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Wo Kinder Erfinder sein dürfen

Lesedauer: 9 Minuten

Was macht Kinder kreativ? Und warum ist das wichtig? Eine Innovationswerkstatt in Basel lässt Schülerinnen und Schüler eigene Lösungen finden.

Text: Bianca Fritz
Bilder: Christian Aeberhard / 13Photo

«Kinder, was nervt euch im Alltag?» Sadija und Lukas haben darauf eine klare Antwort: Sie wollen nicht immer so müde sein. Aber was können sie als Neunjährige tun, um dieses Problem zu lösen? Etwa auf die Eltern hören und früher ins Bett gehen? Nein, danke. Das muss anders gehen.

Nach vier Projekttagen im «Creative Kids»-Edulab in Basel haben die beiden Viertklässler ihre eigene Lösung ausgetüftelt und einen Prototyp entwickelt: Es ist eine Art Glücksrad, an dem sie oder die Eltern abends drehen können. Und je nachdem, wo die Nase hängen bleibt, heisst es dann: «In 20 Minuten» oder «um 19.30 Uhr» oder auch mal «sofort ins Bett». Was das Rad sagt, gilt. Und ist viel leichter zu akzeptieren, als wenn einen die Eltern ins Bett schicken.

Denken wie im Silicon Valley

Um vom Problem «Müdigkeit» zu dieser spielerischen Lösung zu kommen, braucht es kreative Denkarbeit und viele Zwischenschritte. Dafür lernen die Kinder der Klasse 4e des Schulhauses Gellert in Basel in einer Projektwoche ausserhalb der Schule im Edulab die Methode des «Design Thinking». Das ist eine Methode, die man aus der Wirtschaft kennt und die besonders im Silicon Valley beliebt ist.

Das ist so cool hier, ich will am liebsten gar nicht mehr in die Schule.

Ellen, 4. Klasse

Im Edulab wird Design Thinking kindgerecht vermittelt. Damit sollen die Kinder im kreativen Denken gestärkt werden und eigene Lösungen entwickeln. Matt Knaus, einer der Coaches im Edulab, erklärt: «Wir fragen nach dem Problem, das die Ursache für das bereits bekannte Problem ist. Wir fragen so oft warum, bis wir bei einem Problem angelangt sind, für das die Kinder Lösungsvorschläge sammeln können.»

Ein Problem – verschiedene Lösungswege

Im Falle von Sadija und Lukas klingt das etwa so:
«Ich bin ständig müde.»
«Warum?»
«Weil ich nicht genug schlafe.»
«Warum?»
«Ich komme nicht ins Bett.»
«Warum?»
«Weil es mich nervt, dass meine Eltern alles bestimmen.»
«Aha! Was könnte man hier tun?»

Die Lösungswege und Lösungsvorschläge können dabei ganz unterschiedlich aussehen, auch wenn viele Kinder die gleichen Probleme behandeln. «Müdigkeit, Streit in der Familie und das Schulessen, das nicht schmeckt – diese Sachen kommen immer wieder», sagt Knaus.

Was ist Design Thinking?

Design Thinking wird in vielen Branchen angewandt, um kreative Lösungen für ein konkretes Problem zu finden. Bei dieser Methode werden zunächst die Bedürfnisse ermittelt, die dem Problem zugrunde liegen. Eine hilfreiche Frage in dieser Phase lautet: «Wann sieht die Person, für die wir die Lösung finden, das Problem als gelöst an?» Anschliessend werden möglichst viele Lösungsansätze gesammelt.

Der Prozess wechselt ab zwischen sehr strukturierten Phasen und solchen, in denen Ideen frei gebrainstormt werden. Die Phase der Ideenfindung ist strikt getrennt von der Bewertung der Ideen nach klaren Kriterien. Anschliessend entstehen Prototypen für mögliche Lösungen, die wiederum getestet und verbessert werden. Die Idee ist, dass man alle am Prozess Beteiligten direkt mit einbezieht, damit man nicht an ihren Bedürfnissen vorbeientwickelt, sondern den Menschen und seine Bedürfnisse ins Zentrum stellt.

Auch Ellen, Lia und Stella haben das Problem «Müdigkeit» ausgewählt. Gerade kleben sie mit der Heissleimpistole Pandaohren auf ihren freundlichen Wecker. Dieser ist nicht nur wunderbar bunt, er spielt auch die Lieblingsmusik und kitzelt einen mit einer weichen Feder wach. «Das ist so cool hier, ich will am liebsten gar nicht mehr in die Schule», sagt Ellen.

Dabei ist der Prozess, den die Kinder hier durchlaufen, alles andere als einfach. Neben der Problemlösung lernen die Kinder im Edulab viel über Kommunikation und Entscheidungsprozesse. Dem Thema Teamarbeit wird dabei viel Raum gegeben. Die Kinder überlegen selbst, wie sie miteinander reden möchten, welche Regeln sie aufstellen und wie jedes Teammitglied seine eigenen Fähigkeiten mit einbringt. Da fliegen auch mal die Fetzen.

Lehrer Daniel Stoll geht lächelnd von Tisch zu Tisch, wo die Kinder seiner Klasse bauen, kleben und Konzepte diskutieren. «Im Schulalltag fehlt für diese Art von Denken oft die Zeit. Und auch räumlich ist es schwierig. Man kann ja nicht einfach mal so in den Werkraum gehen, um etwas auszuprobieren. Der ist ja für gewöhnlich besetzt.»

Das Fehlen geeigneter Räume für kreatives Arbeiten war es auch, das die Gründerin von Creative Kids auf die Idee für das Edulab brachte. Monika Schatte ist ursprünglich Architektin. Sie hat gesehen, wie offene Workspaces in der Wirtschaft zur Kreativität der Mitarbeitenden beitragen. Und hat das aufs Lernumfeld übertragen.

Wir können viel schneller und flexibler auf neue Veränderungen reagieren als Schulen.

Monika Schatte, Gründerin von Creative Kids

Dafür hat die Non-Profit-Organisation Creative Kids Räume in Basel gemietet und so ausgebaut, dass Kinder und Jugendliche zu innovativen Lösungen angeregt werden und diese direkt umsetzen können. Es gibt hier Ecken zum Werken, beschreibbare Wände, iPads, Lego und ein Studio für Filmdrehs.

Und mit wenigen Handgriffen lässt sich alles so umräumen, dass Platz für Lernnischen, die Abschluss-Präsentationen und das freie Spiel entsteht. Morgens lädt das Edulab Schulklassen ein. Am Nachmittag stehen die Coaches jungen Menschen zur Seite, die eigene Projektideen umsetzen möchten.

Alle Kinder finden andere Lösungen, um das Problem «Müdigkeit» kreativ anzugehen.

Obwohl Creative Kids noch so etwas wie ein Geheimtipp unter Lehrpersonen ist, ist die Innovationswerkstatt für Kinder bereits Monate im Voraus ausgebucht. Im August 2020 sind die ersten Gruppen in Basel gestartet, seit letztem Sommer gibt es ein zusätzliches Edulab in Thun. Und die vielen Schulklassen, die aus anderen Kantonen anreisen, zeigen, dass noch mehr Bedarf besteht.

Kein Wunder: Von einem solchen Lernumfeld können viele Schulhäuser nur träumen. «Wir können viel schneller und flexibler auf neue Veränderungen reagieren als Schulen. Im Schulumfeld treffen einfach viel mehr Bedürfnisse aufeinander», sagt Schatte.

Tatsächlich lässt sich schwer vorstellen, wie so viel Freiheit in den Schulalltag integriert werden könnte. Dafür muss man zunächst einen Schritt zurücktreten und sich fragen: Was macht Kreativität überhaupt aus?

Was macht Kreativität aus?

Kreativität ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Das schreiben zumindest Hirnforscher David Eagleman und der Komponist Anthony Brandt in ihrem Buch «Kreativität: Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft».

Wenn wir kreativ sind, wenden wir drei Techniken an: Wir verbiegen Vorhandenes, wir zerbrechen es oder wir verbinden Dinge anders.

So heisst es dort: «Unser grosser präfrontaler Kortex gibt uns eine Fähigkeit, die anderen Lebewesen fehlt: Wir können mehrere Optionen und Szenarien in unserem Kopf durchspielen. Und unsere kreativen Fähigkeiten sind fair verteilt: Kreativitätstests haben gezeigt, dass weder die kulturelle Herkunft noch die wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Familie die kreativen Fähigkeiten eines Kindes prägen. Wenn kreatives Denken gefördert wird, können wir also alle Genies werden!

Und genau diese Genies mit neuen Ideen braucht die Welt, um die grossen Herausforderungen zu lösen, mit denen wir derzeit konfrontiert sind – von der Digitalisierung bis hin zur Klimakrise. Gleichzeitig nehmen uns Maschinen all jene Arbeiten ab, die nach dem Schema F funktionieren. Wer auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft gefragt sein will, sollte also kreativ denken können.»

Die Räume des Edulab lassen sich für verschiedene Bedürfnisse ganz einfach umbauen.

Was bedeutet das für den Lehrplan? Sollten wir kein Wissen mehr vermitteln und Kinder nur noch tüfteln und zeichnen lassen? Auch wenn das der Viertklässlerin Ellen aus Basel wohl gefallen würde: Einen solch radikalen Schritt lehnen Eagleman und Brandt ab. Denn Ideen entstehen nie aus dem luftleeren Raum.

Wissen und Kreativität gehören zusammen. Wir greifen immer auf unser Wissen und unsere Erfahrung zurück, wenn wir Neues schaffen, so die Autoren. Ein eindeutiger Beleg dafür ist die Grafikerin Lonni Sue Johnson, die als erfolgreiche Künstlerin unter anderem die Titelseiten für den «New Yorker» gestaltete – bis sie aufgrund einer Infektion im Jahr 2007 ihr Gedächtnis verlor. Ab diesem Moment konnte sie nicht mehr zeichnen. Ihr fehlten die Vorlagen, die sie hätte verändern können.

Buchtipp
Kreative Kinder

Annette Gröbly, Andrea Syz: Kreative Kinder. Mit 55 Ideen zum freien Gestalten. AT Verlag 2022, 160 Seiten, 30 Fr.

kreative Kinder

 

Wie regt man Kinder daheim zum freien Gestalten an? Das Buch «Kreative Kinder. Mit 55 Ideen zum freien Gestalten» zeigt es – mit jeder Menge praktischer Tipps und richtig coolen Bastelideen.

So werden zum Beispiel aus Tabletten-Blistern Wackelaugen und aus einem Schuhkarton eine Spiegelbox, in der man spiegelverkehrt zeichnet. Daneben erklären die Autorinnen, wie man Kinderwerke so ausstellt, dass sich Kinder geachtet fühlen und man trotzdem auch immer wieder aussortieren darf. Abgerundet wird das bunte Buch mit Tipps, wie Eltern ihre Kinder immer wieder zum Kreativsein motivieren können und wie sie über Kunstwerke sprechen, ohne diese zu bewerten.

Wenn wir kreativ sind, greifen wir auf Bekanntes zurück und verändern es. Eagleman und Brandt sagen, dass wir dafür grundsätzlich drei Techniken anwenden: Wir verbiegen beziehungsweise verändern das Vorhandene, wir zerbrechen es und durch das Weglassen entsteht Neues oder wir verbinden Dinge, die bisher nicht zusammengehört haben.

Ein Beispiel für das Biegen sind Salvador Dalís berühmte schmelzende Uhren. Ohne unsere Fähigkeit, Dinge wegzulassen, wären nie Smartphones ohne Tasten entstanden. Und die Strassenkunst des anonymen Künstlers Banksy irritiert uns und macht uns nachdenklich, weil er Dinge zusammenführt, die nicht zusammengehören. Ein bekanntes Bild von ihm zeigt zum Beispiel einen maskierten Mann, der keine Handgranate wirft, sondern ausholt, um einen Blumenstrauss zu schleudern. Biegen, brechen, verbinden. Mehr braucht es nicht, um die Welt neu zu gestalten.

Bewertungen sind der Kreativitätskiller Nummer 1

Doch erlauben wir Kindern heute, sich der Welt so anzunähern? Ein Kreativitätshemmnis sind die ständigen Bewertungen. «Wir als Erwachsene meinen, die richtigen Lösungen für unsere Kinder zu kennen. Sich einen Kommentar wie ‹willst du das nicht lieber so machen› zu verkneifen, ist manchmal richtig anstrengend», erzählt Lehrer Daniel Stoll aus eigener Erfahrung. Auch Creative-Kids-Gründerin Monika Schatte sagt: «Es ist so wichtig, dass wir die Kinder darin unterstützen, ihre Lösungswege zu finden und sie auf ihrem Weg motivieren.»

Wenn Kinder immer wieder erfahren, dass «anders» als «falsch» bewertet wird, ist für sie das Risiko, kreativ zu sein, schlichtweg zu gross. Die Psychologin Carol Dweck zeigte in einem Experiment, dass Kinder, die für ihren Einsatz gelobt werden, sehr viel eher bereit sind, sich auf eine schwierige neue Aufgabe einzulassen, als diejenigen, die für ihr Ergebnis gelobt wurden. Das ist logisch: Für die Ergebnis-Gruppe steht mehr auf dem Spiel. Sie könnten ja beim nächsten Mal falsch liegen.

Kreativität zu nutzen, ist anstrengend. Einem vorgegebenen Weg zu folgen, ist so viel einfacher, als einen eigenen Weg zu suchen.

In Schuldisziplinen wie Mathematik und Physik, wo es nur ein richtiges Ergebnis gibt, schlagen Eagleman und Brandt daher auch vor, Kinder zu ermuntern, verschiedene Lösungswege zu suchen. Mehrere Optionen zu finden, ist wichtiger Teil des kreativen Prozesses.

Die musischen Fächer wie Kunst oder Musik sind natürlich ein grossartiges Übungsfeld für das Finden vieler Optionen, weil dabei ganz viele «richtige» Lösungen nebeneinander existieren können. Aber auch hier gilt: Kreativität braucht Wissen und Erfahrung.

Auch Lego sollen die Kinder dazu anregen, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen.

Eagleman und Brandt empfehlen, dass Kinder zunächst die Techniken der Meister kennenlernen und ausprobieren. Danach können sie dazu aufgefordert werden, daraus etwas Eigenes zu schaffen. Mit der Frage «Was wäre Picassos nächstes Bild gewesen?» könnten Kinder dann Biegen, Brechen und Verbinden üben. «Eine musische Erziehung macht bessere Ingenieure», fassen es der Hirnforscher und der Komponist zusammen.

Aber geht einer Gesellschaft nicht auch etwas verloren, wenn Kreativität so instrumentalisiert wird? Wenn sie zur Ressource der Wirtschaft wird? Was ist mit Kreativität als Mittel des Selbstausdrucks in Kunst und Musik? Oder Kreativität nur so zum Spass?

Wie man motiviert bleibt, kreativ zu sein

Die Coaches bei Creative Kids kommen aus den unterschiedlichsten Berufszweigen. Dominik Mendelin ist ursprünglich Kunstpädagoge und arbeitet, wenn er nicht gerade im Edulab in Basel die Kinder coacht, in einem freien Kunstraum. Er sagt: «Tatsächlich ist das nur ein Problem, wenn man glaubt, dass Kreativität begrenzt ist. Aber die Ressource Kreativität ist unendlich.»

Kreativität mag nicht begrenzt sein. Sie zu nutzen, ist aber auch richtig anstrengend. Einem vorgegebenen Weg zu folgen, ist so viel einfacher, als einen eigenen Weg zu suchen. Sich auf die erste Idee zu stürzen, ist einfacher, als mehrere Optionen zu finden und auszuprobieren. Man sieht die Köpfe im Edulab fast rauchen. Auch deshalb gehören feste Pausenzeiten und Bewegungseinheiten zum kreativen Prozess.

Creative Kids und das Edulab

Creative Kids ist eine Non-Profit-Organisation, die Zukunftskompetenzen von Kindern und Jugendlichen fördert. Dafür werden Innovationsansätze wie zum Beispiel das Design Thinking genutzt. Die Edulabs sind Räume in Basel und Thun, in denen Schulklassen für eine Projektwoche vorbeikommen und Lösungen für eigene Problemstellung finden können.

Am Nachmittag öffnen die Innovationswerkstätten ihre Türen für Jugendliche, die an ihren eigenen Projekten arbeiten möchten. Weitere Edulabs sollen mit der Unterstützung des Migros-Pionierfonds aufgebaut werden.

www.creative-kids.org

Daneben braucht kreatives Schaffen eine starke Motivation. Es macht Kindern mehr Spass, Lösungen für Probleme zu finden, die sie als wichtig erachten. Noch besser ist es, wenn auch die Erwachsenen bei einem Problem noch im Dunkeln tappen. Denn dann fällt jegliche Gefahr weg, es «falsch» zu machen, so die Einschätzung der Coaches.

Auch ein Publikum oder ein Wettbewerb können motivieren. Eagleman und Brandt schreiben, dass es durchaus Sinn ergibt, dass die Kunstwerke der Kinder im Flur der Schule ausgehängt werden, Kinder auf Tüftlerwettbewerbe gehen oder Theaterstücke im Dorf vorgeführt werden und nicht nur in der Schulaula.

Eine Vielfalt an Lösungen zulassen

So schliesst auch die Woche für die Schülerinnen und Schüler im Edulab mit einer Präsentation ab. Die Teams stellen sich gegenseitig ihre Prototypen vor und staunen darüber, wie unterschiedlich ihre Lösungen für ein und dasselbe Problem aussehen.

Genau diese Vielfalt an Lösungen zuzulassen und darauf zu vertrauen, dass jedes Kind seinen Weg findet, ist es, was Creative-Kids-Gründerin Schatte Eltern rät: «Wir fördern Kreativität zum Beispiel, indem wir Kinder auf ihre Art Aufgaben zu Hause übernehmen lassen und keine Anforderungen daran stellen. Dies können kleine Alltagsprobleme wie Menüpläne, Wochenendausflüge oder einfach ein Znachtessen mit der entsprechenden Einkaufsliste sein.»

Bianca Fritz
Bianca Fritz ist freie Autorin und berät Selbständige und kleine Unternehmen in ihrem Social Media Marketing. Ein Gebiet, das besonders viel Selbstdisziplin und Achtsamkeit braucht.

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