Warum kannst du einfach nicht hören? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Warum kannst du einfach nicht hören?

Lesedauer: 6 Minuten

Wenn ein Kind auf Ansprache nicht oder verzögert reagiert, sich beim Schreiben schwertut oder Geräusche nicht orten kann, liegt das womöglich an einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung.

Text: Anja Lang
Bild: iStock/Plainpicture/Stocksy

Das Wichtigste in Kürze

  • Die auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS oder auch nur AWS) ist eine Störung der Wahrnehmung und Verarbeitung von ­Hörreizen im Gehirn, wobei das Hörorgan selbst einwandfrei funktioniert.
  • Weltweit sind schätzungsweise 2 bis 3 Prozent aller Menschen von einer AVWS betroffen.
  • Die genauen Ursachen liegen noch im Dunkeln, jedoch scheint die Vererbung eine gewisse Rolle zu spielen.
  • Zu den wichtigsten Symptomen zählen: Schallortungsprobleme; Schwierigkeiten, ähnlich klingende Buchstaben und Silben unterscheiden und entsprechend wiedergeben zu können; Probleme, Nutzschall von Störschall zu filtern; ein stark verkürzter auditiver Speicher.
  • Bei der Diagnose handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose. Sie ist erst ab einem Alter von mindestens acht Jahren möglich und sehr aufwendig.
  • AVWS kann nicht geheilt werden, jedoch helfen Therapien aus dem Bereich der Logopädie, um das Sprachverstehen und die Lautdiskriminierung zu verbessern. Praktische Tipps und Kniffe tragen dazu bei, die Defizite beim auditiven Speicher zu überbrücken. Wichtig und sehr hilfreich sind ausserdem bestimmte Verhaltensweisen bei Ansprache und Kommunikation sowie bauakustische Veränderungen, die darauf abzielen, den Störschall so niedrig wie möglich zu halten.
  • Die Diagnose AVWS ist noch relativ jung und wird in der Fachwelt teilweise kontrovers diskutiert. Zu den wichtigsten Kritikpunkten zählen mangelnde Trennschärfe zu bestehenden Entwicklungsstörungen und keine rein AVWS-spezifische Therapie.

Für Loris sind 20 Fehler und mehr im Diktat keine Seltenheit. Das ist frustrierend, denn der Drittklässler strengt sich sichtlich an, um seine Leistungen zu verbessern. Doch Wörter und ­Silben, die ähnlich klingen, kann Loris partout nicht unterscheiden. Auch vergisst er das Gesprochene schnell wieder. Erst eine aufwendige Diagnostik ermittelt den Grund für die Probleme – Loris hat eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS).

Etwa zwei bis drei Prozent aller Menschen sind nach Einschätzung von Experten von dieser Störung betroffen. Die Begriffe Hörverarbeitungsstörung, zentrale Hörstörung oder auch auditive Teilleistungsstörung werden oft synonym verwendet und bezeichnen grundsätzlich alle dasselbe.

Die Störung führt bei betroffenen Kindern zu ­einem Bündel an ­Problemen in der Schule und im Alltag.

«Es handelt sich um eine Störung zentraler Prozesse des Hörens», erklärt Jochen Rosenfeld, leitender Arzt der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie am Kantonsspital St. Gallen. «Das periphere Hören, also die organische Hörfunktion, ist dabei intakt.

Jedoch sind Wahrnehmung und Weiterverarbeitung der Hörreize im Gehirn gestört.» Das führt zu einem Bündel an Problemen in Schule und Alltag, die bei betroffenen Kindern aber jeweils individuell unterschiedlich gelagert sein können.

Es fällt den Kindern schwer, ähnlich klingende Laute und Silben zu unterscheiden.

Typisch für eine mögliche AVWS ist zum Beispiel, dass betroffene Kinder nicht orten können, aus welcher Richtung ein Schall kommt. Auch fällt es diesen Kindern schwer, ähnlich klingende Laute und Silben, wie etwa «Buch» und «Tuch» oder ­«Tasse» und «Kasse» zu unterscheiden.

«Bei Neben- beziehungsweise Störgeräuschen wie schwatzenden Klassenkameraden, laufender Spülmaschine oder vorbeifahrenden Autos haben Betroffene ausserdem starke Schwierigkeiten, zu filtern und einem laufenden Gespräch zu folgen», so Rosenfeld. «Auch kann der auditive Speicher stark verkürzt sein, wodurch mündliche Aufträge nur schlecht gemerkt werden können und Auswendiglernen in der Regel extrem schwerfällt.»

Probleme beginnen im Schulalter

Echte Probleme tauchen aber meist erst im Schulalter auf, wenn die Kinder konzentriert der Stimme des Lehrers folgen sollen und gesprochene Worte in Diktaten schriftlich abgefragt werden. «Weil betroffene Kinder während des Unterrichts streckenweise gar nicht mitbekommen, was der Lehrer ­vorne sagt, werden sie unaufmerksam, beginnen sich zu langweilen und neigen zu Verhaltensauffälligkeiten,» betont der Pädaudiologe. «Zudem fallen sie meist durch sehr schlechte Leistungen im Diktat sowie beim Lesen und in der Rechtschreibung auf.»

Für diese Auffälligkeiten kommen allerdings auch andere Ursachen infrage. «So muss zuerst geklärt werden, dass keine Schwerhörigkeit vorliegt, also ob das Hörorgan gut funktioniert», sagt Rosenfeld. «Auch ist es wichtig, eine mögliche Intelligenzminderung sowie andere Entwicklungsstörungen wie ADHS, eine Spracherwerbsstörung oder auch eine Autismus-Spektrum-Störung im Vorfeld abzuklären.»

Diagnose erst ab acht Jahren

Erst dann beginnt die eigentliche AVWS-Diagnostik, meist in einem dafür spezialisierten Zentrum. Hier arbeiten in der Regel vier Berufsgruppen als Team zusammen: Audiometristen, Logopäden, Psychologen sowie Pädaudiologen. Sie führen jeweils verschiedene validierte Tests durch.

Rosenfeld: «Eine AVWS-Diagnostik ist also sehr aufwendig und kann frühestens ab ­Mitte der zweiten Klasse durchgeführt werden, da die Entwicklung des Kindes erst ab dem Alter von acht Jahren in einem Stadium ist, in dem die Tests auch optimal greifen.»

Ist eine AVWS diagnostiziert worden, gibt es eine Reihe an Möglichkeiten, die betroffenen Kinder bestmöglich zu unterstützen und in ihrer Entwicklung zu fördern. Im klassischen ­Sinne heilen lässt sich eine AVWS nicht, denn sie ist keine Krankheit, sondern eine Entwicklungsstörung.

Ist eine AVWS diagnostiziert worden, gibt es eine Reihe an Möglichkeiten, die betroffenen Kinder bestmöglich zu unterstützen und in ihrer Entwicklung zu fördern.

Die Ursachen dafür sind noch nicht vollständig geklärt. «Man geht von einer polygenetischen Ursache aus», so der Pädaudiologe aus St. Gallen. Das heisst, dass bestimmte Erbinformationen, die auf mehreren Genen liegen, die Entwicklung der Störung begünstigen.

Logopädie und der Papageientrick

Um die auditiven Beeinträchtigungen auszugleichen, werden die betroffenen Kinder meist umfassend logopädisch behandelt. «Die Kinder üben, die Silben und Laute besser unterscheiden und zuordnen zu können», erklärt der Pädaudiologe.

Da sich der auditive Speicher durch Übung allein jedoch leider nur begrenzt verbessern lässt, werden zusätzlich kompensatorische Strategien und Praxistipps vermittelt, um gesprochene Worte besser behalten zu können. «Ein Beispiel ist der Papageientrick, bei dem der zu merkende Satz gemalt, notiert oder so lange mantraartig wiederholt wird, bis die Handlung ausgeführt ist», sagt Rosenfeld.

Um die auditiven Beeinträchtigungen auszugleichen, werden die betroffenen Kinder meist umfassend logopädisch behandelt.

Sehr wichtig und sinnvoll ist auch ein Gespräch mit der Schule und der Klassenlehrperson, in dem die Eltern oder Fachleute über die bestehende AVWS informieren und um Massnahmen bitten, die dem Kind helfen, dem Unterricht besser folgen zu können.

Diese sind in den «Praxishilfen» der S1-Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Phonia­trie und Pädaudiologie gut zusammengefasst. «Dazu gehören etwa ein Sitzplatz in der Nähe des Lehrers, die direkte Ansprache und häufiger Blickkontakt bei der Kommunikation.

Ausserdem versucht die Lehrperson, Hall- und Störgeräusche im Klassenzimmer zu reduzieren», sagt der Kinderohrenarzt. «Schon einfache Massnahmen wie das Schliessen von Fenstern und Türen können viel bewirken.»

AVWS – braucht es wirklich eine eigene Diagnose?

Die auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung (AVWS) ist ein relativ junges Störungsbild und wurde erst 2007 in den ICD-10-Katalog – den Katalog zur internationalen ­Klassifikation der Krankheiten – ­aufgenommen. Zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen wird die Aufnahme der AVWS als eigenständige Diagnose jedoch kontrovers diskutiert. Einer der Hauptkritiker ist Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-­Kinderspital Zürich.

Er moniert vor allem die seiner Meinung nach mangelnde Trennschärfe der diagnostischen Kriterien einer AVWS zu anderen kindlichen Entwicklungs­störungen wie ADHS, Autismus und vor allem der Spracherwerbsstörung. «Ich sage nicht, dass es AVWS nicht gibt, aber ich sehe die AVWS eher als Symptom von bestehenden Entwicklungsstörungen und nicht isoliert als eigene Diagnose», betont der Entwicklungspädiater. «Wir haben im Bereich der Entwicklungsstörungen bereits mehr als genug Diagnosen, die sich teilweise auch überschneiden. Ich sehe keinen Sinn in einer weiteren Diagnose wie AVWS, insbesondere da es keine spezifische Therapie für diese Störung gibt, sondern sämtliche Therapien und Ratschläge auch Kindern mit den bereits genannten Entwicklungsstörungen zugutekommen.»

Als günstig bei AVWS gelten ausserdem Räume mit Teppichböden, Vorhängen und Wandverkleidungen, die den Hall dämpfen. Falls die Möglichkeit besteht, sollte das Klassenzimmer entsprechend nachgerüstet werden oder die Klasse in einen entsprechenden Raum umziehen können.

Wichtig ist ein Gespräch mit der Schule und der Lehrperson, in dem Eltern über die Diagnose ­informieren und Massnahmen erbitten, die dem Kind helfen.

Eine weitere Möglichkeit, den Nutzschall – wie etwa die Stimme der Lehrerin – für das betroffene Kind besser wahrnehmbar zu machen, sind sogenannte Frequenz-Modulations-Anlagen, kurz FM-Anlagen. Das sind Hörgeräte, die drahtlos mit einem Mikrofon verbunden sind, das beispielsweise die Lehrperson trägt.

Sie übertragen die Stimme des Lehrers dann direkt auf das Ohr des Kindes. «Diese Geräte sind allerdings sehr teuer und werden derzeit nur in wenigen Fällen von der Versicherung bezahlt», erklärt HNO-Spezialist Rosenfeld. «Bei dieser Empfehlung bin ich deshalb etwas zurückhaltend.

Auch weil die konsequente Umsetzung der konventionellen Massnahmen – zusammen mit der Logopädie – in vielen Fällen schon sehr viel Verbesserung bringt.»

Weitere Informationen zum Thema

Praxishilfen für Eltern und Lehrpersonen zum ­kostenlosen PDF-Download (S1-Leitlinie AVWS der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und ­Pädaudiologie): www.dgpp.de > Leitlinien, Konsensus > Auditive ­Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) > Praxishilfen AVWS

Infomaterial und umfangreiche Beispiele für ­spielerische Fördermöglichkeiten bei AVWS zum kostenlosen Download: www.schulpsychologie-sg.ch > zum SPD > Themen-Links-­Publikationen > Liste Flyer/Publikationen

Infobroschüre «Diagnostik und Therapie ­auditiver Wahrnehmungsstörungen» von Prof. Dr. med. Wolfgang Angerstein zum kostenlosen Download: Suche via Internet-Suchmaschine nach «hoerbehindert.ch + Wolfgang Angerstein»

AVWS-Selbsthilfegruppe zum Austausch, Kontakt und der Vernetzung von Betroffenen: www.avws-selbsthilfe.de

Anja Lang
Anja Lang ist langjährige Medizinjournalistin. Sie ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

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