Mysteriöse Krankheit bei Kinderzähnen: MIH - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Mysteriöse Krankheit bei Kinderzähnen: MIH

Lesedauer: 7 Minuten

Seit einigen Jahren breitet sich hierzulande die Zahnkrankheit MIH aus – bis zu 20 Prozent der Kinder sind betroffen. Die Zahnärzte stehen vor einem Rätsel.

Text: Claudia Fässler
Bild: Margie / Photocase.de

Die Zahngesundheit ist ein grosses Thema hierzulande. Mütter- und Väterberaterinnen und Schulzahnpflege-Instruktoren haben ab dem Kindergartenalter die Zahnpflege der Kleinen im Blick. Das hat dazu geführt, dass in den vergangenen 40 Jahren das Auftreten von Karies bei Schulkindern in der Schweiz um 90 Prozent reduziert werden konnte. 

Doch es bleibt keine Zeit, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. Im Gegenteil: Ein neuer Feind macht sich breit in den Kindermündern – die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation, kurz MIH. Ist ein Kind betroffen, wurden seine ersten bleibenden Backenzähne nicht richtig mineralisiert.

Der Zahnschmelz ist oft brüchig oder fehlt ganz. Backenzähne werden fleckig und bröckelig, mitunter brauchen bereits Grundschüler Stahlkronen. Und das in einem ansonsten völlig gesunden Gebiss.

Beschrieben worden ist die MIH erstmals 1987, gut 15 Jahre später waren etwa fünf Prozent der Kinder betroffen. Aktuellen Studien zufolge leiden inzwischen 20 Prozent der Kinder in Deutschland unter MIH, bei den 12-Jährigen sind gemäss der Mundgesundheitsstudie sogar knapp 30 Prozent von dieser Strukturanomalie betroffen.

Die Zahlen schwanken stark, da die Studien sehr heterogen angelegt sind. Hinzu kommt: Ein ungeübtes Auge kann Karies mit MIH verwechseln – und umgekehrt. 

Lesen Sie hier weiter und erfahren Sie mehr über die mysteriöse Zahnkrankheit.

Täglich ein bis zwei MIH-Patienten

Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, für die noch keine MIH-Statistik vorliegt. «Man kann aber aufgrund unserer Erkenntnisse von einem analogen Befall ausgehen wie in den Nachbarländern, also zwischen 7 und 20 Prozent», sagt Hubertus van Waes, Leiter der Kinderzahnmedizin an der Universität Zürich.

Richard Steffen, Zahnarzt in Weinfelden, sagt: «Wir bekommen viele Überweisungen zu MIH-Behandlungen, ich habe beinahe täglich ein, zwei kleine Patienten mit diesem Problem.»

Norbert Krämer ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnmedizin. Auch er hat in den vergangenen Jahren immer öfter Kindern auf seinem Behandlungsstuhl marode Backenzähne gezogen oder versucht zu retten, was zu retten ist.

Die Bilder, die er zeigt, sehen aus, als hätten sich Kariesbakterien jahrelang an einem Zahn ausgetobt, ohne dass ihnen Einhalt geboten worden wäre: rau und porös, stellenweise zerklüftet. Auf anderen Fotos haben die Molaren gelb-braune ­Flecken, sehen ansonsten aber intakt und vor allem glatt aus. Das sind die glücklichen Patienten – diejenigen, bei denen die MIH nur wenig ausgeprägt ist. 

Die Ursachen sind unbekannt

«Wir unterscheiden drei Schweregrade: eine milde, eine mittlere und eine schwere MIH», sagt Krämer. «Bei den ersten beiden Formen haben die Patienten keine Beschwerden – hier ist das Problem vor allem ästhetischer Natur.» Und dies meist auch nur dann, wenn zusätzlich zu den Backenzähnen die Frontzähne betroffen sind.

Die schwere Ausprägung der MIH bringt allerdings gleich eine ganze Reihe an Schwierigkeiten mit sich. Nicht nur, dass die Zähne bröseln und stellenweise abbrechen – die zerklüftete Oberfläche lässt sich nicht richtig putzen, sodass oft eine Karies auf die bestehenden MIH-Läsionen aufsattelt. 

Rau, porös, zerklüftet: Ein von MIH betroffener Zahn sieht aus, als hätten Kariesbakterien jahrelang gewütet.

Dazu kommt, dass die von MIH betroffenen Zähne häufig kälte-, luft- und berührungsempfindlich sind, weshalb die Kinder ihnen mit der Zahnbürste fernbleiben. «Wenn da der Zahnarzt die MIH als Karies fehldeutet und mit dem Luftstrahl durch den Mund pustet, gehen die Kinder an die Decke», sagt Norbert Krämer. 

Warum fehlt das Wissen über MIH?

Weil diejenigen, die vor fünf oder zehn Jahren ihren Abschluss in Zahnmedizin gemacht haben, in ihrem Studium nie etwas von der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation gehört haben, fehlt es auch heute noch in vielen Zahnarztpraxen an Wissen über diese Strukturstörung. «Das ändert sich allerdings gerade sehr, das Bewusstsein für MIH wächst und wir machen sehr viele Weiterbildungen zum Thema», sagt Krämer.

Dies ist auch deshalb wichtig, weil die MIH-Flecken nicht nur kariösen Stellen ähneln. Vor allem bei betroffenen Schneidezähnen ist eine Differenzialdiagnose wichtig, hier müssen die Eltern genau befragt werden. Denn hatte ein Milchzahn vorne einmal ein Trauma, ist gestos­sen oder abgebrochen worden, kann er den verbleibenden Zahn, der noch im Kiefer steckt, verletzen. Die so entstehenden Schäden können genau gleich aussehen wie die Flecken, die MIH ­verursacht. 

Penible Mundhygiene, vernünftige Ernährung und generell Achtsamkeit mit den Zähnen sind von enormer Bedeutung in so einem Fall.

Bislang stehen die Zahnärzte ohnmächtig vor der MIH. Es zeigen sich keine Regelmässigkeiten: Mal sind nur die ersten bleibenden Backenzähne betroffen, die im Alter von etwa sechs Jahren durchbrechen, mal auch die späteren und die Schneidezähne.

Mal sind die ­Flecken weiss-gelb, mal gelb-braun. Mal ist nur ein Höcker eines Backenzahnes bröselig, mal die ganze Krone. Mal sieht man bereits am Milchzahn erste Hinweise auf MIH, mal folgen auf ein makelloses Milchgebiss zwei völlig kaputte Molaren. Die Ärzte sind ratlos: «Da wir die Ursache der MIH nicht kennen, haben wir keine Chance auf eine Primärprävention», sagt der Weinfelder Zahnarzt Richard Steffen.

Wie kann man MIH vorbeugen?

Umso wichtiger sei die Sekundärprävention, um die betroffenen Zähne vor weiteren Schäden zu bewahren. Dazu zählen eine umfassende Aufklärung der Eltern, engmaschige Kontrolluntersuchungen und der Versuch, die Zähne mit einer verstärkten Mineralisierung wenigstens etwas mehr zu schützen.

«Die Anwendung einer Paste, die Tricalciumphosphat enthält, ist ein recht vielversprechender Ansatz», sagt Steffen. Doch selbst wenn MIH-Zähne ein wenig nachreifen und sich bei einem grösseren Mineralienangebot etwas besser mineralisieren können: Sie brauchen für einen solchen Prozess vier- bis fünfmal so lang wie ein gesunder Zahn. In dieser verletzlichen Phase ist es besonders wichtig, sorgsam mit den Zähnen umzugehen. 

«Penible Mundhygiene, vernünftige Ernährung und generell Achtsamkeit mit den Zähnen sind von enormer Bedeutung in so einem Fall, das erkläre ich den Eltern immer sehr ausführlich», sagt Steffen. «Kleine Sünden, die für Kinder mit gesunden Zähnen ab und an drin sind, können sich Kinder mit MIH-Zähnen noch viel weniger erlauben.» Die Fragen der schockierten Eltern zur Ursache der Zahnschmelzveränderung können die Ärzte nicht beantworten. 

Die schwierige Suche ­­nach dem Täter

Jan Kühnisch, Zahnmediziner an der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie an der Universität München, beschäftigt sich seit Jahren mit der MIH und will vor allem der Ursache auf die Schliche kommen. Die müsse man, so viel steht aufgrund des Störungsbildes fest, irgendwann in der Schwangerschaft oder in den ersten Lebensmonaten und -jahren suchen.

«Derzeit gibt es zwei Haupttheorien», sagt Kühnisch. Das eine sind Umwelttoxine, das andere Antibiotika.» Er selbst hält derzeit Antibiotika für eine plausible Erklärung. Mit seinem Team hat er zwar keinen ursächlichen Zusammenhang von Antibiotika und MIH zeigen können, allerdings sei auffällig, dass bei Kindern, die unter Atemwegserkrankungen litten – und deshalb vermutlich mehr Antibiotika erhalten haben –, das Auftreten von MIH deutlich erhöht gewesen sei.

Für die Antibiotikathese spricht Kühnisch zufolge auch, dass das Phänomen MIH zehn Jahre nachdem Antibiotika verstärkt in der Medizin und vor allem der Pädiatrie eingesetzt worden sind, zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben wird. Gegen die Antibiotikathese spricht, dass es auch hier keine Regelmässigkeiten gibt: Die Forscher haben Kinder gesehen, die viel Antibiotika erhalten haben und keinerlei Spuren von MIH aufweisen, und ebenso solche, die nie Antibiotika bekommen, aber starke Schmelzstörungen haben. 

«Ich denke, dass es sich hier um ein systemisches und multifaktorielles Geschehen handelt», sagt Kühnisch, «vor allem, weil die Schmelzentwicklung in unterschiedlichen Phasen stattfindet.» Vielleicht, so Kühnischs Vermutung, sind die für den Zahnschmelz zuständigen Zellen in verschiedenen Phasen unterschiedlich sensibel: «Das kann sich wochenweise ändern.»

Entscheidend wäre dann, wann der schädigende Faktor zum Tragen kommt. Heisst übersetzt: Vielleicht gibt es ein Zeitfenster, in dem die Einnahme von Antibiotika die Schmelzentwicklung überhaupt nicht beeinträchtigt, und eines, in dem sie gravierende Schäden auslöst. 

Was für eine Rolle spielt BPA bei der Entstehung von MIH?

Der zweite Hauptverdächtige im MIH-Krimi ist Bisphenol A, kurz BPA. Auf die Liste der möglichen Verursacher hat es diese hormonell wirksame Substanz aufgrund einer Studie geschafft, die französische Forscher an Ratten durchgeführt haben.

Die Demineralisation auf diese eine Studie zurückzuführen, findet Jürgen Thier-Kundke vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) nicht in Ordnung, «zumal man weiss, dass Ratten auf Bisphenol A grundsätzlich empfindlicher reagieren als Menschen». BPA dient als Ausgangsstoff für Kunststoffe, unter anderem Polycarbonate.

Die Grundlagen für die Zahnbildung werden bereits beim Ungeborenen im Mutterleib gelegt.

Interessant: In den 60er und 70er-Jahren wurden Polycarbonate populär, aus ihnen wurden unter anderem Babyfläschchen hergestellt. Seit zwei Jahren sind BPA-haltige Polycarbonate in der EU verboten. «Allerdings haben wir das damals überprüft und festgestellt, dass kaum etwas davon in die Milch im Fläschchen übergeht», sagt Thier-Kundke. Auch, dass über das Stillen Bisphenol A in den kindlichen Körper gelangt, könne man weitgehend ausschliessen.

Dem BfR-Experten zufolge konnte keine Untersuchung BPA in der Muttermilch nachweisen.
Jan Kühnisch hat in München derweil noch einen weiteren potenziellen Schmelzstörer auf der Liste: Vitamin-D-Mangel. In ihrer Kohorte haben die Forscher den Vitamin-D-Spiegel im Serum gemessen und festgestellt, dass ein hoher Wert mit weniger MIH einhergeht. «Auch hier sind wir noch vorsichtig mit irgendwelchen Rückschlüssen, aber es scheint da vielleicht einen Zusammenhang zu geben», sagt Kühnisch. 

So entsteht ein Zahn

Die Entwicklung eines Zahns ist ein langwieriger und kleinteiliger Prozess. Schliesslich müssen für jeden Zahn Zahnschmelz, Dentin, Wurzel­zement und Wurzelhaut angelegt werden. Sowohl im Milchgebiss als auch bei den bleibenden Zähnen.

Die Grundlagen für die Zahnbildung werden daher bereits beim Ungeborenen im Mutterleib gelegt. Den Anfang macht das Zahnbein, das sogenannte Dentin. Es wird von Odontoblasten gebildet. Jeder Mensch verfügt ein Leben lang über diese Zellen, sodass Dentin nachgebildet werden kann. Für den Zahnschmelz sind Zellen namens Amelo­blasten – oder auch Adamantoblasten – zuständig. 

Sie bilden den Zahnschmelz in zwei Phasen. Zunächst sondern sie zwei Proteine ab, die das Gerüst für den Schmelz bilden und eine vorläufige Mineralisierung darstellen. Dann beginnt die zweite, die sogenannte Reifephase, in welcher der Schmelz mit Salzen gefüllt wird, die zu Hydroxylapatit mineralisieren – dem Hauptbestandteil des Zahnschmelzes. Hier übernehmen die Ameloblasten vor allem Transportaufgaben. Haben sie ihren Job erledigt und das Dentin eines neuen Zahns gründlich mit Schmelz umhüllt, sterben sie ab. 

Das alles geschieht, während der Zahn noch im Kiefer steckt. Bricht die fertige Krone dann durch, ist die Schmelzbildung abgeschlossen. Da es keine Ameloblasten mehr gibt und diese auch nicht noch einmal gebildet werden können, kann auch der Schmelz nicht mehr repariert werden. Irgendwann im Laufe dieses Schmelzbildungsprozesses geht bei Kindern, die später an MIH leiden, etwas schief. So viel ist klar. Doch was genau die Funktion der Ameloblasten beeinträchtigt, ob es zu wenige sind oder die vorhandenen einfach die ihnen zugedachte Aufgabe nicht ordentlich erledigen können – keiner weiss es.

Claudia Füssler
arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Am liebsten schreibt sie über Medizin, Biologie und Psychologie.

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