«Hochsensible können schüchtern und extrovertiert sein»  - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Hochsensible können schüchtern und extrovertiert sein» 

Lesedauer: 3 Minuten

Wie zwischen AD(H)S und Hochsensibilität unterschieden wird, darüber ist sich die Fachwelt uneinig. Der These, dass einige betroffene Kinder eigentlich «nur» extrovertierte Hochsensible seien, steht Corinne Huber, Expertin für ADHS und Hochsensibilität, skeptisch gegenüber. Die Erscheinungsbilder seien so vielfältig und vielschichtig wie die Menschen selbst. 

Text: Irena Ristic
Bild: Fotolia & zVg

Dieser Artikel wurde am 25. Mai 2021 aktualisiert.

Frau Huber, was unterscheidet hochsensible Kinder von anderen Altersgenossen?

Zuerst einmal sind wohl alle Kinder zu Beginn ihres Lebens feinfühlig. Doch einige Kinder bringen neuronale Veranlagungen mit, die sie sensibler machen in der Wahrnehmung und im Denken. Hochsensible sind viel reizoffener, als andere. Das bedeutet gleichzeitig, dass das Gehirn länger braucht, um alle Sinneseindrücke zu verarbeiten. Dies kann zu einer Reizüberflutung führen. Die Folge: Betroffene Kinder sind oft zappeliger, zurückgezogener und ermüden schneller. 

Wie erleben Sie hochsensible Kinder in Ihrer Praxis?

Oft sehnen sie sich nach mehr innerer (Gedanken-)Ruhe und sind tief dankbar für Verständnis. Für reizoffene Kinder ist unsere schnelllebige und stetig Reize produzierende Umwelt eine noch grössere Herausforderung, als sie es für die meisten ohnehin ist. Sich zu orientieren, Halt zu finden und nicht auszubrennen, ist für sie besonders anstrengend. Das ist es für hochsensible Erwachsene übrigens ebenso. 
Corinne Huber coacht und berät in eigener Praxis in Basel Erwachsene, Kinder, Eltern und junge Erwachsene mit Hochsensibilität und AD(H)S. Sie ist eidg. dipl. Coach, Heilpädagogin, dipl. Craniosacral Therapeutin und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie ist zudem als Fachreferentin und Gastdozentin tätig.
Corinne Huber coacht und berät in eigener Praxis in Basel Erwachsene, Kinder, Eltern und junge Erwachsene mit Hochsensibilität und AD(H)S. Sie ist eidg. dipl. Coach, Heilpädagogin, dipl. Craniosacral Therapeutin und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie ist zudem als Fachreferentin und Gastdozentin tätig.

Es gibt die Meinung, dass mit AD(H)S diagnostizierte Kinder und Jugendliche eigentlich extrovertierte Hochsensible sind. Wie sind Ihre Erfahrungen dazu?

Ich kann nicht sagen, dass der hyperaktive Hochsensible per se extrovertiert ist und der hypoaktive Typus nur introvertiert. Es gibt viele verschiedene Erscheinungsbilder. Die Varianten scheinen so vielfältig zu sein wie der Mensch selbst. Viele Hochsensible beschreiben sich als schüchtern – doch in bestimmten Situationen sind sie manchmal extrovertiert. Diese Ambivalenz ist auffällig und man findet sie nicht selten auch bei Künstlern. 

Die Unterscheidung zwischen ADHS und Hochsensibilität ist nicht immer so einfach.

AD(H)S im Kindesalter ist weiter erforscht als die Hochsensibilität. Hier steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen. Zudem scheiden sich in der Fachwelt die Geister an der «Hochsensibilität». Die einen berücksichtigen deren eigenständige Existenz oder sehen sie zumindest als Teil-Erscheinungsbild von AD(H)S. Die anderen sind der Meinung, dass Hochsensibilität nur eine andere Bezeichnung für AD(H)S sei und einem Hype gleichkomme, um einer ADHS-Diagnose «auszuweichen». 

Warum wollen Eltern einer ADHS-Diagnose ausweichen?

Vereinfacht gesagt, ist die Diagnose ADHS für Eltern häufig belastend, während Eltern von als hochsensibel bezeichneten Kindern eher stolz darauf sind, ein «aussergewöhnliches» Kind erziehen zu dürfen. Erzieherische oder schulische Probleme, die sich bei Betroffenen beider «Diagnosen» ergeben können, sind meiner Erfahrung nach aber oft ähnlich. 

«Eltern von als hochsensibel bezeichneten Kindern sind eher stolz darauf, ein ‚aussergewöhnliches’» Kind erziehen zu dürfen.»

Sie coachen auch Eltern und Lehrpersonen von hochsensiblen Kindern und solchen mit ADHS. Was raten Sie ihnen?

Eltern und Lehrpersonen sollten darauf achten, nicht unbewusst zu vermitteln, dass die betroffenen Kinder ein «Problem» hätten. Was ich damit sagen will: Fördern Eltern und Lehrpersonen die Stärken und Begabungen, vermittelt dies dem hochsensiblen Kind und Jugendlichen eine positive Grundhaltung. Das stärkt das Selbstwertgefühl und die Widerstandskraft. Prasseln hingegen zu viele negativen Feedbacks oder Ablehnung auf ein Kind ein, wird Fehlverhalten und Versagen kultiviert. Speziell hochsensible Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, verzweifeln regelrecht daran, es nie «richtig» machen zu können. 

Welche Tipps geben Sie hochsensiblen Kindern und Jugendlichen mit? 

Ein Aufenthalt in der Natur ist für hochsensible Kinder und Jugendliche meiner Erfahrung nach sehr wohltuend. Auch sich kreativ zu betätigen, etwa mit Musik und Kunst oder Sport – fern von Leistungsdruck –, fördert die körperliche wie psychische Stabilität. Auf diese Weise schaffen sich Hochsensible Rückzugsorte, wo sie Kraft und Energie tanken können. Sich abzusondern, ist damit aber nicht gemeint. Im Gegenteil: Ich empfehle, den Kontakt mit Gleichaltrigen zu pflegen, um das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken. Ausserdem können Betroffene auch in einem Achtsamkeitstraining oder mit asiatischen Kampfsportarten ihre Konzentrationsfähigkeit und Selbstwahrnehmung trainieren.
Irena Ristic

Irena Ristic
arbeitet seit 2012 als feste freie Online-Redaktorin bei Fritz+Fränzi. Die gebürtige Baslerin bewegt sich gern in freier Natur.

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