Krafttraining für den Willen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Krafttraining für den Willen

Lesedauer: 4 Minuten

Was hilft, damit wir an einer Aufgabe hartnäckig dranbleiben, Ziele weiterverfolgen, auch wenn der Weg dorthin steinig ist? Ein haushälterischer Einsatz und das bewusste Trainieren unserer Willenskraft.

Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einem Experiment teil, in dem man herausfinden möchte, wie gut Sie darin sind, Knobelaufgaben zu lösen. Zumindest wurde Ihnen das vorgegaukelt. Was Sie nicht wissen: Die Aufgabe ist unlösbar! Der fiese Versuchsleiter interessiert sich in Wahrheit dafür, wie lange es dauern wird, bis Sie entnervt das Handtuch werfen.
 
Wie lange halten Sie durch? Zehn Minuten oder eine halbe Stunde?

Wahrscheinlich greifen Sie für Ihre Antwort auf Charaktereigenschaften zurück und sagen etwas wie: «Ach, weisst du, ich bin allgemein nicht so der geduldige Typ – nach ein paar Minuten würde es mir zu blöd werden.» Oder: «Wahrscheinlich schon eine halbe Stunde – ich bin ziemlich hartnäckig!»
Wie der bekannte Sozialpsychologe Roy Baumeister herausfand, spielt neben Ihren Persönlichkeitseigenschaften noch etwas anderes eine entscheidende Rolle: die Frage, was Sie vor der Knobelaufgabe gemacht haben.

Mussten Sie kurz davor Ihre Hochzeitsdekoration aussuchen, auf Schokokekse verzichten, Ihre Hand in Eiswasser tauchen oder der Anweisung Folge leisten, bei einem lustigen Film nicht zu lachen, geben Sie wahrscheinlich früher auf.
Diese etwas absurden Beispiele gehen auf eine Reihe von Studien zurück, in denen Roy Baumeister der Willenskraft auf die Spur kam. Er fand heraus, dass es mindestens vier Typen von Situationen gibt, die unsere Willenskraft «verbrauchen»:

Je mehr Ziele wir verfolgen, die Willenskraft beanspruchen, desto erschöpfter fühlen wir uns.

1. Entscheidungen treffen
Wir alle treffen den Tag über eine Unzahl kleiner Entscheidungen: Was ziehe ich an? Was gebe ich den Kindern zum Znüni mit? Welche E-Mail beantworte ich zuerst? Sollen wir am Wochenende Freunde treffen oder etwas mit der Familie unternehmen – und was? Menschen wie Albert Einstein, Steve Jobs oder Alfred Hitch­cock zogen sich jeden Tag gleich an, um sich nicht mit unnötigen Entscheidungen zu ermüden.
2. Gefühle regulieren
Egal, ob Sie als Verkäuferin einen unsympathischen Kunden freundlich behandeln oder das Gemotze Ihres Kindes über die Hausaufgaben mit stoischer Miene ertragen: Wann immer Sie Ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen wollen oder können, benötigen Sie Willenskraft.
3. Versuchungen und Wünschen widerstehen
Jeden Tag geraten Sie unzählige Male in Versuchung: nur kurz Facebook checken; bloss ein Stückchen Schokolade; noch ein bisschen länger aufbleiben, nachdem die Kinder endlich im Bett sind; doch ein Glas Wein zum Essen. Ihr Wille sorgt dafür, dass Sie zumindest teilweise widerstehen können.

4. Widerwillen überwinden und sich konzentrieren
Den Dachboden aufräumen, den Backofen putzen, die Steuererklärung ausfüllen: Natürlich müssen Sie auch Ihre Willenskraft aufbringen, um eine unliebsame Aufgabe anzupacken und konzentriert dabeizubleiben. 

Die Willenskraft funktioniert wie ein Muskel

Roy Baumeister vergleicht die Funktionsweise der Willenskraft mit einem Muskel: Sie ist erstens beschränkt und wird geschwächt, wenn wir sie nutzen. Zweitens erholt sie sich nach einer Pause. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn wir ­Glukose zu uns nehmen. Und drittens lässt sich Willenskraft langfristig durch Training stärken. Dabei nutzen wir für alle der oben genannten Situationen dieselben Kraft­reserven.

Das heisst: Wenn wir uns in einem Bereich zusammenreissen und beispielsweise diszipliniert unserem Ernährungsplan folgen, haben wir dadurch weniger Geduld mit unseren Kindern. Wenn wir den ganzen Tag kleine Entscheidungen treffen mussten, können wir dem Schokoriegel schlechter widerstehen. Je mehr Ziele wir verfolgen, die Willenskraft beanspruchen, desto erschöpfter fühlen wir uns.
Gleichzeitig lässt sich damit erklären, weshalb beispielsweise Schüler und Schülerinnen, die Ausdauersport betreiben, trotz wenig Freizeit oft disziplinierter lernen als andere: Sie sind darin geübt, Unlust und innere Widerstände zu überwinden und sich nicht von ihren Zielen abbringen zu lassen. Über die Jahre haben sie sich einen ordentlichen «Willensmuskel» antrainiert.

Je mehr die Gedanken «ich muss noch» und «ich darf nicht» Ihren Alltag beherrschen, desto mehr ­Willenskraft verbrauchen Sie. Manchmal fehlt sie dann genau im entscheidenden Moment. Das merken Sie daran, dass Sie abends müde und geschafft sind – und sich gleichzeitig unzufrieden fühlen, weil Sie «doch eigentlich nichts Richtiges geschafft» haben.

Am meisten Willenskraft haben die meisten Menschen in den ersten zwei Stunden nach dem Frühstück. Reservieren Sie diese für Ihre wichtigste Aufgabe.

Am meisten Willenskraft haben die meisten Menschen in den ersten ein bis zwei Stunden nach dem Frühstück. Man ist produktiver und zufriedener, wenn man sich diese Phase reserviert, um einer wichtigen Aufgabe nachzugehen. Vielleicht überlegen Sie jeweils am Abend im Bett kurz, was am nächsten Tag Ihre wichtigste Aufgabe sein könnte? Was könnten Sie am Morgen erledigen, damit Sie bereits beim Mittagessen zufrieden auf den Tag zurückblicken können?

Zusätzlich rät uns Roy Baumeister, unsere Ziele auszusortieren. Je weniger Ziele wir haben und je besser sich diese miteinander vereinbaren lassen, desto mehr Energie steht uns zur Verfügung, um diese zu erreichen. Haben wir zu viele Ziele, sind wir dauernd frustriert und verbrauchen unsere Willenskraft, ohne voranzukommen. Es hilft, wenn wir uns bewusst entscheiden, was uns momentan wichtiger ist: Mehr Zeit mit der Familie verbringen oder die Karriere vorantreiben? Gesundes einkaufen und kochen oder uns in den nächsten zwei Wochen ganz auf den Abschluss eines Projekts zu fokussieren? Alles gleichzeitig schaffen zu wollen, führt nur zu Gewissensbissen.

Willensübungen erleichtern die Überwindung in allen Bereichen

In unserem Buch «Clever lernen» beschreiben Stefanie Rietzler und ich mehrere Wege, sich zu motivieren. Es hat uns überrascht, dass vielen Jugendlichen «Der Weg der Abhärtung» am besten gefällt. Dabei stellt man sich ganz bewusst seinem «Hassfach» mit dem Ziel, ein harter Hund oder eine tapfere Kriegerin zu werden. Man ringt seine Unlust und Unsicherheit nieder und lernt für 15 Minuten Französisch oder Mathe, obwohl «man überhaupt nicht durchblickt», «sich doof fühlt», «null Bock hat». Danach ist man stolz, dass man den inneren Schweinehund besiegt hat. Vielen Schülern und Schülerinnen macht es mit der <
Zeit richtig Freude, sich selbst heraus­zufordern und sich auf immer anspruchsvollere Übungen einzulassen. Dabei stellen sie sich bereits vor, wie «krass» es sein wird, wenn sie sich für eine ganze Stunde durchbeis­sen konnten.  Wie die Forschung zur Willenskraft zeigt, trainieren solche bewussten «Willensübungen» unsere Willenskraft und erleichtern es uns auch in anderen Bereichen, uns zu überwinden. Aber Achtung: Das funktioniert nur, wenn wir uns freiwillig verpflichten und überwinden – nicht, wenn uns jemand zwingt.  Und was wäre für Sie eine schöne Willensübung?

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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