Familienpolitik im Fokus
Welche Entwicklungen prägten die Familienpolitik hierzulande? Wo steht sie heute und wo muss sie handeln? Diese und weitere Fragen beleuchtet das neue, über 400 Seiten starke Werk «Familienpolitik in der Schweiz».
Familienpolitik ist ein medialer Dauerbrenner. Es ist aber schon mehrere Jahre her, dass ein Buch darüber erschien. Mit «Familienpolitik in der Schweiz» liegt eine Neuerscheinung vor, die das Thema einem breiten Publikum erschliessen möchte. Das Buch beleuchtet den Wandel der Familie im Kontext gesellschaftlich-historischer Entwicklungen, wirft aber auch einen Blick auf zukünftige Herausforderungen. Fakt ist: Viel hat sich getan, und ebenso viel bleibt noch zu tun.
Die Familie ist nicht nur eine Gruppe von Menschen, sondern eine rechtlich anerkannte Einheit. Sie dient als Ansprechpartnerin für viele Akteure, etwa für den Staat oder die Schule, und erhält damit eine öffentliche Dimension. Daher ist es legitim, eine Familienpolitik zu entwickeln, die sich auf die Familie als Einheit konzentriert, welche Form diese auch immer annehmen mag.
Die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter hat bewirkt, dass das klassische Familienbild infrage gestellt wird.
Die ersten familienpolitischen Interventionen zielten auf das klassische Familienbild ab, das dem Vater die Rolle als Alleinverdiener und Familienoberhaupt und der Mutter die Verantwortung über Kindererziehung und Haushalt zuschreibt. Diese Konstellation wird der heutigen Realität kaum mehr gerecht. Die Familie hat sich im Lauf des 21. Jahrhunderts grundlegend verändert – anstelle eines eng definierten Konstrukts ist die Vielfalt gerückt. Es gibt heute nicht mehr nur die eine, sondern ganz unterschiedliche Varianten, Familie zu leben. Dieser Tatsache muss eine zeitgemässe Familienpolitik gerecht werden.
Neues Bewusstsein und alte Zöpfe
Gesellschaftliche Entwicklungen sind die treibende Kraft hinter besagten Veränderungen: Es schwindet der Einfluss von Traditionen, Geschlechterstereotypen bröckeln, der Bildungsstand steigt – insbesondere der Frauen, die sich immer stärker im Arbeitsmarkt engagieren.
Genau genommen gehen heute fast 80 Prozent der Frauen einer beruflichen Tätigkeit nach, und an den Universitäten ist das weibliche Geschlecht in der Mehrheit. Ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Frauen genauso betrifft wie Männer, im 21. Jahrhundert nicht ein legitimer Wunsch? Zumal es auch anderweitig gute Gründe gibt, der Familie unter die Arme zu greifen: Sie vollbringt unverzichtbare Leistungen, die nicht in die Berechnung des Bruttoinlandprodukts einfliessen. Denken wir etwa an die Unterstützung betagter Eltern oder an die Betreuung von Kindern.
All diese Aufgaben, so selbstverständlich sie erscheinen mögen, stellen Kosten dar, sobald nicht die Familie, sondern die Gesellschaft sie übernimmt. Auch vor diesem Hintergrund nimmt Familienpolitik eine immer wichtigere Stellung ein. Die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter hat bewirkt, dass demokratische Regeln greifen und das klassische Familienbild infrage gestellt wird. Gleichzeitig haben Traditionen, Stereotypen, Werthaltungen und Schuldgefühle einen langen Atem. So befindet sich die heutige Familie in einem Spannungsfeld zwischen Idealvorstellung und Realität, was zuweilen zu Brüchen und Instabilität führt.
Betrachten wir die erfreuliche Entwicklung der Frau in der Gesellschaft – im Bewusstsein, dass bis zur Gleichberechtigung noch viele Hindernisse zu überwinden sind –, sollten wir ein anderes Familienmitglied nicht vergessen, dessen Bedeutung immer wichtiger wird: das Kind.
Seit den Siebzigerjahren zeigt die Geburtenrate nach unten – überspitzt gesagt steht der Erhalt der Gesellschaft auf dem Spiel.
Der Blick der Gesellschaft auf den Nachwuchs hat sich stark verändert. Nicht nur ist das Kind mittlerweile offiziell zu einem Rechtssubjekt avanciert und wird als eigenständiges Individuum betrachtet – die Politik macht auch sein Entwicklungspotenzial zu ihrem Anliegen. Der Ausbau von staatlichen Kindertagesstätten und diverse Interventionen zur Frühförderung in der Altersgruppe von null bis vier Jahren sind ein gutes Beispiel dafür.
Seit den Siebzigerjahren zeigt die Geburtenrate nach unten – überspitzt gesagt steht der Erhalt der Gesellschaft auf dem Spiel. So ist es wenig erstaunlich, dass Kindeswohl und Kinderrechte sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene noch nie so stark im Fokus standen wie heute.
Die nächsten Hürden auf dem Weg
Die Lebenserwartung ist gestiegen und die Sterberate gesunken. Dies erweitert die Gesellschaft um die Kategorie der Rentnerinnen und Rentner. Heute sind sich die meisten politischen Akteure bewusst, dass wir eine Politik brauchen, die Beziehungen zwischen den Generationen fördert und Familienmitglieder bei der Betreuung und Pflege von Kindern, Eltern und weiteren Angehörigen unterstützt. Kindheit und Alter haben damit einen wichtigeren sozialen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Stellenwert bekommen. Damit einher gehen erweiterte und umfassendere rechtliche Grundlagen. Kinderschutzstandards, die Anerkennung neuer Familien- und Lebensformen, die Gleichstellung der Geschlechter, das Scheidungsrecht oder die Ehe für alle zeigen, dass das Recht auf die Entwicklung der Gesellschaft reagiert, wenn auch bisweilen verzögert. Solche gesetzlichen Regelungen ermöglichen es, die Anerkennung der Rechte und Pflichten der Familien und ihrer Mitglieder untereinander und gegenüber der Gesellschaft zu verankern.
Themen, die Familien im Kern betreffen, gehen weit über Aspekte wie die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit hinaus. Handlungsbedarf zeigt sich beispielsweise in der Steuerpolitik, bei den materiellen Entbehrungen, die gewisse Familien auf sich nehmen müssen, beim Frauenmangel in Führungspositionen oder im Hinblick auf unterbrochene Berufskarrieren und damit verbundene Folgen. Es sind diese und weitere Themenbereiche, die das Buch «Familienpolitik in der Schweiz» aus politischer, juristischer, wirtschaftlicher und historischer Perspektive beleuchtet.