Plötzlich fühlte sich Andrea Bättig wieder in diese Nächte zurückversetzt. In diese Nächte, in denen das Baby auf ihrem Arm einfach schrie, nicht aufhörte zu schreien, egal, was sie tat. Stillen, wiegen, wickeln, singen, streicheln – nichts half. Sie war machtlos.
Genauso war es jetzt wieder. Ihre Tochter war inzwischen 14, die durchgeschrienen Nächte in weiter Ferne, doch das Gefühl war dasselbe: absolute Machtlosigkeit. Während einer Autofahrt hatte die Tochter sich ihr anvertraut und davon erzählt, dass sie schon länger einen unerwiderten «Crush» auf einen Jungen habe. Seit diesem Moment wollte die Mutter nur eines: ihrer Tochter helfen, ihr den Schmerz nehmen.
Bloss wie? «Es war schwer auszuhalten», sagt Andrea Bättig. Sie musste akzeptieren, dass sie als Mutter gerade nicht mehr tun konnte, als für ihre Tochter da zu sein, sie mit ihrer Wut, Trauer, Verzweiflung nicht alleine zu lassen – so wie damals, als der Teenager noch ein Baby gewesen war.
Liebeskummer bleibt
Der erste Liebeskummer tut besonders weh. Nicht nur der eigene – auch derjenige der Kinder. Wenn Sohn oder Tochter sich ins Kinderzimmer zurückziehen, traurige Musik hören, keinen Appetit mehr haben, nicht mal auf Schoggipudding oder Glace, wenn sie unendlich traurig, verzweifelt oder wütend sind und nicht mehr in die Schule wollen – dann fühlen sich viele Eltern hilflos.
Sie sind es gewohnt, ihren Kindern so viele Steine wie möglich aus dem Weg zu räumen. Doch Liebeskummer lässt sich nicht einfach beiseiteschieben oder auf anderen Kanälen regeln, so wie früher, als das Kind in der Kita gebissen wurde – da konnte man wenigstens noch das Gespräch mit den Eltern des Angreifers suchen. Jetzt die Eltern des Ex-Freundes oder Schwarms anrufen? Undenkbar – oder, um es mit den Worten der Jugendlichen auszudrücken: «cringe».
Eltern sollten sich zusammenreissen, nicht zu viel nachbohren, aber trotzdem signalisieren: Ich bin für dich da.
Pia Brand, Familienpsychologin
Hinzu kommt: Auch das eigene Kind zeigt sich meist nur bedingt gesprächsbereit. Nicht selten stehen Eltern vor verschlossenen Zimmertüren. Statt sich im Arm von Mama oder Papa auszuweinen, vertraut sich der Nachwuchs lieber der besten Freundin oder dem besten Freund an – ein völlig altersgerechtes Verhalten. Aber eben auch eine schmerzhafte Erkenntnis, die Müttern und Vätern in der Pubertät häufiger begegnet: Sie sind nicht mehr die Nummer eins.
Verbundenheit herstellen
Gerade beim Thema Liebeskummer, wenn das Kind so offensichtlich leidet, trifft viele Eltern diese Einsicht mit voller Wucht, mitten ins Herz. Am liebsten würden sie ins Kinderzimmer stürmen, das Kind anflehen: Rede mit mir! Doch diesen Impuls sollte man dringend unterbinden, sagt die Familienpsychologin Pia Brand, deren Schwerpunkt die Pubertät ist. «Drängeln wirkt nur kontraproduktiv.»
Eltern sollten sich stattdessen lieber zusammenreissen, nicht zu viel nachbohren, aber trotzdem signalisieren: «Ich bin da für dich.» Soll heissen: Lieblingsessen kochen oder zusammen einen Film anschauen, wenn Tochter oder Sohn das wollen, ja. Direkt in die Beziehungs-Fehler-Analyse einsteigen, nein.
Hilfreich, so Brand, sei es auch, direkt zu fragen: Was würde dir gerade helfen? Reden oder Ablenkung? Jedem helfe schliesslich etwas anderes. «So kommen Eltern ausserdem gar nicht erst in die Versuchung, ungefragte Ratschläge zu geben.» Es gehe auch gar nicht darum, das «Richtige» zu sagen, sondern vor allem darum, eine Verbundenheit herzustellen. «Alles, was Nähe schafft, hilft», so Pia Brand.
Liebeskummer ernst nehmen
Das Gegenteil von Nähe, nämlich Distanz, entsteht, wenn Eltern den Liebeskummer nicht als Trauerprozess anerkennen, sondern kleinreden. Sprüche wie «Andere Mütter haben auch schöne Söhne» oder «Bis du heiratest, ist der Schmerz vorbei» sollten sich Eltern verkneifen, sagt Brand, da solche Sätze die Liebe und den Kummer ins Lächerliche zögen.
Das musste auch Andrea Bättig lernen. Zu erkennen, dass ihre 14-jährige Tochter nicht einfach nur einer «kleinen Schwärmerei» erlegen war, sondern ernsthaften Liebeskummer hatte, war für sie ein Lernprozess.
Nervig ist, dass man sich von Liebeskummer kaum ablenken kann. Das Gefühl kommt manchmal im völlig falschen Moment und wird plötzlich sehr stark.
Lara, 14
Nach ein paar Wochen sagte die Tochter ihr ins Gesicht, dass sie sich von ihr nicht ernst genommen fühle. Dass sie das Gefühl habe, ihre Mutter mache nur Spässe darüber und ziehe sie auf, dass sie doch noch zu jung für Liebeskummer sei. Andrea Bättig erschrak: «Ich wusste nicht, wie ernst sie verliebt war.» So kamen Mutter und Tochter ins Gespräch. Sie einigten sich schliesslich darauf, dass die Tochter jederzeit reden könne – aber nicht müsse.
Was brauchst du?
«Wenn Eltern es schaffen, zu zeigen, dass sie da sind, dann werden sich die Kinder auch öffnen», verspricht Brand. Sie hat das in ihrer Arbeit als Familienberaterin schon oft erlebt. Wichtig sei es, in dem Moment, in dem die Kinder sich öffnen, auch wirklich präsent zu sein. Alles stehen und liegen lassen, nicht aufs Handy schauen, das Kind einfach reden lassen. Ohne gleich Tipps zu geben, ohne zu widersprechen. «Wenn die Jugendlichen eine Tür aufmachen, sollte man sie nicht gleich wieder verschliessen.»
Neben dem Zuhören helfe vor allem eine Frage: Was brauchst du? Manchmal ist das auch einfach eine kleine Pause von der Schule. Denn dem Jungen, der einem so wehgetan hat, am nächsten Tag in der Pause über den Weg laufen? Das versetzt einen Stich, kann manchmal kaum aushaltbar erscheinen. Und überhaupt, wie soll man sich auf den Unterricht konzentrieren, wenn die Gedanken kreisen, die Sehnsucht das Gehirn zermartert?
Ängste akzeptieren
Hatte man als Paar dieselben Freunde, stellt sich ausserdem die Frage: Mit wem hänge ich nun in der Pause ab? Was passiert mit unserem Freundeskreis? Verliere ich mit meinem Ex-Freund nun auch noch meine Freunde? «Solche Ängste können Jugendlichen den Boden unter den Füssen wegreissen», sagt Pia Brand. Sie rät Eltern deshalb, die Ängste erst einmal zu akzeptieren und dem Teenie zu erlauben, zu Hause zu bleiben – ohne gleich die Ermahnung mitzuschicken, dass das ja kein Dauerzustand sein könne. Denn das wissen sie selbst.
Fragt man Jugendliche direkt, was aus ihrer Sicht am besten gegen ihren Herzschmerz hilft, sagt etwa die 14-jährige Lara: «Nicht wirklich viel.» Liebeskummer sei eben ein Gefühl und Gefühle gingen nun mal nicht einfach weg, die könne man nicht ausknipsen. «Besonders nervig ist daran, dass man sich davon kaum ablenken kann. Das Gefühl kommt manchmal im völlig falschen Moment und wird plötzlich sehr stark. Das kann in meinem Kopf für richtige Verwirrung sorgen.»
Die verflossene Liebe bleibt heute präsent: in den sozialen Medien, in Foto-Rückblicken, in den Statusmeldungen.
Mit ihren Freundinnen sprechen sei da noch das Beste. «Die verstehen mich eben meistens besser als die Eltern.» Ganz abgesehen davon, dass ihre Freundinnen den Jungen kennen, der schuld am Liebeskummer ist, und sie so ganz anders über ihre Gefühle reden kann. Was ihr ausserdem hilft: Taylor Swift, ihre Lieblingsmusik zum Aufmuntern oder ein bisschen Emo, wenn die Trauer sie überkommt. Und manchmal auch, den Jungen zu sehen. Aber nicht zu oft, sonst werde der Liebeskummer wieder schlimmer, sagt Lara.
Der Ex ist digital omnipräsent
Aus genau diesem Grund ist es für die heutigen Teenager viel schwieriger geworden als noch für ihre Eltern, Liebeskummer zu bewältigen. Den Jungen sehen – waren damit früher echte Begegnungen gemeint, begegnet Lara «dem Jungen» heute ständig: in den sozialen Medien, in automatisch generierten Rückblicken auf dem Handy, in den Statusmeldungen auf Whatsapp. Auch gemeinsame Fotos auf digitalen Kanälen lassen sich nicht mal eben mit einem Klick löschen und mit dem konsequenten Entfernen von alten Liebesnachrichten auf dem Smartphone tun sich viele Jugendliche ebenfalls schwer.
Viel grösser ist stattdessen die Verlockung, über die sozialen Netzwerke mal eben in Erfahrung zu bringen, was der oder die Ex gerade denkt, fühlt oder macht, wer einen vielleicht schon «ersetzt». Die grosse Liebe so vergessen? Unmöglich. Fast fühlt es sich manchmal an, als wäre man trotz Trennung noch zusammen.
Gerade Teenager, die früh in der Pubertät mit ihrer ersten grossen Liebe zusammengekommen sind, in einer Phase also, in der sie anfangen, sich abzunabeln und zu entdecken, wer sie sind, tun sich besonders schwer. Statt ein Wir gibt es jetzt plötzlich nur noch ein Ich. Aber wer ist das eigentlich?
Wieviel Liebeskummer ist normal?
Das Beste am Liebeskummer ist allerdings – und daran hat sich nichts geändert –, dass er irgendwann vergeht. Doch wie viel Trauer ist normal und wann sollten Eltern genauer hinschauen? Fachleute raten, dies nach etwa sechs Wochen zu tun, sollte gar keine Verbesserung erkennbar sein.
Alarmsignale seien auch, so Familienpsychologin Brand, wenn der oder die Jugendliche keine Lust mehr auf Dinge hat, die früher Spass gemacht haben, wenn er oder sie sich von allem zurückzieht, auch vom eigenen Freundeskreis, wenn die Noten sich dauerhaft verschlechtern oder der Appetit gar nicht mehr zurückkommt. Dann sollten Eltern sich nicht scheuen, Rat einzuholen von Beratungsstellen oder psychologischen Fachkräften. So wie sie früher auch mit dem schreienden Kind zur Schlafambulanz gegangen sind oder die Hebamme bei Milchstau um Rat gefragt haben.









