Warum tanzt er denn nicht?
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Warum tanzt er denn nicht?

Lesedauer: 2 Minuten

Ausgerechnet am Tag seines grossen Theaterauftritts hat der Sohn unseres Kolumnisten Lukas Linder einen Ausschlag. Dem Vater flattern die Nerven.

Text: Lukas Linder
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Am Morgen hat unser Sohn einen Ausschlag im Gesicht. Scharlach. Ich habe es gewusst. Ausgerechnet an dem Tag, an dem er seinen grossen Auftritt im Krippentheater hat. Meine Frau ist bereits bei der Arbeit. Ich ziehe ihn an und gehe mit ihm zur Gemeinschaftspraxis, wo zum Glück nicht die alte Hexe zugegen ist, die Kinder scharenweise ins Krankenhaus weiterwinkt.

«Das ist kein Scharlach», sagt die Ärztin, «das ist eine allergische Reaktion. Haben Sie eventuell ein neues Waschmittel?» – «Vielleicht die Aufregung?», schlage ich vor. «Er tritt heute im Krippenspiel auf. Als Josef.» Am Ende des Satzes überschlägt sich meine Stimme. Die Kinderärztin verschreibt meinem Sohn ein Antiallergikum und mir einen Schnaps.

Vermutlich bin ich einfach ein Geht-so-Mensch oder aber meine grosse Stunde schlägt im hohen Alter.

Auf dem Weg zum Kindergarten nimmt mich mein Sohn an der Hand: «Weisst du, Papa, ich möchte nie so alt sein wie du.» Ich stimme ihm sofort zu. Ungefähr ab dem zwölften Lebensjahr wird der Mensch zum Klischee. Er verhält sich dann so, wie man es aus schlechten Filmen kennt, nur dass der schlechte Film sein Leben ist. Manche Erwachsene versuchen das Kind in sich zu entdecken und werden dabei zum Megaklischee.

Bin ich selbst gerne Kind gewesen? Es geht so. Aber bin ich gerne erwachsen? Geht auch so. Vermutlich bin ich einfach ein Geht-so-Mensch oder aber meine grosse Stunde schlägt im hohen Alter.

Ich denke an meinen ersten eigenen Theaterauftritt zurück. Es war in der zweiten Klasse gewesen, unsere Schule hatte «Die kleine Hexe» aufgeführt. Ich war als Kartoffel verkleidet und tanzte in einer musikalischen Szene mit einem Rüebli zusammen. An die Musik kann ich mich nicht mehr erinnern, doch ich weiss noch, wie unzufrieden ich war, weil ich auch lieber ein Rüebli sein wollte.

Wenn in der Erinnerung vor allem die Emotionen bleiben, was wird mein Sohn einmal über den heutigen Tag sagen? «Keine Sorge», sage ich ihm auf dem Weg zum Kindergarten. «Bis du so alt bist wie ich, wird es noch seeeeehr lange dauern.»

Ausschlag passt zu Josef

Fünf Stunden später sitze ich mit meiner Frau und den anderen Eltern vor einer Bühne, auf der gleich das Krippenspiel beginnen wird. Die Stimmung ist angespannt. Meine Schwiegermutter, die auch gekommen ist, filmt die leere Bühne. Meine Hände sind feucht, als die Kinder hereinkommen. Das Gesicht unseres Sohnes ist leuchtend rot. Der Ausschlag ist definitiv schlimmer geworden. Aber es steht ihm gut. Ausschlag passt zu Josef.

Die Kinder beginnen zu tanzen. Was wird bleiben? Und was verschwindet vielleicht besser?

Als die ersten Sätze der Geschichte ertönen, beginnt mein Sohn ausgiebig in der Nase zu bohren. «Das steht ihm gut. Ausschlag passt zu Josef», flüstere ich, während meine Schwiegermutter weiterfilmt. Dann erklingt Musik. Die Kinder beginnen zu tanzen. Was wird bleiben? Was wird all die Jahre überdauern und was wird in der Tiefe der Jahre verschwinden? Und was verschwindet vielleicht besser?

«Warum tanzt er denn nicht?», ruft meine Frau, da unser Sohn steif wie ein Stock zwischen den hüpfenden Hirten steht. «Josef tanzt nicht», erkläre ich. «Josef bohrt in der Nase und hat Ausschlag.» Es lebe das Klischee, denke ich und springe hoch und tanze, so wie damals als Kartoffel.

Lukas Linder, Kolumnist

Lukas Linder
studierte Germanistik und Philosophie. Der Dramatiker und Buchautor («Der Letzte meiner Art», «Der Unvollendete») hat einen Sohn und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.

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