Hochsensitiv – mehr als nur empfindlich?
Manche Menschen ermatten schneller, halten Lärm weniger gut aus oder nehmen sich vieles zu Herzen. Das sind Eigenschaften, die zum Phänomen der Hochsensitivität oder Hochsensibilität gehören. Wie lebt es sich damit?
Das Wichtigste zum Thema
- Rund 20 Prozent der Menschen sind hochsensitiv, das heisst: Sie sind empfindsamer als andere, fühlen sich schneller überfordert, müssen sich mehr ausruhen und verlieren schneller die Fassung. Doch eine Hochsensitivität ist wegen der vielen unterschiedlichen Ausprägungen schwierig zu erkennen.
- Ein Erkennungsmerkmal für Hochsensitivität ist die erhöhte Reizwahrnehmung, die sich beispielsweise auf das Hören oder Riechen beziehen kann. Dabei braucht es nicht viel, bis die Belastungsgrenze des Betroffenen erreicht ist.
- Wenn zu viele Eindrücke auf hochsensitive Kinder einprasseln, geraten sie in Stress. Eine Situation, unter der nicht nur das betroffene Kind, sondern auch dessen Familie leidet. Lesen Sie im Text kurze Erfahrungsberichte von Eltern.
- Kopf- und Bauchschmerzen können bei Hochsensitiven auftreten, ebenso wie Angststörungen. Welche Folgen noch auftreten können, erklärt Sandra Konrad, Deutschlands Expertin für Hochsensitivität.
- Brigitte Küster, Leiterin des Instituts für Hochsensitivität, sagt: «Hochsensitivität ist auch eine Gabe.» Von welchen positiven Eigenschaften profitieren Hochsensitive?
- Profitieren Sie im vollständigen Text von einer umfangreichen Linksammlung zum Thema und Buchtipps mit weiterführenden Informationen zum Thema Hochsensibilität.
Sie kommen nach einem anstrengenden Tag nach Hause und müssen sich zuerst eine Stunde hinlegen, egal was Ihre Freunde oder Ihre Familie dazu sagen. Über eine saloppe Bemerkung eines Bekannten denken Sie tagelang nach. Ein überfüllter Bus, ein Pendlerzug, ist für Sie unerträglich. Und: Ihnen kommen schnell die Tränen. Als Kind nannte man Sie «Heulsuse», Sie empfinden sich selbst als «Mimose».
Kommt Ihnen das bekannt vor? Dann gehören Sie vielleicht zu den 20 Prozent der Menschen, die empfindsamer sind als andere. Genauer: Sie sind hochsensitiv*. Es ist ein Begriff für ein Phänomen, das vor 20 Jahren erstmals bekannt wurde und heute in Form von Ratgeberbüchern und Coaching-Programmen für besonders Feinfühlige den Markt flutet. Endlich gibt es eine Erklärung für das, was manche schon immer spürten, für das sie aber bisher keinen Namen hatten.
* Die Worte «hochsensitiv» und «hochsensibel» werden oft synonym verwendet. Wir beschränken uns auf den Begriff «hochsensitiv», weil diese Übersetzung des englischen Ausdrucks «high sensitivity» im wissenschaftlichen Kontext bevorzugt wird.
Hochsensitiv: Das klingt so positiv, so vielversprechend, so harmlos.
Ein Irrtum. Denn Hochsensitivität wird von vielen Betroffenen keineswegs als erstrebenswerter Charakterzug erachtet. Hochsensitivität ist eine ganz bestimmte Ausprägung verschiedener Persönlichkeitsmerkmale, eine angeborene, meist vererbte Verhaltensform mit situationsbedingten Vor- und Nachteilen. Es ist aber keine psychische Störung und auch keine physische Krankheit.
Wie äussert sich Hochsensitivität bei Erwachsenen und bei Kindern, und wie erkennt man sie? Welche Vorteile gibt es, hochsensitiv zu sein, und welche Nachteile? Wie findet man heraus, ob man hochsensitiv ist? Und welche Strategien gibt es für Eltern und Kinder im Alltag? Diesen Fragen wollen wir in diesem Dossier nachgehen.
Matteo spielt nicht mit – weil der Wecker klingelt
Ein Beispiel: Levi wird sieben Jahre alt und feiert eine rauschende Party. Viele Freundinnen und Freunde kommen, sie hüpfen bereits überdreht zur Tür hinein, wollen Kuchen essen, spielen. Die Stimmung ist heiter. Geschenke werden ausgepackt und Unmengen an Süssigkeiten verdrückt. Nur ein Kind beteiligt sich an keinem Spiel und stopft sich keine Smarties in den Mund: Matteo. Er bleibt am Tisch sitzen und beobachtet. Plötzlich sagt er zu seiner Mutter, die mitgekommen ist: «Dort oben ist etwas, Mama.» Die Mutter lauscht. Durch den Lärmpegel hört sie ein sehr, sehr leises «Biiiep-biiiep-biiiep». Es ist ein Wecker. Matteo hat das Geräusch eines klingelnden Weckers in einem weit entfernten Zimmer als Einziger gehört.
Die erhöhte Reizwahrnehmung
Ein Hochsensitiver unterscheidet Reize in zehn Varianten, eine weniger sensible Person nimmt etwa fünf oder vielleicht auch nur zwei Varianten wahr.
Elaine Aron, US-amerikanische Psychologin.
Elaine Aron hat den Ausdruck «sensory-processing sensitivity» (SPS, auf Deutsch vereinfachend mit «Hochsensitivität» übersetzt) kreiert. 1997 veröffentlichte sie zusammen mit ihrem Mann Arthur Aron ihre ersten empirischen Studien zum Thema in der angesehenen US-amerikanischen Fachzeitschrift «Journal of Personality and Social Psychology». Dabei konzipierten sie Hochsensitivität als eigenständiges Konstrukt, als Persönlichkeitsmerkmal, das gewisse Menschen ausgeprägter haben als andere und das deren Alltag massgeblich prägt.
Intensive Gefühle und hohe Empathie?
Diese Tiefe der Verarbeitung ist ein ganz entscheidendes Merkmal. Es ist gleichzeitig das Kennzeichen, das Aussenstehenden am schwierigsten zu vermitteln ist. Praktisch bedeutet es, dass hochsensitive Personen über eine Erfahrung oder eine Erkenntnis besonders lange nachdenkenund an ihre «kognitive Landkarte», an ihre mentale Darstellung der eigenen Umgebung anpassen, um die Konsequenzen einer zukünftigen Handlung voraussehen zu können.
Auch ermöglicht die vertiefte Informationsverarbeitung intensive Gefühle und eine hohe Empathie für andere. Hochsensitive sind generell stärker erregt oder übererregt. Ob Positives oder Negatives, beides erleben Hochsensitive viel intensiver als normal sensible Menschen. Das zweite Merkmal ist die Verhaltenshemmung. Sie zeigt sich unter anderem darin, dass hochsensitive Personen in neuen Situationen gerne beobachtend abwarten, bevor sie aktiv werden und sich beispielsweise an einem Tisch dazugesellen.
Oder sie ziehen sich zurück, wenn etwas bedrohlich oder gar schädlich sein könnte. Das hat laut Aron evoutionsbiologische Ursachen. Diese «ruhige Wachsamkeit» sei nichts anderes als eine Überlebensstrategie, wie wir sie auch aus der Tierwelt kennen.
Hochsensitive Menschen haben keine Mauer, keine Abgrenzung. Die Welt dringt in sie ein. So beinhaltet beispielsweise das Schulzimmer für manche Hochsensitive eine Reizflut, die nur schwer zu ertragen ist. Geräusche, Gerüche, Stimmungen und Berührungen ergeben einen Cocktail, den diese Kinder erst mal verdauen müssen, wenn sie den Raum verlassen haben. Ein Phänomen, drei Merkmale – und das Problem, dass diese Belastungen von aussen nicht sichtbar sind. Hochsensitivität zeigt sich nicht an der Oberfläche.
Beeinträchtigte Lebensqualität durch Hochsensibilität?
Die Mutter von Noé sagt: «Diese Eigenschaft ist eine unglaubliche familiäre Belastung». Weil es kein klar sichtbarer Makel sei, würde Noés Ausprägung von vielen nicht ernst genommen. Manche sagen: «Er soll sich doch mal zusammennehmen.»Eine Aussage, die Noés Mutter wehtut. Denn für Eltern ist es sehr schwierig, Erklärungen für die «seltsamen» Eigenarten ihrer hochsensitiven Kinder zu finden, und so suchen viele Mütter und Väter den Fehler bei sich und ihrer Erziehung.
Nicht man selbst ist schuld an den Schwierigkeiten, sondern ein besonderes Persönlichkeitsmerkmal.
Aber: Diese Erleichterung ist erst der Anfang eines Weges, auf dem es darum geht, das Leben für sich respektive mit seinem Kind zu gestalten, und zwar so, dass es sich richtig fühlen, sein Potenzial ausschöpfen und sich wertvoll empfinden kann.«Dieser Weg ist nicht einfach, speziell in einer schnelllebigen, lauten und leistungssorientierten Gesellschaft, die in der Regel von Menschen gestaltet wird, die diese Veranlagung nicht haben», sagt Brigitte Küster, die selbst hochsensitiv und Mutter zweier hochsensitiver Kinder ist.
Womit haben die Betroffenen zu kämpfen?
Strömen zu viele Eindrücke auf ein hochsensitives Kind ein, kann es zu einer Reizüberflutung kommen.Betroffene Kinder fühlen sich in der Folge erschöpft, geraten unter Stress, möchten sich von der Aussenwelt abschirmen oder sind gereizt. Entgegen ihrer sonst so ruhigen Art beginnen sie dann zu quengeln, zu schreien, zu weinen oder werden aggressiv.
Hochsensitiv ist nicht das Gleiche wie ADS oder ADHS.
Viele Hochsensitive leiden still. Wenn nichts so klappt, wie sie es möchten oder glauben, dass es von ihnen erwartet wird, reagieren sie unsicher, überreizt, überfordert. «Dann fängt der Magen an zu flattern, es wird einem schlecht oder man kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Man ist innerlich wie verschwommen, fühlt sich wie im Nebel», beschreibt Brigitte Küster die Gefühlslage.
Zweifel am Selbstwert und düstere Gedanken
Geht Hochsensitivität wieder zurück?
Hochsensitivität geht mit den Jahren nicht zurück und wird auch nicht schwächer. Aber Eltern, die ein hochsensitives Kind oft loben und es ermuntern, auszutesten, ob sich seine Befürchtungen als begründet herausstellen, haben einen positiven Einfluss, darin sind sich Expertinnen und Experten einig. Elaine Aron formuliert es so: «Mit der Zeit wird die Vorstellung des Kindes von der Welt nicht mehr so beängstigend sein, wie sein Nervensystem es ihm in früheren Jahren übermittelt hat. Seine kreativen Wesenszüge und intuitiven Fähigkeiten werden sich entfalten und die schwierigen Seiten können etwas verblassen, sofern die richtigen Strategien im Umgang damit gefunden wurden.»
Hochsensitivität ist eine Gabe.
Brigitte Küster, Leiterin des Instituts für Hochsensitivität.
Weiter ist den Hochsensitiven eine hohe Gewissenhaftigkeit eigen, sie sind schnell im Aufspüren von feinen Unterschieden und haben eine ausgeprägte kreative Ader. In anderen Gesellschaften und Kulturen wie etwa Japan oder Schweden würden diese Eigenschaften sehr geschätzt, sagt Elaine Aron, die US-amerikanische Hochsensitivitätsexpertin. «Da in unserer Kultur Durchsetzungsvermögen und Stärke bevorzugt werden, wird das Persönlichkeitsmerkmal hochsensitiv als etwas angesehen, mit dem es sich schwer leben lässt oder das geheilt werden muss.»
Hinzu kommt: Hochsensitivität hat verschiedene Facetten oder Blendungen, wie es im Fachjargon heisst. Es gibt nicht das alleinige hochsensitive Merkmal, vielmehr äussert sich die Hochsensitivität in einer Häufung von bestimmten Kriterien, die von Mensch zu Mensch, sowohl in der Qualität als auch in der Quantität, stark variieren können.
Wie kann mit der Besonderheit Frieden geschlossen werden?
Es ist normal, verschieden zu sein.
Richard von Weizsäcker, ehemaliger deutscher Bundespräsident.
- www.ifhs.ch (Brigitte Küster): Infos, Vorträge, Bücher, Beratungen und Kurse
- www.hochsensibilitaet.ch (Marianne Schauwecker): Tests, Tipps
- www.hsperson.com (Elaine Aron)
- www.michaelpluess.com
- www.hsu-hh.de, Stichworte: Sandra Konrad, Forschung, Kongresse
- www.zartbesaitet.net: Infos, Tests, nützliche Antworten, Abgrenzungen
- Georg Parlow: Zart besaitet. Verlag Festland, 247 S.
- Elaine Aron: Das hochsensible Kind. mvg-Verlag, 488 S.
- Brigitte Schorr: Hochsensible Mütter. SCM Hänssler, 208 S.
- Mira Mondstein, Deva Wallow: Alle Antennen auf Empfang. Empfindsame Kinder besser verstehen. Humboldt, 192 S.
Hängen Hochsensitivität und Hochbegabung zusammen?
Dennoch vertreten einige Fachleute, darunter die Frankfurter Psychologin Andrea Brackmann, die These, dass Hochsensitivität eine besondere Form von Hochbegabung sei. Brackmann beschreibt in ihrem Buch «Jenseits der Norm – hochbegabt und hochsensibel?» (2005) die zwei Ausprägungen mit nahezu identischen Worten; beide Personengruppen fühlten sich «anders», beide Ausprägungen würden grösstenteils vererbt.
Der Unterschied liegt im Umgang mit den Informationen. Hochsensitive erfassen und interpretieren diese nicht in sachlicher Art, sondern in ihrer vielfältigen Bedeutung, während Hochbegabte eher kognitiv und sachlich-analytisch orientiert sind. Hingegen seien laut Elaine Aron Hochsensitive oft besonders begabt im musischen, künstlerischen oder zwischenmenschlichen Bereich.
(Quelle: Spektrum.de)
Hochsensitivität – nur ein Konstrukt?
Neurotizismus ist eine Dimension der «Big Five», fünf Merkmale, die einem verbreiteten und gut untersuchten Modell zufolge die wesentlichen Charakterzüge des Menschen erfassen. Personen mit höheren Neurotizismuswerten werden oft als emotional weniger stabil bezeichnet, sind tendenziell eher ängstlich, nervös und unsicher und können weniger gut mit Stress umgehen als andere.
Ein anderer wichtiger Kritikpunkt bezieht sich auf die inhaltlichen Kriterien von Elaine Arons Hochsensitivitätstest. Während Aron von der Annahme ausgeht, dass ihr Fragebogen eine in sich geschlossene Eigenschaft messe, monieren Forscherkollegen, dass die Fragen Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen erfassen und verschiedene Typen von Empfindsamkeit messen.
Die US-Temperamentsforscherin Mary Rothbart kommt in einer Untersuchung zum Schluss, dass Arons Test zwei voneinander getrennte Merkmale erfasst: zum einen den «negativen Affekt», sprich die generelle Neigung zu Gefühlen wie Angst, Ärger oder Traurigkeit; zum anderen die Dimension der «ästhetischen Sensitivität», also die Empfänglichkeit oder Feinfühligkeit in Bezug auf neue Eindrücke, wie etwa von einem Film besonders berührt zu werden.