«Bei einer Rechenstörung ist Abwarten die falsche Strategie» -
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«Bei einer Rechenstörung ist Abwarten die falsche Strategie»

Lesedauer: 2 Minuten

Rund sechs Prozent aller Kinder in der Schweiz leiden unter einer Rechenstörung. Eine Früherkennung kann vor Frust sowie Versagensängsten schützen und psychische Folgeprobleme vermeiden, sagt die Neurowissenschaftlerin Karin Kucian im Interview.

Interview: Stefanie Wolff-Heinze
Bild: Adobe Stock & zVg

Frau Kucian, was genau passiert im Gehirn eines Kindes mit einer Rechenstörung, das eine Matheaufgabe lösen soll?

Der Mensch benötigt ein komplexes neuronales Netzwerk, das verschiedenste Hirnareale miteinschliesst, um eine Rechenaufgabe lösen zu können. Mittels bildgebender Verfahren konnten wir zeigen, dass Kinder mit einer Dyskalkulie, also einer Rechenstörung, jene Regionen dieses Netzwerkes, die für das Rechnen am wichtigsten sind, weniger gut aktivieren können. Andererseits zeigen Kinder mit Dyskalkulie vermehrte Aktivität in Regionen, die eher für übergeordnete kognitive Prozesse – wie etwa Aufmerksamkeit – verantwortlich sind. Kinder ohne Dyskalkulie lernen mit der Zeit, Rechenaufgaben immer automatisierter zu verarbeiten, und benötigen dazu vermehrt nur noch die Kernareale ihres Gehirns. Bei Kindern mit Dyskalkulie beobachten wir hingegen diese Fokussierung der Hirnaktivität auf diese Kerngebiete nicht.

Die Neurowissenschaftlerin PD Dr. sc. nat. Karin Kucian ist auch Pädagogin. Sie ist Expertin im Bereich Dyskalkulie und erforscht in ihren wissenschaftlichen Studien am Zentrum für MR-Forschung des Universitäts-Kinderspitals Zürich und am Universitären Forschungsschwerpunkt «Plastische Hirnnetzwerke für Entwicklung und Lernen» die neuronalen und Verhaltens-Merkmale von numerischer Kognition und Dyskalkulie sowie deren Entwicklung.

In welchem Alter zeigen sich die ersten Symptome einer Rechenstörung? Und was ist dann zu tun?

Die ersten Anzeichen einer Dyskalkulie zeigen sich bereits sehr früh – vor dem Eintritt in die Schule. Zum Beispiel beobachtet man bei Vorschulkindern Schwierigkeiten beim Vergleichen von Mengen oder dem Zählen. Erst mit dem Schulstart werden die Probleme sichtbar: So rechnen Betroffene vermehrt durch Abzählen. Sie nehmen dazu ihre Finger zu Hilfe. Das Rückwärtszählen sowie Zehnerübergänge sind schwierig, Rechenzeichen werden vertauscht und es passieren Zahlendreher. Ein wichtiger Hinweis auf eine Dyskalkulie ist zudem, dass sich trotz intensivem Lernen die Probleme beim Rechnen nicht lösen lassen. Die meisten Kinder werden aber erst spät diagnostiziert. Dies führt dazu, dass sie jahrelange Misserfolge und Frustration in der Schule erleben und dies zu starken emotionalen und psychischen Folgeproblemen führen kann. Folglich sollten Lehrpersonen und Eltern aufmerksam die numerische Entwicklung des Kindes beobachten und bei Auffälligkeiten eine gezielte Dyskalkulie-Abklärung in Betracht ziehen.

Ist Dyskalkulie therapierbar?

Es ist äusserst wichtig, dass Kinder mit Dyskalkulie so früh wie möglich identifiziert werden, um die negative Abwärtsspirale von Versagen und steigender psychischer Belastung zu stoppen. Abwarten ist die falsche Strategie. Wir wissen, dass Dyskalkulie eine persistierende Lernstörung ist und unbehandelt bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt. Je früher ein Kind gezielt unterstützt werden kann, desto besser sind die Erfolgschancen!

Kosmos-Kind-Vortrag: «Dyskalkulie – wie das Gehirn rechnen lernt»

Mehr zum Thema erfahren Sie im «Kosmos Kind»-Vortrag «Dyskalkulie – wie das Gehirn rechnen lernt» von PD Dr. Karin Kucian. Den Vortrag vom 16. Mai 2023 in der Stiftung. Für das Kind. Giedion Risch können Sie hier nachgucken.

Tickets für aktuelle Vorträge unter: www.fuerdaskind.ch/vortragszyklus

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Stefanie Wolff-Heinze
ist Kommunikationsverantwortliche bei der «Stiftung.Für das Kind». Die Politologin ist auch Mitglied der Geschäftsleitung.

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