränderungen können Angst machen, gehören aber zum Leben. All das zeigt Pinocchio. Und wäre es nicht grossartig, wenn wir in Einklang mit unserer inneren und äusseren Natur leben und uns gegenseitig mehr Sorge tragen könnten?

Maria Ryser

Maria Ryser
liebt grosse und kleine Kinder, zyklisch leben, Rilke, reinen Kakao, Klangreisen und Kreta. Die gebürtige Bündnerin arbeitet als stv. Leiterin auf der Onlineredaktion und ist Mutter zweier erwachsener Kinder und eines Primarschülers.

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