Frau Weybright, warum ist Jugendlichen so schnell langweilig?
Das hat unter anderem mit den Entwicklungsprozessen des Gehirns in der Pubertät zu tun. Es ist eine Phase rasanten Wachstums und tiefgreifender neurologischer Umstrukturierungen. In der Adoleszenz sind unsere Kinder anfälliger für Langeweile, weil die beiden grossen Kontrollsysteme in ihrem Gehirn nicht gleich schnell wachsen.
Können Sie das bitte genauer erklären?
Zuerst reift das sozioemotionale System: Es ist für die Verarbeitung von Belohnungen zuständig und macht, dass Jugendliche verstärkt nach Neuem und Aufregendem suchen. Gleichzeitig können die meisten von ihnen aber nicht unbedingt die langfristigen Konsequenzen ihres Verhaltens einschätzen. Das kognitive Kontrollsystem – für durchdachtes Planen und rationale Entscheidungsfindung zuständig – entwickelt sich nämlich viel langsamer. Diese Entwicklung ist oft erst Mitte zwanzig ganz abgeschlossen. Jugendliche erleben Gefühle wie Langeweile also sehr intensiv, können aber ihr Bedürfnis nach mehr Stimulation erst bedingt regulieren.
Bildschirme sind eine leicht verfügbare Antwort auf unbequeme Gefühle.
Wenn sie so von Abenteuern angezogen werden, sollten sich Heranwachsende doch weniger langweilen.
Ja, wäre da nicht dieses Missverhältnis zwischen dem Verlangen nach Freiraum und Veränderung, das die Jugendlichen sehr stark verspüren – und den Möglichkeiten, die ihnen tatsächlich gegeben sind. Natürlich gewinnen Heranwachsende in dieser Zeit an Autonomie und verändern sich die Bedingungen in ihrem Umfeld. Aber eben nicht so schnell, wie es ihnen vielleicht lieb wäre.
Von 2008 bis 2017 haben Sie Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren in einer grossen Studie gefragt, wie oft ihnen langweilig ist. Das Ergebnis: Heranwachsende langweilten sich nicht nur häufiger, sondern auch immer schneller. Was sind die Gründe für diesen Anstieg?
Mein Eindruck ist, dass schon länger so etwas wie eine generelle Verdrossenheit herrscht in unserer westlichen Gesellschaft – ein Wollen, aber nicht Imstandesein, sich auf befriedigende Aktivitäten einzulassen. Gleichzeitig beobachten wir in den USA einen Anstieg von psychischen Problemen. Ich frage mich, ob da nicht ein Zusammenhang besteht.

Für mich weist auf jeden Fall beides auf etwas Grundsätzlicheres hin: Haben wir verlernt, wie man unbequeme Gefühle wie Langeweile aushält? Wissen wir nicht mehr, wie man konstruktiv und ohne Hilfsmittel aus ihnen herausfindet?
Vielleicht lassen wir unsere Kinder heute nicht mehr genügend Erfahrungen machen, in denen sie in der Langeweile auch mal ausharren müssen. Nicht nur ein paar Minuten, sondern mehrere Stunden lang. Mit nichts als einem Buch zur Hand, wenn überhaupt. Denn nur so lernt man doch, sich auch in unbequemen Gefühlen einigermassen bequem einzurichten. Ich frage mich, ob uns da nicht gerade etwas Wichtiges verlorengeht.
Welche Rolle spielen Smartphone und soziale Medien?
Natürlich ist die allgegenwärtige Präsenz von Bildschirmen eine grosse Herausforderung. Es ist mir aber zu einfach, sie zur Wurzel allen Übels zu machen. Gerade in der Adoleszenz können soziale Medien auch ein Segen sein: Sie verbinden Jugendliche mit Gleichgesinnten und schaffen Gemeinschaft, besonders dort, wo Heranwachsende in ihrem Umfeld vielleicht niemanden haben, der so ist wie sie. Gleichzeitig ist die Adoleszenz eine Zeit sehr intensiver Gefühle, mit denen Jugendliche erst umgehen lernen müssen.
Auch ein Übermass an Reizen kann zu Langeweile führen.
Da ist die Versuchung gross, sich dem Smartphone zuzuwenden, statt sich mit Langeweile oder Frust auseinanderzusetzen. Darin liegt für mich das grösste Problem: Bildschirme sind eine leicht verfügbare Antwort auf unbequeme Gefühle. Natürlich suchen alle manchmal Ablenkung. Wenn wir aber jedes Mal das Handy zücken, wenn wir uns langweilen oder traurig sind, lernen wir möglicherweise nicht mehr, wie man sich alleine aus solchen Gefühlen herausmanövriert.
Gleichzeitig könnte man meinen, dass aufgrund des allgegenwärtigen Bespassungsangebots online gar keine Langeweile mehr aufkommt.
Wenn wir von Langeweile sprechen, denken wir oft an eine zu geringe Stimulation. Doch auch ein Übermass an Reizen kann zu Langeweile führen. Internet und Smartphones machen uns eher zu viele Angebote an Unterhaltung. Wenn wir unsere Zeit aber mit weitgehend bedeutungslosen Aktivitäten anfüllen, langweilen wir uns nicht weniger. Der Weg aus der Langeweile führt nicht nur über stimulierende Bedingungen. Wir versuchen dem Gefühl auch zu begegnen, indem wir Situationen mehr Sinn verleihen. Wenn nun aber beim Schlangestehen auf der Post alle ins Handy starren, scheint mir das nicht besonders sinnerfüllt.
Gibt es denn eine sinnerfüllte Art, Schlange zu stehen?
Gute Frage. Die Forschung sagt zumindest, dass es Wege gibt, einem solchen Moment mehr Bedeutung zu verleihen. So kann ich mir etwa in Erinnerung rufen, warum ich überhaupt auf der Post bin. Vielleicht will ich jemandem ein Paket schicken, der mir viel bedeutet? Auf diese Weise nehme ich eine kognitive Neuorientierung vor. Eine weitere Form davon ist, meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, auf meine Umgebung zum Beispiel: Wie viele Päckchen werden in dieser Filiale abgefertigt? Was für neue Briefmarken gibt es? Gut, die Post ist vielleicht nicht der geeignetste Ort für eine solche Art der Reorientierung.
Was machen Sie selbst in solchen Momenten?
Wenn ich irgendwo warten muss, nehme ich das gerne zum Anlass, um mich bei Menschen zu melden, mit denen ich schon länger nicht mehr in Kontakt war, obwohl ich sie schätze. Das kann auch einfach ein «Hey, ich denke gerade an dich» sein.
Da sind wir aber schon wieder beim Handy.
Stimmt. Verbindung zu anderen Menschen zu schaffen, ist für mich aber einer der sinnvolleren Wege, das Smartphone in langweiligen Momenten zu nutzen, statt einfach zur Zerstreuung.

Ein interessanter Befund in Ihrer Studie war auch: Die befragten Mädchen langweilten sich deutlich häufiger und rascher als Jungs. Woran liegt das?
Wir wissen es nicht genau. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Mädchen in ihrer Freizeit tendenziell mehr physisch passiven Beschäftigungen wie Musik hören oder Freundinnen treffen nachgehen. Jungs treiben häufiger Sport und sind generell körperlich aktiver. Solche Geschlechterunterschiede haben natürlich auch mit unserer Sozialisierung zu tun.
Physische Aktivitäten erfordern auf jeden Fall eher ungeteilte Aufmerksamkeit, als dies passivere Hobbys tun. Sie lassen deshalb möglicherweise weniger Raum, um sich dabei zu langweilen. Es ist aber auch möglich, dass wir die Jungs in unserer Untersuchung nicht ganz in der richtigen Entwicklungsphase erwischt haben, schliesslich reift das weibliche Gehirn früher heran als das männliche. Wir hätten deshalb vielleicht auch Daten von älteren Jungen gebraucht.
Wir müssen Heranwachsenden den Raum und die Zeit geben, auf eigene Ideen zu kommen.
Gerade bei Mädchen stellten Sie aber auch eine grössere Zunahme von psychischen Krankheiten fest. Wann ist Langeweile ein Hinweis auf tiefer liegende Probleme wie Depressionen oder Angststörungen?
Wenn die Langeweile überhandnimmt im Alltag und auch ganz gewöhnlichen Aktivitäten im Weg steht, sollte man genauer hinschauen. Aber: Es gibt Kinder, die einfach mehr zu kämpfen haben mit Langeweile als andere. Dazu muss ich etwas ausholen: In der Forschung unterscheiden wir zwei grundlegende Formen von Langeweile: Langeweile als situationsbedingtes Gefühl und als Veranlagung beziehungsweise Persönlichkeitsmerkmal. Erstere kennen wir alle, der Lockdown in der Corona-Pandemie ist ein typisches Beispiel dafür. Manche Menschen aber langweilen sich unabhängig von den Umgebungsbedingungen und ihrem Alter schneller als andere.
Was sind die Gründe?
Ein massgeblicher Faktor ist die Fähigkeit zur emotionalen Selbstregulation. Es gibt Kinder, die mehr Mühe damit haben, wenn sich etwas unangenehm anfühlt. Es fällt ihnen auch schwerer, solche Gefühle überhaupt zu identifizieren. Wir dürfen nicht vergessen: Langeweile ist eine Emotion. Wie für andere Gefühle gilt, dass man den Umgang damit erst erlernen muss. Für Eltern ist es gut zu wissen, dass ihr Kind vielleicht etwas mehr Begleitung und Zeit braucht, um die notwendigen Kompetenzen zu erlangen.
Wer hält es schlechter aus, wenn sich Teenager langweilen: die Jugendlichen oder deren Eltern?
Es ist für Eltern nie leicht, zuzusehen, wenn sich ihre Kinder unwohl fühlen. Gerade in der Adoleszenz aber ist es wichtig, dass sich Jugendliche auch mal etwas winden in ihrer Langeweile. Wir müssen Heranwachsenden den Raum und die Zeit geben, auf eigene Ideen zu kommen. Das bedeutet aber auch für uns Erwachsene, sich vielleicht ein paar unbequemen Gefühlen stellen zu müssen. Schliesslich würden wir oft am liebsten gleich eingreifen.
Es ist ganz normal, dass Heranwachsende in ihrer Freizeit auch mal rumhängen.
Sie stellen in Ihrer Forschung aber auch immer wieder fest, dass Eltern massgeblich beeinflussen, ob sich ihr Kind in der Freizeit langweilt und wie gut es daraus herausfindet.
Wenn Kinder klein sind, unterstützen wir sie aktiver in ihrer Freizeitgestaltung und dabei, aus langweiligen Momenten wieder herauszufinden. Doch schon da können wir sie in die Suche nach Lösungen einbeziehen. Wenn sich eine meiner Töchter früher langweilte, fragte ich erst: Womit hast du denn bisher gespielt? Worauf hättest du Lust? Magst du mal im Zimmer nachschauen, was du dort findest? Je älter die Kinder werden, desto eher sollten sie in der Lage sein, diesen Prozess alleine zu durchlaufen.
Umso mehr, als Teenager nur noch mässig empfänglich sind für die Tipps ihrer Eltern ...
In der Adoleszenz wird unsere Begleitung natürlich indirekter. Eltern spielen aber weiterhin eine wichtige Rolle. So wissen wir aus der Langeweileforschung zum Beispiel, wie entscheidend ein breites Freizeitrepertoire für Jugendliche ist. Als Eltern können wir unsere Teenager immer wieder ermuntern, möglichst viele und ganz unterschiedliche Aktivitäten auszuprobieren. So finden sie auch in einem Moment, in dem es ihnen an Energie oder Lust fehlt, eher eine Beschäftigung, die ihnen Spass macht.

Wie steht es um die Balance zwischen strukturierter und unstrukturierter Freizeit? Wie gewähren Eltern ausreichend Freiraum, ohne dabei zu viel Platz für dumme Ideen einzuräumen?
Es ist ganz normal, dass Jugendliche in ihrer Freizeit auch mal rumhängen und Gleichaltrige nicht nur im Rahmen von strukturierten Aktivitäten oder in der Schule treffen wollen. Solche Auszeiten sind sehr wichtig. Es sind die unstrukturierten Momente, in denen Freundschaften entstehen und die Verbundenheit wächst. Das ist bei uns Erwachsenen nicht anders.
Ich möchte ausserdem dafür plädieren – und das sage ich in aller Fürsorge: Manchmal sollten wir unsere Kinder auch einfach machen lassen, ganz im Bewusstsein, dass dabei einiges schiefgehen kann; sollten wir Heranwachsenden helfen, aus ihren Fehlern zu lernen – im Wissen, dass ihre Fähigkeit zur langfristigen Planung noch nicht entwickelt ist; sollten wir ihnen ein Werkzeug für gute Lebensentscheidungen an die Hand geben, aber uns damit abfinden, dass wohl ein paar falsche Abzweigungen genommen werden.
Hier ein gutes Gleichgewicht zu finden, ist für Eltern oft alles andere als einfach.
Keine Frage, das ist so. Wie gross ist meine Marge für solche falschen Entscheidungen? Wo Jugendliche sich selbst und andere in Gefahr bringen oder mit dem Gesetz in Konflikt kommen, ist diese Grenze sicher erreicht. Doch wir müssen uns wohl mit dem Gedanken anfreunden, dass Teenager auf der Suche nach sich selbst auch ein paar Dinge tun, die ausserhalb unserer Komfortzone liegen.
Genau in der Oberstufe, wenn Heranwachsende mehr Autonomie brauchen, schränken wir ihren Bewegungsspielraum ein und entziehen Freiheiten.
Denn scheitern und all die Gefühle durchleben, die dazugehören, und sich dabei auch als widerstandsfähig erleben: Das sind gute und wichtige Entwicklungserfahrungen. Gleichzeitig sollten Eltern Bescheid wissen, wie Kinder ihre freie Zeit verbringen und mit wem. Denn etwas zeigt die Forschung ebenfalls klar: Wenn man sich mit Peers umgibt, die riskantes Verhalten an den Tag legen, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst irgendwann mitmacht.
Nun langweilen sich Jugendliche ja auch in der Schule. Die Wissenschaft zeigte bislang aber kaum Interesse am Thema. Dabei hat die Langeweile gerade hier langfristige Konsequenzen, wirkt sie sich doch auf den schulischen Erfolg aus.
Seit einigen Jahren nimmt das wissenschaftliche Interesse am Thema interessanterweise zu. Meiner Meinung nach hat Langeweile in der Schule viel damit zu tun, wie diese strukturiert ist, zumindest in den USA. Noch in der Grundschule haben Kinder hier viel unterrichtsfreie Zeit und viele Gelegenheiten, um frei zu spielen.
Ab der Sekundarstufe jedoch ist der Schulalltag auf einmal sehr stark strukturiert. Genau dann also, wenn Heranwachsende eigentlich mehr Autonomie fordern und brauchen, schränken wir ihren Bewegungsspielraum wieder ein und entziehen Freiheiten.
Das steht vollkommen im Widerspruch zu ihren entwicklungsspezifischen Bedürfnissen. Leider befasst sich die Forschung bisher aber vor allem damit, wie es Jugendlichen gelingt, ihre Langeweile produktiv umzumünzen – statt bei den Schulstrukturen anzusetzen.
Eine deutsche Studie zeigt aber genau das. Dass jene Jugendlichen, die Inhalte für sich aufwerten und interessant machen konnten, mehr Spass in der Schule und weniger leistungsbezogene Probleme hatten.
Natürlich soll man versuchen, langweiligen Situationen Sinn zu verleihen, davon hatten wir es ja auch in diesem Gespräch. Nur ist es für Jugendliche eine ganz schön anspruchsvolle Aufgabe, aus einer öden Schulstunde etwas zu machen, in dem sie die Bedeutung für ihr eigenes Leben erkennen. Wer sich sowieso schneller langweilt als andere, steht hier einmal mehr hintenan.








