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Warum tickt mein Kind so aus?

Aus Ausgabe
12/01 Dezember/Januar 2025/2026
Lesedauer: 17 min
Schreien, beschimpfen, um sich schlagen, beissen und treten, Gegenstände durch die Luft schmeissen: Wenn Kinder rotsehen, sind ihre Bezugspersonen oft hilflos. Was ist da los? Und wie können Eltern und Lehrpersonen darauf reagieren?
Text: Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund 

Bilder: Désirée Good / 13 Photo

Wut ist ein angeborenes Gefühl mit einer wichtigen Funktion. Sie zeigt uns an, dass etwas nicht so ist, wie es aus unserer Sicht sein sollte, und bewegt uns dazu, unsere Grenzen zu wahren. Während Wutausbrüche bei Kleinkindern noch mehrmals täglich auftreten und zwischen zwei und vier Jahren ihren Höhepunkt erreichen, nehmen sie im Verlauf der Kindheit meist ab.

Mit zunehmender Reife lernen Kinder, ihre Gefühle besser wahrzunehmen und sich in andere hineinzuversetzen. Im Alltag entwickeln sie nach und nach Strategien, um Gefühle zu regulieren, aggressive Impulse zu hemmen, Konflikte und Probleme zu lösen, flexibler zu reagieren oder sich in Situationen abzuschirmen, in denen sie vielen Reizen ausgesetzt sind.

Wut zeigt uns an, dass etwas nicht so ist, wie es aus unserer Sicht sein sollte.

Verschiedene Ursachen

In diesen Bereichen entwickeln sich Kinder sehr unterschiedlich. Dabei spielen genetische Faktoren wie das angeborene Temperament, das familiäre Klima und das soziale Umfeld, Rollenvorbilder, Stressfaktoren wie Armut oder eine unsichere Umgebung oder Traumata eine Rolle, betont die Entwicklungspsychologin Tina Malti. Die Professorin lehrt und forscht an den Universitäten Leipzig und Toronto zu Aggression und Empathie.

Zudem haben Kinder im Autismus-Spektrum, mit einer ADHS oder Hochsensibilität oft grössere Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation. Wutausbrüche können also verschiedene Ursachen haben, denen man je nach Intensität und Leidensdruck auch mithilfe einer Fachperson auf den Grund gehen sollte.

Nachfolgend möchten wir den Fokus jedoch auf konkrete Hilfestellungen legen, die es Bezugs­personen erleichtern können, Wutausbrüche präventiv abzufedern, kritische Situationen zu entschärfen, Kinder und Jugendliche durch die Wut zu begleiten und mit ihnen gemeinsam Strategien für herausfordernde Situationen zu erarbeiten. Dabei gehen wir davon aus, dass emotionale Ausbrüche und aggressives Verhalten meist eine Überforderung zum Ausdruck bringen.

Auslöser erkennen

Oft haben Erwachsene den Eindruck, emotionale Ausbrüche eines Kindes kämen aus dem Nichts. Betrachten wir hitzige Situationen jedoch mit einem Forscherblick, können wir oft wiederkehrende Muster entdecken.

Hierfür lohnt es sich, einige Tage lang jeden Ausbruch schriftlich zu dokumentieren. Anschliessend können wir uns fragen: Was haben diese Situationen gemeinsam? Welche Zusammenhänge werden deutlich?

Präventiv kann man sehr viel tun, um emotionale Ausbrüche abzufangen.

Stefanie Burkert, Sonderschullehrerin

Vielleicht bemerken wir, dass ein Kind zu bestimmten Tageszeiten schneller aus dem Gleichgewicht gerät. Reagiert es stark auf Hunger und wird schneller wütend, wenn die letzte Mahlzeit länger her ist? Ist es jeweils nach der Schule überreizt und rastet aus, wenn es direkt mit Fragen nach Hausaufgaben belagert wird?

Kommt es regelmässig zur Eskalation, wenn es morgens geweckt wird und sich selbständig anziehen, im Bad fertig machen und noch schnell den Turnsack packen soll? Manche Kinder sind auch sensorisch rasch überreizt. Grosse Gruppen, viel Lärm, Licht oder ein kratziger Pullover bringen sie an ihre Grenzen.

Lässt sich diese Situation verändern?

Vielleicht merkt man aber auch, dass das Kind nicht mit plötzlichen Planänderungen umgehen kann, es besonders schlimm findet, wenn es in einem Spiel verliert, von anderen zurückgewiesen wird oder sich in einer Situation wiederfindet, die an ein Trauma erinnert.

Erkennen wir spezifische Auslöser, können wir uns fragen: Lässt sich diese Situation verändern? Und was würde dem Kind helfen, besser mit den Anforderungen zurechtzukommen?

Stefanie Burkert, Lehrerin an der Tagessonderschule Intermezzo in Zürich, sagt dazu: «Präventiv kann man sehr viel tun, um emotionale Ausbrüche abzufangen. Ganz zentral ist Vorhersehbarkeit: Die Kinder müssen wissen, was sie erwartet, damit keine Unsicherheit entsteht.»

Andrea*, 39, ist Lehrerin und lebt ­mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen (8 und 6 Jahre) im Kanton Thurgau. Die Erinnerungen an ein Elternhaus voller Aggression wirken bis heute nach.

Kleine Anpassungen können viel bewirken

Dazu gehören beispielsweise feste Rituale zum Beginn und Abschluss des Unterrichts, eine Übersicht über anstehende Aufgaben und Aktivitäten in Form eines visualisierten Tagesplans sowie viel Klarheit: Wo sitze ich? Wo ist mein Material? Was wird von mir erwartet? Wer kann mir helfen, wenn ich nicht weiterkomme?

Oft sind es kleine Anpassungen, die Kindern Entlastung bieten: ein Gehörschutz, Rückzugsorte, Ruhezeiten, ein fixer Arbeitsplatz in der Schule, bekannte Abläufe, ein kleiner Zwischensnack zur richtigen Zeit.

Wenn Jugendliche ihren «Point of no Return» kennen, können sie dem Strudel eher noch entkommen.

Yves Linder, Psychotherapeut

Die Kinder miteinbeziehen

Malina, Mutter eines siebenjährigen Jungen mit ADHS, die in diesem Dossier die Geschichte ihres Sohnes erzählt, konnte die schwierigsten Situationen in der Schule mithilfe der Lehrkräfte entschärfen: «Mein Sohn darf als Erster oder Letzter in die Garderobe vor dem Schulzimmer, damit er mehr Ruhe hat und nicht in Konflikte geraten kann, wenn es ihm zu laut oder zu eng ist. Seither geht es besser, er findet mehr Anschluss.»

Oft können auch die Kinder selbst solche Auslöser benennen. Damit sie sich auf diese Gespräche einlassen, braucht es etwas Abstand und viel Fingerspitzengefühl, wie Dario Petrelli hervorhebt, der als Psychotherapeut in Bern mit Kindern arbeitet, die sich aggressiv verhalten: «Viele Kinder schämen sich für ihre Ausbrüche. Dann ist es wichtig, den Blick vom Kind wegzulenken. Ich nutze dafür gerne ein Whiteboard und lade die Kinder ein, wie Detektive nach den Ursachen zu suchen. Dabei frage ich: Wie hat es diese Situation geschafft, dich so aufzuwühlen? Fragt man stattdessen, warum das Kind so gehandelt hat, fühlt es sich schnell angeklagt. Wichtig ist auch, den Blick zu weiten und zu fragen: Was ist davor passiert – in der Schule, zu Hause? So erkennt das Kind: Es war nicht nur dieser eine Moment, sondern viele Dinge, die zusammengekommen sind und es überfordert haben.»

Wie ein Staubsauger

Viele Kinder und Jugendliche, die mit emotionalen Ausbrüchen und aggressivem Verhalten kämpfen, erleben ihre Wut ab einem bestimmten Punkt als unkontrollierbar und fühlen sich ihr hilflos ausgeliefert. Umso wichtiger ist es, frühzeitig erste Warnsignale zu erkennen und diese ernst zu nehmen.

Auch der Berner Psychotherapeut Yves Linder kennt solche Fälle. Er erklärt: «Ich arbeite mit Jugendlichen daran, ihren persönlichen «Point of no Return» zu erkennen – diesen Moment, in dem Emotionen so stark werden, dass kaum noch Steuerung möglich ist. Wir vergleichen das mit einem Staubsauger: Je näher man dem Rohr kommt, desto stärker wird der Sog und desto schwieriger wird es, gegenzusteuern. Wir zeichnen einen Zeitstrahl und achten darauf, welche Warnsignale zuerst auftauchen. Das können Gedanken, Körperempfindungen, Gefühle oder Handlungen sein. Die frühen Warnzeichen sind wichtig, weil man dem Strudel da noch entkommen kann.»

Ich halte Abstand zum ­tobenden Kind und versperre ihm nie den Weg, damit es sich nicht bedroht fühlt.

Julia Gontersweiler, Sozialpädagogin

Ausgehend davon wird in der Therapie ein Ideenpool zum Spannungsabbau erarbeitet, der sich an den Interessen der Kinder und Jugendlichen orientiert – seien das Bewegung, Entspannungsübungen oder eine kreative Tätigkeit.

Warnzeichen auf die Spur kommen

Auch für Bezugspersonen ist es wertvoll, die frühen Warnzeichen des Kindes zu erkennen. Diese können ganz unterschiedlich aussehen. Manchen Kindern und Jugendlichen sieht man die körperliche Anspannung gut an: Sie pressen den Kiefer aufeinander, ballen die Fäuste oder schnauben.

Manche beginnen zu sticheln, rempeln das Geschwister «versehentlich» an oder versetzen einem unter dem Tisch einen Tritt ans Schienbein. Andere wenden den Blick oder Körper ab oder ziehen sich zurück. Manchmal deuten auch typische Aussagen wie «Alle sind gegen mich!», «Das ist unfair!» oder «Immer ich!» auf eine grosse Anspannung hin.

Wut und Aggressionen bei Kindern: Ein Mädchen und ein Junge raufen.
Wenn ein Kind in seiner Wut auf andere losgeht, schlägt, tritt und beisst, sollte Sicherheit die Maxime sein.

Je früher man auf diese Warnzeichen reagiert, desto eher lassen sich Kinder und Jugendliche noch auf Vorschläge ein wie «Willst du kurz aufs Trampolin?» oder «Ist grad ein bisschen viel. Willst du dich ein wenig ausruhen und im Zimmer ein Hörspiel oder Musik hören?».

Oft lässt sich die Eskalation verhindern, wenn wir in diesen Momenten auf zusätzliche Forderungen und Grundsatzdiskussionen verzichten.

Was tun, wenn es knallt?

Doch nicht jeder Ausbruch lässt sich vermeiden. Wenn das Kind schreit, wütet, tobt, um sich schlägt oder Gegenstände kaputt macht, der Jugendliche einem Beleidigungen entgegenschmettert, die Tür zuknallt und sich im Zimmer verbarrikadiert, lässt sich der Ausbruch kaum mehr aufhalten oder die Situation klären. Vielmehr geht es nun darum, die Eskalationsspirale nicht weiter anzuheizen. Dazu können wir auf mehrere Punkte achten.

1. Für Sicherheit sorgen

Wenn ein Kind in seiner Wut auf andere losgeht, schlägt, tritt und beisst oder das Wohnzimmer zerlegt, sollte Sicherheit die Maxime sein. Das kann heissen, Geschwisterkinder in einem anderen Raum in Sicherheit zu bringen und wertvolle Gegenstände ausser Griffweite zu legen.

Manchmal kommen Eltern oder Lehrkräfte nicht darum herum, ein Kind festzuhalten, um sich oder andere zu schützen. In der Wut festgehalten zu werden, führt aber meist unmittelbar zu einer massiven Gegenwehr oder Panikreaktion des Kindes. Deswegen sollte man dies nur im absoluten Notfall tun. Halten Sie das Kind, wenn überhaupt, nur ein, zwei Sekunden lang fest und lassen Sie es dann los.

Wir können dem Kind vermitteln: Ich bin da, aber ich dränge mich dir nicht auf.

Sonderschullehrer und Schulberater Sammy Frey schlägt vor, das Kind nur an den Händen zu nehmen und eine schnelle Kreisbewegung auszuführen, um das Kind aus seinem Strudel zu befreien. Geben Sie ihm jetzt einen Moment Zeit, um sich zu fangen. Wichtig ist dabei die Haltung: Ich will dich nicht überwältigen. Ich kann einfach nicht zulassen, dass du andere verletzt – und ich lasse dich sofort los, wenn du nicht mehr schlägst.

Lehrerin Stefanie Burkert betont auch, wie wichtig es ist, sich in diesem Moment jemanden zu Hilfe zu holen. Je nach Schule kann dies eine sozialpädagogische oder heilpädagogische Fachperson, eine Lehrperson, die Schulleitung, Schulsozialarbeitende oder eine Klassenassistenz sein.

Als Elternteil ist man in dieser Situation meist die einzige erwachsene Person im Raum. Sobald das Kind etwas älter und körperlich kräftiger wird, werden diese Momente auch für Eltern bedrohlich. Till Schnittfeld, Facharzt für forensische Kinder- und Jugendpsychia­trie, erlebt immer wieder, dass Eltern Angst vor dem Kind haben: «Das kann toxisch für die Eltern-Kind-Beziehung sein. Und auch für das Kind kann es beängstigend und verunsichernd wirken, wenn es dies spürt. Daraus können Glaubenssätze entstehen wie: Was bin ich für ein Unmensch, dass meine Eltern Angst vor mir haben müssen? Das kann der Identitätsentwicklung schaden. In diesem Fall kann psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe sinnvoll sein.»

2. Raum geben

Während eines Wutausbruchs stehen Kinder unter Strom, sind überreizt und nicht mehr aufnahmefähig. Jede Berührung, jedes Wort, jeder zusätzliche Reiz kann den Ausbruch verschlimmern.

Das beobachtet auch die Sozialpädagogin Julia Gontersweiler. Sie unterrichtet in der Unter- und Mittelstufe Kinder mit sozialen und emotionalen Auffälligkeiten und beschreibt, worauf Eltern und Lehrkräfte in eskalierenden Situationen achten können: «Ich halte Abstand zum Kind und versperre ihm nie den Weg, damit es sich nicht bedroht fühlt. Ich schaue, dass ich entspannt stehe und mich ruhig bewege. Eine seitliche Körperhaltung einzunehmen, wirkt weniger bedrohlich. Kann ich davon ausgehen, dass ich nicht selbst angegriffen werde, setze ich mich häufig auf den Boden. Dadurch wirke ich kleiner und das Kind muss keine Angst ­haben, dass ich mich abrupt ­nähere. Ich schaue nicht die ganze Zeit zu ihm, sondern auch in eine andere oder die gleiche Richtung. Ich drehe mich jedoch nie mit dem Rücken zum Kind, sondern habe es immer im Blick.»

Wut und Aggressionen bei Kindern: Ein Junge versteckt sich hinter einem Vorhang und hält seinen Plüsch-Elefanten am Rüssel.
Malina, 35, ist Geografin und lebt mit ihrem Mann, 42, ihrem Sohn, 7, und ihrer Tochter, 4, im Kanton Zürich. Sie hat inzwischen gelernt, wie sie mit den Wutausbrüchen ihres Kindes umgehen kann.

Manche Kinder und Jugendliche können sich besser regulieren, wenn sie sich zurückziehen dürfen: Sie schlüpfen in der Schule unter ein Pult oder verstecken sich daheim unter der Bettdecke oder im Schrank.

Als Erwachsene können wir Kindern vermitteln: «Ich bin da, aber ich dränge mich dir nicht auf.» Das bedeutet auch, die Grenzen des Kindes zu respektieren. Wenn ein Kind Distanz von uns braucht, dann sollten wir ihm diese gewähren.

3. Den Kontext wechseln

Oft ist es entlastend, wenn das Kind die Situation verlassen kann, die den Ausbruch provoziert hat. Hat man dies vorher abgesprochen, kann man es an einen zuvor definierten Rückzugsort führen. Dort kann es sich gemeinsam mit einer Bezugsperson oder alleine beruhigen – je nachdem, was dem Kind mehr hilft.

Man kann ihm auch Aktivitäten ­anbieten, die ihm dabei helfen, sich zu regulieren. Vielleicht möchte das Kind seinen Interessen nachgehen, also zum Beispiel in Ruhe basteln oder Lego bauen, Musik hören oder eine Entspannungsübung machen.

Stresshormone können auch schneller abgebaut werden, wenn möglichst grosse Muskelgruppen bewegt werden; wenn man hüpft, rennt, sich ausschüttelt oder tanzt. Weniger sinnvoll ist das häufig empfohlene Abreagieren am Boxsack oder das Schlagen ins Kissen. Einzelne Studien zeigen, dass dadurch die Verknüpfung zwischen Wut und aggressiven Handlungen verstärkt wird.

4. Selbst ruhig bleiben

Kinder können sich besser regulieren, wenn wir selbst Ruhe und Sicherheit ausstrahlen. Julia Gontersweiler sagt dazu: «Es ist wichtig, ruhig zu atmen und das Kind mit entspannter Stimme anzusprechen. Wenn wir es mit lauter oder gestresster Stimme ansprechen, geben wir ihm keine Möglichkeit, seinen Stress zu reduzieren – im Gegenteil.»

Gewalt ist meist der Versuch, Kontrolle über eine Situation zu erlangen, die man nicht mehr im Griff hat.

Till Schnittfeld, Kinder- und Jugendpsychiater

Es hilft Kindern, wenn sie vonseiten ihrer Bezugspersonen spüren: «Ich bin da, kann mit deinen Gefühlen umgehen und habe keine Angst davor.» Ruhig zu bleiben, heisst auch, möglichst wenig zu sprechen und keinesfalls in einem sanft säuselnden Tonfall auf das Kind einzureden.

Was kindliche Wut bei Eltern auslösen kann

All das ist für die meisten Eltern eine enorme Herausforderung. Die Wut eines Kindes überflutet einen oft wie eine Welle und löst bei uns Erwachsenen eine Fülle von Gefühlen aus: Ärger, Unsicherheit, Hilflosigkeit, vielleicht auch Scham und Angst. Es kann uns Sicherheit spenden, wenn wir uns ­innerlich auf solche Situationen vorbereiten und vielleicht sogar schriftlich festhalten, wie wir in Zukunft reagieren wollen.

In der Akutsituation hilft es auch, uns zu vergegenwärtigen, dass wir das Problem nicht jetzt klären oder lösen müssen, sondern dass es nun ausschliesslich darum geht, die Welle auszureiten, bis die Gefühle verebben. Dieser Weg kostet unheimlich viel Energie und kann nicht immer eingelöst werden.

Gewalt aus Überforderung

Wenn die Gefühlsstrudel aber so intensiv sind, dass man als Elternteil ausser Kontrolle gerät, muss man handeln, wie Till Schnittfeld betont: «Gewalt ist meist der Versuch, Kontrolle über eine Situation zu erlangen, die man nicht mehr im Griff hat. Wenn ich Eltern in der Praxis habe, die ihr Kind schlagen, sind das keine bösen Menschen. Sie sind oft überfordert, weil sie sich beispielsweise so in die Enge getrieben fühlen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. In solchen Fällen braucht es unbedingt die Möglichkeit, in einem nicht verurteilenden Rahmen über die Vorfälle zu sprechen. Hier kann professionelle Unterstützung sinnvoll sein.»

Man sollte dem Kind oder Jugendlichen Verständnis entgegenbringen, ohne sein aggressives Verhalten zu verharmlosen.

Ausbrüche nachbesprechen

Die Gemüter haben sich endlich ­beruhigt, als Bezugsperson ist man erleichtert. Jetzt würde man am liebsten zur Tagesordnung übergehen und den Vorfall hinter sich lassen. Auch Kinder und Jugendliche haben verständlicherweise oft gar keine Lust, am Abend oder am nächsten Tag auf ihren Ausbruch zurückzukommen.

Aber gerade wenn Kinder und Jugendliche regelmässig die Beherrschung verlieren und sich selbst und anderen damit schaden, ist es wichtig, die fehlenden Kompetenzen aufzubauen und mit dem Kind immer wieder zu besprechen: «Wie willst du beim nächsten Mal reagieren, wenn wieder eine ähnliche Situation auftaucht? Was könnte dir dabei helfen?»

Wut und Aggression bei Kindern: Eine Mutter sitzt am Bettrand und redet mit ihrem Kind.
«Was würde der Bär dazu sagen?» Wenn Kinder und Jugendliche Gespräche abblocken, bringt uns manchmal ein indirekter Weg weiter, zum Beispiel mithilfe einer Tierfigur.

Hier ist es wichtig, dem Kind oder Jugendlichen Verständnis und Wertschätzung entgegenzubringen – ohne das aggressive Verhalten zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Psychotherapeut Yves Linder betont: «Wenn die Jugendlichen merken, dass ich sie zu hundert Prozent wertschätze, dann darf ich auch ganz offen und direkt sein. Ich sage dann auch mal klar: Darf ich ehrlich zu dir sein? Ich habe den Eindruck, dass dein Verhalten nicht böse gemeint war. Denn ich spüre ganz genau, du bist ein guter Mensch. Aber du hast in der Vergangenheit einige schlechte Entscheidungen getroffen, die dich oder andere in Probleme gebracht haben. Jetzt sind wir zusammen hier, damit das in Zukunft nicht mehr vorkommt.»

Mit Kindern ins Gespräch kommen

Wenn Kinder und Jugendliche Gespräche abblocken, bringt uns manchmal ein indirekter Weg weiter. Bei jüngeren Kindern kann eine ähnliche Situation mit Figuren im Spiel nachgestellt und dann gefragt werden: «Was könnte der kleine Wolf jetzt tun? Könnte ihm jemand dabei helfen?»

Bei älteren Kindern bieten persönliche Geschichten aus der eigenen Kindheit einen guten Anknüpfungspunkt: «Habe ich dir eigentlich schon mal die Geschichte erzählt, als ich im Unterricht meinen Lehrer angeschrien habe?» Auch Filme, Dokus oder Bücher, in denen ein Kind ähnliche Schwierigkeiten erlebt, können ein Türöffner sein für Fragen wie: «Was hat ihn/sie wohl so wütend gemacht? Was hätte dieses Kind gebraucht?»

Wir sollten immer auch überprüfen, ob wichtige Grundbedürfnisse, etwa nach Bindung oder Autonomie, zu wenig berücksichtigt wurden.

Bei diesen Nachgesprächen sollte es nicht nur darum gehen, wie das Kind zukünftig reagieren könnte und was es dabei unterstützt. Wir sollten immer auch überprüfen, ob wichtige Grundbedürfnisse nach Bindung und Beziehung, Selbstwirksamkeit, Autonomie, Schutz des Selbstwerts oder Sicherheit zu wenig berücksichtigt wurden.

Ein berührendes Beispiel

Das ist auch Dario Petrelli wichtig. Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut erinnert sich in diesem Zusammenhang an einen besonders berührenden Fall: «Ich hatte diesen Jungen in der Spieltherapie, der häufig aggressive Ausbrüche hatte und sich anfangs nur destruktiv und aggressiv im Spiel ausdrückte. Wenn er mit Autos spielte, endeten die Szenen stets in schweren Unfällen oder mit dem Tod. Bei den Tierfiguren griff eines alle anderen an – oder alle starben. Schrittweise konnten wir dieses Muster im Spiel auflösen. Plötzlich konnte mir der Junge mithilfe eines kleinen Panthers zeigen, was ihm wirklich fehlte: dass man sich um ihn kümmert, ihm Zuwendung, Pflege und Streicheleinheiten schenkt.»

Dario Petrelli ergänzt: «Es wurde deutlich, was dieser Junge im Innersten brauchte. Durch das Tier konnte er es vielleicht mit weniger Scham ausdrücken und im Spiel zulassen, dass der Panther von anderen Tieren umsorgt wird. Nach und nach öffnete er sich immer mehr – auch für echte Beziehungsangebote im Alltag. Seine Mutter spürte diese Veränderung ebenfalls und erkannte: Mein Kind liebt mich und ich kann diese Liebe annehmen und zurückgeben.»

Wo Eltern Hilfe finden

  • Elternnotruf: Kostenlose 24-Stunden-Hotline für Eltern in herausfordernden Situationen, Telefon 0848 354 555
  • Website des schulpsychologischen Diensts, der regional organisiert kostenlose Beratungen bei schulischen und erzieherischen Fragestellungen für Bezugspersonen von Schulkindern anbietet.
  • Regionale, thematische Suche nach Psychotherapeutinnen und -therapeuten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
  • Anlaufstelle für jugendliche und erwachsene männliche Personen hinsichtlich Aggressionsproblemen und Gewalt.
  • Kokon: Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit 24-Stunden-Hotline:
  • Elternberatung der Pro Juventute