Reizsensible Kinder gut durch die Weihnachtszeit begleiten
Die Adventszeit und die Weihnachtsfeiertage sind oft eine emotionale Angelegenheit: Der Alltag weicht besonderen Ritualen. Hier zieht ein Wichtel ein, dort kommt der Samichlaus, da sind all die Weihnachtsfeiern und Jahresabschlüsse in Musik oder Sport und nicht selten ein Testmarathon in der Schule. Neben aufgeregter Vorfreude bedeutet das für viele Kinder, die besonders sensibel auf Reize reagieren, auch eine Menge Anspannung. Auch Schönes kann unheimlich anstrengend sein!
Gleichzeitig geraten wir Eltern in dieser Zeit oft stark unter Druck. Selten haben wir so viel Mental Load wie in dieser Phase. Neben der Vorbereitung tragen dazu auch die vielen Erwartungen rund um Feiertagsbesuche und Familienfeiern bei. Diese Anspannung nehmen wiederum die Kinder wahr und lassen sich nicht selten davon anstecken.
Doch wie können wir unsere Familie entlasten? Wie sorgen wir dafür, dass wir uns am «Fest der Liebe» tatsächlich noch liebevoll begegnen können, ohne vorher vom Stress komplett aufgesaugt zu werden?
Routinen bewahren
Routinen schenken insbesondere reizsensiblen beziehungsweise reizsensitiven Kindern viel Sicherheit. Eine spontane Guetzlibackaktion an einem Adventsabend führt dann schnell dazu, dass sich das Abendessen weit nach hinten verschiebt. Plötzlich sind die Kinder überdreht und müde, die Routine bricht auf, Stress entsteht.
Oft wird es leichter, wenn wir im Wochenplan des Kindes bereits vorab sichtbar machen, wann wir guetzlen oder den Weihnachtsmarkt besuchen. Vielleicht backen wir lieber am Samstagnachmittag vor dem Abendessen, sodass die gewohnten Essens- und Schlafenszeiten nicht komplett durcheinandergewirbelt werden.
«Besinnlich» muss nicht heissen, dass man an Weihnachten die ganze Zeit als Familie zusammensitzt.
Vielleicht verzichten wir auf eine zusätzliche Aktivität und wandeln das Abendritual vorweihnachtlich ab, indem wir nach dem Essen eine Kerze anzünden oder zur gewohnten Lesezeit am Abend eine Adventsgeschichte lesen.
Reize dosieren
Manche Kinder reagieren stark auf sensorische Reize wie Licht, Gerüche oder Hautempfindungen. Ist das der Fall, tun wir gut daran, Adventsbeleuchtung und Musik sparsam einzusetzen.
Neurodivergente Kinder, die beispielsweise im Autismus-Spektrum leben oder von ADHS betroffen sind, schätzen eine Ruhezone zu Hause, die frei ist von Deko und Weihnachtsgedudel. Und die sie mit den vertrauten Lieblingssachen willkommen heisst. Auch sinnliche, beruhigende Aktivitäten wie Kneten, Basteln mit Naturmaterialien oder Spazierengehen im Wald können entschleunigend wirken.
Falls Sie selbst mit der Tradition gross geworden sind, sich zu Weihnachten in Schale zu werfen, dürfen Sie sich fragen: «Passt diese Erwartung zu uns und unserem Kind? Tut es uns gut, diese Tradition weiterzuführen?» Oftmals fühlen sich reizsensible Kinder in einengenden Strumpfhosen oder Hemden äusserst unwohl. Viel Anspannung fällt von ihnen ab, wenn sie in gewohnter Kleidung zum Festtagsschmaus erscheinen dürfen.
Reize wohl zu dosieren bedeutet auch, nicht jede Einladung anzunehmen und immer wieder Ruhe-, Rückzugs- und Erholungsphasen einzubauen.
Auf Spannungsbögen achten
«Vorfreude ist doch die schönste Freude!» Für viele Familien mag diese Aussage stimmig sein, für reizsensitive Kinder trifft oft genau das Gegenteil zu. Hoffnungsvolles Warten, Überraschungen – das versetzt diese Kinder oftmals in eine solch unangenehme Anspannung, dass diese ihre Freude überwiegt. In diesem Fall lohnt es sich, Überraschungen klein zu halten oder vorher anzukündigen.
Wir machen die Bescherung morgens. So fällt die ganze Anspannung weg. Der Tag ist freier. Für uns klappt das so viel besser.
Mutter
Eine Mutter erzählt in diesem Zusammenhang: «Mit neun Jahren gab es letztes Jahr für unser Kind das erste Mal keinen Schoggi-Adventskalender, sondern einen von Lego. Auf der Rückseite ist aufgedruckt, was drin ist, sodass die Aufregung zwar immer noch gross, aber überschaubar ist.»
«Ein Weihnachtswichtel, der Schabernack treibt, wäre viel zu aufregend und würde die ganze Familie nicht mehr zur Ruhe kommen lassen», erzählt sie weiter. «Auch wenn ich meinen Kindern von Herzen gönnen würde, so etwas zu erleben, können wir Eltern die Überstimulation und den daraus resultierenden Schlafmangel aller Beteiligten nicht abfangen. Wir müssen eh schon mit unseren Ressourcen haushalten, um nicht noch mehr auszubrennen.»
Erwartungen hinterfragen
Eine der wichtigsten Fragen für die bevorstehende Phase ist aus unserer Sicht: «Müssen wir das wirklich – und wer schreibt uns das vor?»
Machen Sie es sich leicht – ganz ohne schlechtes Gewissen! Es darf auch ein gekaufter Adventskalender sein, die Guetzli aus dem Supermarkt tun es auch.
Sie dürfen schauen, was Sie als Familie brauchen, damit es Ihnen gut gehen kann: Sie dürfen das Programm schlank halten und auf Ihren Energiehaushalt achten, wenn Sie Besuche oder Feiern in nächster Zeit zu- oder absagen.
Sie dürfen Rückzugsmöglichkeiten schaffen – «besinnlich» muss nicht heissen, dass man die ganze Zeit als Familie zusammensitzt. Wer hat das Recht, darüber zu urteilen, wenn das Kind auch an Weihnachten lieber seine nackten Nudeln isst und nichts vom Festtagsbraten probieren will? Lassen Sie Rituale los, die für Sie Stress bedeuten.
Eine Mutter berichtet: «Wir machen die Bescherung morgens. Ganz entspannt frühstücken, Geschenke auspacken, dann können die Kinder spielen. So fällt die ganze Anspannung weg, den ganzen Tag auf etwas warten zu müssen. Der Tag ist dann freier. Wir können ihn flexibler gestalten. Für uns klappt das so viel besser.»
Nostalgie und Enttäuschung
Vielleicht lösen diese Impulse in Ihnen eine leichte Irritation oder gar inneren Widerstand aus? Für viele Menschen ist Weihnachten mit einer tiefen Sehnsucht nach Harmonie, Geborgenheit und familiärem Zusammenhalt verbunden.
Vielleicht wird man selbst nostalgisch, denkt voller Wärme an das Guetzlibacken mit Mama damals, an die Bescherung im Kerzenschein des Christbaumes oder an das gemeinsame Weihnachtsliedersingen zurück. Es kann schmerzhaft sein, wenn man feststellt, dass das eigene Kind ganz anders «tickt», sehr reizsensitiv ist und man von diesen heimeligen inneren Bildern offenbar Abschied nehmen muss.
Sie sind nicht verkehrt, wenn es bei Ihnen anders läuft als bei anderen Familien und Sie das Wohlergehen Ihrer Familie im Fokus behalten.
Abschied vom gemütlichen Guetzlen, weil das eigene Kind sich beispielsweise vor dem matschigen Teig an den Händen ekelt. Traurigkeit darüber, dass das angespannte Warten auf die abendliche Bescherung für das eigene Kind vielleicht zu viel ist – und man am Ende statt glänzender Kinderaugen und grosser Freude Unzufriedenheit oder einen Gefühlsausbruch erlebt.
Ihre Enttäuschung darf sein! Und es kann auch nicht der Anspruch sein, dass Sie als Elternteil eines sensitiven Kindes diese Reizüberflutung abfangen und stets für Harmonie sorgen können. Sie sind nicht verkehrt, wenn es bei Ihnen anders läuft als bei anderen Familien, wenn Sie mit Traditionen brechen, um das Wohlergehen Ihrer Familie im Fokus zu behalten. Und natürlich dürfen Sie sich trotzdem danach sehnen, dass es anders, harmonischer, leichter wäre.








