Musik – von Anfang an ein wichtiger Begleiter
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Musik – von Anfang an ein wichtiger Begleiter

Lesedauer: 4 Minuten

Kinder erhalten beim Musikmachen Zugang zu den eigenen Gefühlen und 
Welten und damit zu Kreativität und zu den eigenen Stärken, «auch ohne 
perfekte Beherrschung eines Instrumentes», sagt der Zürcher Musikpädagoge
Christian Berger. Ein Plädoyer fürs Musizieren.

Text: Sibylle Dubs
Bild: GettyImages

Es ist ein warmer Dienstagabend vor den Sommerferien. Im Singsaal des Zürcher Schulhauses Altweg sind die Zweitklässler bei der letzten Probe zu ihrer Aufführung. «Wir sind so glücklich…» singen die Kinder vor den noch leeren Stuhlreihen. In einer Stunde werden hier die Eltern sitzen und versuchen, die besondere Stimmung auf ihren Smartphones festzuhalten.
Danach werden sie von dem «Erlebnis» erzählen, von der gespürten «Lebensfreude». Denn die Primarschulkinder machen an diesem Abend sichtbar, was sie in zwei Jahren Musikunterricht immer wieder erlebt haben: dass gemeinsames Musizieren mehr als nur schön ist. «Man braucht Musik zum Leben», sagt Giulia später auf dem Pausenplatz. Die Achtjährige meint dies wortwörtlich.

Der Zauber der Musik ist jedem ein Begriff. Musik berührt uns, löst bei Filmszenen Gefühle aus, treibt uns zu sportlichen Leistungen an oder bringt uns zum Tanzen. Musik ist dem Menschen zugehörig. Die ältesten Flöten aus Tierknochen, die gefunden wurden, sind über 30’000 Jahre alt. Musizieren ist eine einzigartige Ausdrucksform der Menschen. Seit dem griechischen Altertum versuchen Denker zu beschreiben, was Musik dem Wesen nach sei.

Alles ist Musik

Hermann Siegenthaler schreibt in seinem Standardwerk «Einführung in die Musikpädagogik», dass man Elemente der Musik benennen könne (Harmonie, Spannung, Klangfarbe usw.). Niemand würde deshalb aber Musik als Summe dieser Begriffe bezeichnen. Musik «sei mehr, als was der Mensch rational zu erfassen vermöge».

Bei der Frage, was Musik sei, kommen auch die Zweitklässler ins Grübeln. Naila lobt die Klänge der Instrumente. Hannah gefällt es, dass man Musik immer wieder neu erfinden kann. Ayana findet: «Alles ist Musik, man muss es nur richtig machen!» Man könne mit «knisternden Steinen und rauschenden Blättern» Musik machen. «Die Steine geben dabei den Rhythmus vor.»

Musik berührt uns, löst Gefühle aus, treibt uns an oder bringt uns zum Tanzen.

Was ein Rhythmus ist, lernen Primarschulkinder im elementaren Musikunterricht. Lernen bedeutet hier, über alle Sinne wahrzunehmen und das Thema in der Art einzukreisen, dass sich das Wissen bei den Kindern verankert und gleichzeitig Musik den Raum füllt. So klopfen sich die Kinder Rhythmen gegenseitig auf den Rücken, schreiben sie auf, machen sie als Bodypercussion und auf Trommeln hörbar, gestalten passende Bewegungen und tanzen dazu.

Ayanas Schlussfolgerung, dass alles Musik sei, wenn man es richtig mache, zeigt, dass Musizieren für sie eine künstlerische Auseinandersetzung ist. Sie begibt sich in ein musikalisches Feld und experimentiert. Zwar mit einer Vorstellung, aber ohne genau zu wissen, was herauskommt. Das ist ein elementares musikalisches Erlebnis. Dies hat für Ayana eine Bedeutung wie für einen Profimusiker.

Musik stärkt das Gehirn

«Solche vertieften Erlebnisse soll der Musikunterricht ermöglichen», sagt Professor Christian Berger von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Die Lehrpersonen müssten Situationen kreieren, sogenannte «Resonanzräume schaffen, wo die Menschen wahrnehmen, dass die Musik etwas mit ihnen macht.»

Weil die Musik mit uns Unbeschreibliches macht, beschäftigt sie seit Langem auch die Hirnforscher. Aufnahmen machen sichtbar, wie Musik verschiedene Regionen in unserem Gehirn anregt und Verknüpfungen verstärkt. «Ja, da gibt es wunderschöne Bilder, die zeigen, wo Rhythmus wirkt und wo die Melodie. Die Bilder belegen, dass etwas passiert, und zwar bei allen», sagt Berger.

Doch weiterführende Studien, die beweisen wollen, dass Musizieren klug macht, finden bei ihm keinen Gefallen. Da werde versucht, Musik nutzbar zu machen. Und das führe zu Modewellen. Musikunterricht ist dann eine Zeit lang en vogue, zeige aber keinen Wert in sich. «Der Wert liegt in der eigenen Auseinandersetzung mit uns und den Phänomenen der Musik. Das Vertrauen darauf, dass es eine Wirkung und Bedeutung hat, ist der Grund, Musik zu machen», sagt Berger.

Der Elementare Musikunterricht, oft auch musikalische Grundschule genannt, erlebte in den letzten zehn Jahren in der Schweiz steigende Beachtung und Verbreitung. Neuerdings, in Zeiten des Spardrucks, fordern politische Kreise wieder, den Musikunterricht zu privatisieren. In den Schulen im Zürcher Oberland wurde die musikalische Grundschule gerade von zwei auf eine Lektion pro Woche halbiert.

Elementare Musikpädagogik

Elementare Musikpädagogik (EMP) befasst sich mit den grundsätzlichen Erfahrungen, dem Besonderen des Musizierens. Sie fördert die Wahrnehmung der Sinne und die soziale Interaktion, zwei wichtige Grundlagen für die 
Entwicklung der Persönlichkeit. Die klassischen Lerninhalte der EMP sind:

  • Singen und Sprechen
  • Musik hören
  • Musik und Bewegung/Tanz
  • Kollektives Musizieren, Arbeit mit Instrumenten
  • Musikalische Begriffsbildung

Elementares Musizieren, Singen und Bewegen ist geeignet für alle Altersstufen, für Laien und Profis.

Das Auf und Ab kennt Christian Berger. Er unterrichtete selber zwanzig Jahre lang Unterstufenkinder und erinnert sich an seine Anstellung im Appenzellerland. Eines Tages setzte sich ein Mitglied des Gemeinderates in sein Musikzimmer. Der Mann breitete ordnerweise Unterlagen aus, die ihm helfen sollten, zu bewerten, ob es diesen Unterricht noch braucht. Christian Berger wusste: «Das wird so nichts.» Nach einer Zeit schickte er Kinder los, den Besucher aufzufordern, mitzumachen. «Beim nächste Mal brachte er die Ordner nicht mehr mit.» Und nach drei Besuchen war Streichen des Musik­unterrichts kein Thema mehr.

Was ist mit dem Mann passiert? «Ihm wurde an einem Ort eine Erfahrung ermöglicht, die weiter weist als das Erlebnis, das man als Zuschauer erkennen würde», erklärt Berger. Der Prüfer sei wohl der Ansicht gewesen: «Das bedeutet etwas, das hat mir gefallen, das nimmt man diesen Kindern nicht weg.»

Die Musik ist mit mir und ich mit ihr.

Hannah, 8 Jahre

Musizieren ermöglicht uns, uns auf eine Weise auszudrücken, die wir uns vielleicht niemals zugetraut hätten. An dem Sommerabend im Schulhaus Altweg erzählten die Eltern, am meisten erstaunt beim Auftritt hätte sie die Leistung derjenigen Kinder, die sich im Schulzimmer kaum konzentrieren könnten.

Hermann Siegenthaler fordert in seinem Lehrbuch zum Gedankenspiel auf, Musik als unser Geschöpf zu betrachten, das fähig ist, uns im Innersten unseres Wesens anzusprechen und zu verwandeln. Die achtjährige Hannah sagt es in ihren Worten: «Es ist gut, dass ich beim Musik­machen ganz in mir selber drin bin.» Und sie fügt strahlend hinzu: «Die Musik ist dann mit mir und ich mit ihr.»

Musik im Familienalltag – Tipps für musikalische Erlebnisse mit den eigenen Kindern

Hören Sie gemeinsam Musik oder singen zusammen? Haben Sie schon einmal das Radio lauter gedreht und sind mit Ihrem Sohn durch die Wohnung getanzt? Teilen Sie Ihre musikalischen Erlebnisse und Familienrituale oder schicken Sie Ihre Frage zum Thema Kind und Musik an: redaktion@fritzundfraenzi.ch

Sibylle Dubs
ist freie Autorin. Die Musikpädagogin übt selber viel mehr, seit das Klavier zu Hause in der Küche steht. Der Esstisch wurde ins Wohnzimmer ausquartiert. Doch auch wenn die Musik in den Alltag integriert ist, müssen ihre Kinder Teenager noch regelmässig ans Spielen erinnert werden.

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