Eltern loben ihr Kind wegen einer guten Schulnote, schimpfen über die Nachbarin oder werden ungeduldig, wenn sie gestresst sind. Ständig kommunizieren wir verbal und nonverbal, bewusst und unbewusst mit unseren Kindern – und all das prägt sie. Was immer wir als Eltern tun oder lassen, sagen oder nicht sagen, hat einen Einfluss. Was wir ihnen gezielt beibringen, zum Beispiel «Bitte» und «Danke» zu sagen, ist Erziehung. Die Erziehung ist ein Teil der Prägung, aber diese umfasst weit mehr.
Eine schwierige Kindheit muss nicht in ein belastetes Erwachsenenleben führen – das gilt auch für das Gegenteil.
Prägung ist ein komplexer Vorgang – und Mama und Papa sind bei Weitem nicht die einzige Variable. Zwar habe die zunehmende Individualisierung in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass die Gesellschaft die Verantwortung für die Kinder weitgehend den Eltern übertragen hat, wie es der Schweizer Entwicklungspädiater Oskar Jenni beschreibt. Doch könnten Mütter und Väter den Lebensweg ihrer Kinder nicht so steuern, wie sie es vielleicht möchten. Andere Einflussfaktoren spielten ebenfalls eine gewichtige Rolle.
Was prägt einen Menschen? Welchen Nutzen hat Prägung evolutionsbiologisch? Wie sehr beeinflusst die Prägung unsere Entscheidungen und unser Handeln? Und kann man sich von seinen Prägungen lösen? Diesen und weiteren Fragen möchte dieses Dossier auf den Grund gehen.
Das Fundament wird früh gelegt
Zunächst einmal: Die Prägung eines Menschen ist ein Zusammenspiel von genetischer Veranlagung, Umwelt und Persönlichkeit. Unbestritten ist, dass in den ersten Jahren das Fundament gelegt wird für das ganze Leben. Unsere Prägung bestimmt mit, in wen wir uns verlieben, was uns wichtig ist im Leben oder welche Partei wir wählen. Und doch sind viele Zusammenhänge unerforscht.
Klar ist: Eine schwierige Kindheit führt nicht direkt in ein belastetes Erwachsenenleben. Umgekehrt ist ein unbeschwertes Aufwachsen keine Garantie für ein zufriedenes Leben. Es gibt Risikofaktoren, die psychologische Schwierigkeiten begünstigen, und Resilienzfaktoren, die ein zufriedenes Leben wahrscheinlicher machen.

Der Begriff Prägung stammt ursprünglich aus der Verhaltensforschung, wo er das Phänomen beschreibt, dass sich Jungtiere auf bestimmte Objekte fixieren und diese als Bezugsperson annehmen. Bekannt ist die Forschung des österreichischen Nobelpreisträgers Konrad Lorenz, der zeigte, dass Gänseküken das erste sich bewegende Objekt, das sie nach dem Schlüpfen sehen, als «Mutter» prägen.
Im psychologischen Kontext wird der Begriff Prägung erweitert und bezieht sich auf die langfristigen Auswirkungen von Erfahrungen im Kindesalter. Im Gegensatz zu anderen Formen des Lernens ist die Prägung relativ stabil – aber dennoch veränderbar.
Prägung ist sinnvoll
Prägung beginnt im Mutterleib. Der Fötus schmeckt, hört, bekommt Stresshormone der Mutter mit. Während der Schwangerschaft sind die neuronalen Strukturen des Ungeborenen besonders empfindlich und damit anfällig gegenüber äusseren Einflüssen. Selbst nach der Geburt ist das Gehirn noch lange nicht ausgereift und alles, was das Kind erlebt, nimmt es meist unbewusst auf.
Ein Kind verfügt über die Fähigkeit, sich in jede x-beliebige Kultur hineinzulernen.
Lutz Jäncke, Neuropsychologe
Dass sich das Kind so gut wie möglich an seine Umwelt und seine Bindungspersonen anpasst, ist aus biologischer Sicht sehr sinnvoll. Denn der Mensch wird hilflos und abhängig geboren. «Ein Kind verfügt über die Fähigkeit, sich in jede x-beliebige Kultur hineinzulernen», sagt Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, im Podcast «1 Stunde 1 Thema». Das äusserst plastische Gehirn sei eine Besonderheit des Menschen. Um überleben zu können, müsse sich das Kind an das Regelsystem anpassen, in das es hineingeboren werde.
Das Kind tut alles dafür, um eine gute Bindung zu seinen Bezugspersonen aufzubauen, damit sich diese um es kümmern und es nicht verhungern lassen. Alles, was das Kleine mitbekommt, brennt sich ins Gedächtnis ein. Je öfter es etwas erlebt, desto tiefer werden diese Spuren. «Wird ein Gebiet des Gehirns immer wieder aktiv, verändert es sich anatomisch», erklärt Jäncke.
Worin wir geprägt werden
Die frühen Erfahrungen beeinflussen unser späteres Denken, Fühlen und Handeln. In der Kindheit wird die Basis geschaffen dafür, wie wir der Welt begegnen. Wir werden darin geprägt, ob uns der Gemeinsinn oder der individuelle Erfolg wichtiger ist. Ob wir das Glas tendenziell halb voll oder halb leer sehen. Wie wir politisch ticken.
In der Kindheit wird angelegt, wie man sich in Beziehungen verhält und ob man fähig ist, verbindliche Bindungen einzugehen. Wie man mit Emotionen und Stress umgeht. Und ob man sich von seinen nächsten Bezugspersonen hinreichend versorgt, akzeptiert und gehört fühlt, sodass man ein Urvertrauen entwickeln kann, das einen durchs Leben trägt.
Es gibt zahlreiche Faktoren, die beeinflussen, wie und zu wem wir werden. Die wichtigsten sind die Gene, die Familie, das erweiterte Umfeld sowie unsere Vorfahren.
Die Rolle der Gene
Mutter und Vater geben ihren Kindern einen genetischen Bauplan mit: die Veranlagung für die Augenfarbe, die Körpergrösse oder Krankheiten. Neuere Forschungsarbeiten zeigen, dass nicht nur Körperliches, sondern auch Lebenserfahrungen biologisch weitergegeben werden können. Die Gene reagieren auf Umwelteinflüsse – besonders auf schädliche.
Durch die gemeinsame Zeit im Mutterleib binden sich Zwillinge zuerst aneinander und erst dann an die Mutter.
Ilka Poth, Zwillingsexpertin
Erlebnisse wie Hunger, Stress, Gewalt oder Vernachlässigung hinterlassen durch biochemische Prozesse Spuren, die an die nächste Generation vererbt werden können und ein Neugeborenes von Anfang an prägen. Man spricht von epigenetischen Mechanismen. Diese steuern, welche Gene in einer Zelle aktiv sind und welche stummgeschaltet werden.
Die Rolle der Familie
Das elterliche Verhalten ist relevant für die Entwicklung eines Kindes, doch es führt nicht immer zur selben Prägung. Denn Prägung ist keine Einbahnstrasse. Das Kind und seine Umwelt beeinflussen sich wechselseitig. Die deutsche Psychologin Stefanie Stahl zeigt dies in ihrem Buch «Vom Jein zum Ja!» anhand eines Beispiels.
Angenommen, ein Kind ist wenig verschmust. Ignoriert die Bezugsperson die Distanzsignale und herzt das Kind mehr, als diesem lieb ist, lernt es früh, dass seine Grenzen nicht respektiert werden. Es könnte sich zu einem bindungsängstlichen Erwachsenen entwickeln.
Dieselben Eltern würden bei einem «Kuschelkind» keinen übergriffigen Eindruck hinterlassen. Möglich wäre auch, dass die Bezugsperson gekränkt auf die Zurückweisung ihres Kindes reagiert und sich distanziert. Sie wäre also eine kühlere Mutter oder ein kühlerer Vater als bei einem Kind mit mehr Kuschelbedarf.
Unterschiedliche Prägung bei Geschwistern
Dass identische Lebensumstände bei verschiedenen Individuen andere Spuren hinterlassen, zeigt sich auch bei Geschwistern. «Geschwister können sehr unterschiedlich geprägt sein – trotz gleicher Eltern», sagt Ilka Poth, Coach für Zwillinge und Eltern aus Hamburg.
Durch seinen Charakter reagiere jedes Kind anders auf die Erziehung der Eltern. Zudem wachsen die Geschwister zwar im gleichen Umfeld auf, doch der Altersabstand, die Stellung innerhalb der Familie (Erstgeborene, Zweitgeborene …), die Geschlechterkonstellation oder wie die Eltern mit Geschwisterdynamiken umgehen, spielen ebenfalls eine Rolle.
Erziehung kann man nicht denken ohne das, was rundherum ist.
Kira Ammann, Erziehungswissenschaftlerin
Besonders prägend ist das Aufwachsen als Zwilling. «Durch die gemeinsame Zeit im Mutterleib binden sich Zwillinge zuerst aneinander», erläutert Poth, «und erst dann an die Mutter.» Zwillinge entwickeln eine gemeinsame Identität, auch weil sie aufgrund des gleichen Alters parallel durch die Kindheit gehen.
«Später müssen sie lernen, sich als eigenständige Individuen wahrzunehmen und abzugrenzen.» Kinder würden grundsätzlich von sich aus nach Unterschieden suchen und sich innerhalb des Systems nach einer Nische umsehen, die noch nicht besetzt ist, betont die Zwillingsexpertin. «Dadurch entsteht in jeder Familie eine eigene Dynamik.»
Prägend ist zudem die Familienkonstellation und -situation: Mit wem wächst das Kind auf? Ist ein Elternteil alleinerziehend? Gibt es Grosseltern, die den Kontakt zum Kind pflegen? Oder einen Patenonkel, der als Vorbild dient? Wie geht es der Familie wirtschaftlich?
Die Rolle der Umwelt
Die Umwelt spielt ebenfalls eine Rolle bei der Prägung eines Kindes: die Peers, Lehrpersonen, die Wohnumgebung, das Bildungssystem, die Kultur und der Zeitgeist. «Erziehung kann man nicht denken ohne das, was rundherum ist», sagt Kira Ammann, Erziehungswissenschaftlerin und Oberassistentin an der Universität Zürich.
Ein Kind wächst in Kriegszeiten oder während einer Hungersnot anders auf als in einer friedlichen Epoche mit guter Ernährung. Eltern, die ums Überleben kämpfen oder 15 Stunden pro Tag in der Fabrik arbeiten müssen, haben eher keine Kapazitäten, über bedürfnisorientierte Erziehung nachzudenken. Je nachdem, wie der Alltag aussieht und welche kulturellen Normen gelten, gehen Erwachsene anders mit Kindern um.
Was unseren Eltern und Grosseltern verloren ging, versuchen wir in unserem Leben zu erreichen.
Sabine Lück, Familientherapeutin
Es komme auch darauf an, wer das Sagen habe in der Gesellschaft, sagt Ammann. Sind es die Männer, die Kirche, die Wissenschaft – oder alle Mitglieder? Gesellschaftliche Wertvorstellungen und ethisch-moralische Haltungen werden laut Kira Ammann insbesondere im Umgang mit Kindern sichtbar.
Kultur prägt Erziehungsstil
Der Erziehungsstil wird zudem geprägt durch die Tugenden, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Stehen Gehorsam und Pflichterfüllung an oberster Stelle, sind die Eltern eher streng und autoritär, um ihre Kinder bestmöglich auf das Erwachsenenleben vorzubereiten. In einer wettbewerbsorientierten Kultur wie den USA kontrollieren und pushen die Eltern ihre Kinder stark.
Anders verhält es sich in einem Wohlfahrtsstaat wie der Schweiz, der Freiheiten zulässt und weniger kontrolliert. Da ist auch der Erziehungsstil tendenziell demokratischer. Dies geht aus dem «World Parenting Survey» hervor, in dem Forschende des Jacobs Center for Productive Youth Development an der Universität Zürich 2023 untersucht haben, wie Eltern ihre Kinder rund um den Globus erziehen.

Natürlich existieren zu jeder Zeit und in jeder Kultur verschiedene Erziehungsstile nebeneinander. Doch der aktuelle Zeitgeist führt zu kollektiven Glaubenssätzen. Es prägt ein Individuum, ob in der Gesellschaft die Idee weit verbreitet ist, dass man Kinder nach seinen Vorstellungen formen kann. Oder ob Erziehung in Familie und Schule als Prozess mit offenem Ausgang gesehen wird, wie es heute hierzulande eher üblich ist.
«Für viele Eltern der jüngeren Generation gehört es heute zum guten Ton, dass man sich aktiv mit Erziehung auseinandersetzt», sagt Kira Ammann. Dazu braucht es zeitliche Kapazitäten, aber auch das Vorhandensein und den Zugang zu pädagogischem Wissen. «Durch die sozialen Medien, welche die Eltern konsumieren, geht es heute viel schneller als in der Vergangenheit, bis neue Ideen bei ihnen ankommen.»
Die Rolle der Vorfahren
Nicht nur die Geschichte der Gesellschaft als Ganzes hat einen Einfluss darauf, wie Eltern ihre Kinder erziehen und prägen, sondern auch die Familiengeschichte. Die Schicksale der Vorfahren sind relevant. Die Auswirkungen eines erlittenen Traumas können über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden.
«Wir streben nach Ausgleich und versuchen das, was unseren Eltern und Grosseltern verloren ging, in unserem Leben zu erreichen», schreibt die deutsche Familientherapeutin Sabine Lück in ihrem Buch «Vererbtes Schicksal». «Haben diese zum Beispiel Haus und Hof und allen Besitz auf der Flucht zurückgelassen, ist für uns vielleicht der Bau eines eigenen Häuschens das Allerwichtigste.» Lück spricht von einem Treuevertrag, den wir unbewusst mit unseren Vorfahren abgeschlossen haben. Dieses Päckchen haben wir nicht bestellt und tragen es dennoch mit uns herum.
Wie die vielen Einflüsse genau zusammenspielen, um die individuelle Prägung zu formen, ist noch Gegenstand der Forschung.
Traumata können via Gene biologisch über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden. In ihrem neuen Buch «Vererbtes Glück» betont Therapeutin Lück aber, dass nicht nur Negatives, sondern auch die Resilienz – also die psychische Widerstandskraft – an die nächsten Generationen übertragen werden kann.
Ein virtueller Flipperkasten
So viel zu den wichtigsten Einflussfaktoren. Doch wie spielen Gene, Erziehung, Charakter, Umgebung, sozioökonomische Situation und Zeitgeist zusammen, sodass sich die individuelle Prägung eines Menschen ergibt? Einen lockeren Zugang zum Zusammenspiel der verschiedenen Einflüsse bietet ein virtueller Flipperkasten, den man online spielen kann.
Entwickelt wurde das Game von Bildungsforschenden des Max-Planck-Instituts in Berlin. Zu Beginn bekommt man einen Ball, dessen Grösse mit der genetischen Veranlagung und der sozioökonomischen Situation der Familie zusammenhängt, die man im Spiel zufällig zugewiesen erhält. Mit einem grösseren Ball startet man besser ins Leben beziehungsweise Spiel, denn das Spielfeld hat Löcher, durch die nur kleine Bälle fallen.
Punkte sammelt man, indem man mit dem Ball Gesundheits-, Status- und Bildungsziele trifft. Positiv ins Gewicht fallen etwa gesundes Essen, eine Zahnversicherung oder Nachhilfe. Je mehr Punkte man sammelt, desto erfolgreicher verläuft das weitere Leben.
Wie funktioniert Prägung?
Wie die vielen Einflüsse genau zusammenspielen, um die individuelle Prägung zu formen, ist noch Gegenstand der Forschung. «Studien, die mehrere der Faktoren miteinander kombinieren, gibt es bislang wenige», sagt Flavia Wehrle vom Kinderspital Zürich. «Meistens wird ein Faktor herausgepickt, zum Beispiel die Entwicklung der Intelligenz oder die Frage, was Vorlesen bewirkt», erläutert die Entwicklungswissenschaftlerin.
Das kognitive Potenzial kann nur ausgeschöpft werden, wenn die Umweltbedingungen gut sind.
Flavia Wehrle, Entwicklungswissenschaftlerin
Zudem werde in den meisten Studien nur eine kurze Zeitspanne betrachtet – etwa die Auswirkungen von häufigem Vorlesen im Kleinkindalter auf den Schulstart. Dies möchten Wehrle und ihr Team im Rahmen des Projektes «An Integrative Lifespan Approach to Health and Development» ändern, indem sie die gesamte Lebensspanne betrachten und gleichzeitig mehrere Punkte kombinieren.
Einzigartiges Studienprojekt
Die Forschungsgruppe geht der Frage nach, welche Faktoren in der Kindheit zu einem gesunden Leben beitragen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten mit den Daten der Zürcher Longitudinalstudien, die auch die Grundlage für die Buchklassiker «Babyjahre» und «Kinderjahre» des renommierten Schweizer Kinderarztes Remo Largo waren.
Seit den 1950er-Jahren werden in Zürich fast 1000 Personen von Geburt an begleitet, immer wieder befragt, beobachtet und untersucht – diese Datenfülle über die ganze Lebensspanne ist weltweit einzigartig. Da die ältesten Studienteilnehmenden inzwischen um die 70 Jahre alt sind, ist es dem Zürcher Forschungsteam möglich, die langfristigen Auswirkungen von Prägungen im Kindesalter zu untersuchen.

Ein Thema ist zum Beispiel die Frage, wie stark gesundheitliche Probleme am Lebensanfang die Gesundheit im Erwachsenenalter prägen. «Lange hatte man die Vorstellung, dass biologische Risiken wie eine Frühgeburt oder ein Herzfehler den grössten Einfluss auf die spätere Gesundheit haben», sagt Wehrle.
«Mittlerweile wissen wir, dass medizinische Probleme zwar tatsächlich ein Risikofaktor für atypische Entwicklungsverläufe sind, dass sie aber nicht alles erklären.» Das soziale Umfeld habe zum Beispiel einen sehr bedeutenden Effekt auf die Gesundheit.
Was prägt mehr: Gene oder Erfahrungen?
Wehrle vertritt die noch zu überprüfende These, dass für das spätere psychische und physische Wohlbefinden eines Menschen sozioökonomische Faktoren wie die Ernährung, physische Aktivität oder kognitive Stimulation und vor allem die Beziehungsqualität in der Familie relevanter sind als die biologische Veranlagung.
Das sehe man zum Beispiel beim Thema Intelligenz: Das kognitive Potenzial sei genetisch festgelegt. «Doch das Potenzial kann nur ausgeschöpft werden, wenn die Umweltbedingungen gut sind.»
Die Gretchenfrage lautet: Was prägt ein Kind mehr, die Gene oder die Erfahrungen, die es macht? Diese Thematik wird in der Wissenschaft heiss diskutiert und zum Beispiel mithilfe grosser Zwillingsstudien untersucht. Da die Zürcher Forschungsgruppe über kein genetisches Material verfügt, ist dieser Punkt für sie nicht zentral.
Persönlichkeitsentwicklung beginnt im Mutterleib – und endet erst mit dem Tod.
Weitere Themen, denen sie nachgeht, sind die Auswirkungen der Geschwisterbeziehungen, des Bildungsstandes der Eltern oder des schulischen Umfeldes auf die Entwicklung und Gesundheit im Lebensverlauf. «Über die langfristigen Konsequenzen dieser Faktoren weiss man bislang wenig», sagt Wehrle.
Die Kindheit sei für den weiteren Verlauf des Lebens äusserst wichtig, betont die Wissenschaftlerin. In der Forschung sei es zu einem Paradigmenwechsel gekommen: Während sich früher nur Forscherinnen aus dem Bereich Kindheit mit den ersten Lebensjahren auseinandersetzten, interessieren sich nun auch Altersforscher für die Kindheit. Das Bewusstsein, dass die Alterung mit der Geburt beginnt, habe sich durchgesetzt.
Gehirn bis ins Alter lernfähig
Was ein Mensch mit den Genen mitbekommen hat und was er in seinen ersten Lebensjahren erlebt, prägt ihn. Aber wie stabil ist diese Prägung? Ist man seiner Herkunft ausgeliefert? Die Antwort ist sowohl von psychologischer als auch von medizinischer Seite her ein klares Nein. Wer das Pech eines schwierigen Starts hatte, kann lernen, alte Muster zu überschreiben. Das menschliche Gehirn ist in den ersten rund zwanzig Lebensjahren besonders formbar, bleibt aber bis ins Alter lernfähig und modellierbar.
Da die epigenetischen Markierungen auf den Genen veränderlich sind, können stummgeschaltete Gene wieder aktiviert werden. Studien zeigen, dass sich das epigenetische Profil verbessert, wenn Menschen sich beispielsweise gesünder ernähren oder aufhören zu rauchen.
Leben Mäuse, die während ihrer frühen Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht haben, im Erwachsenenalter unter angenehmen Bedingungen, normalisiert sich sowohl ihr eigenes Verhalten als auch das ihrer Nachkommen. Die Epigenetik ist ein relativ junges Forschungsgebiet. Doch gesichert ist: In der Kindheit Erfahrenes muss nicht für alle Tage eingebrannt bleiben. Die Persönlichkeitsentwicklung beginnt im Mutterleib – und endet erst mit dem Tod.