Sucht: Gefangen im Verlangen

Aus Ausgabe
11 / November 2025
Lesedauer: 15 min
Experimente mit Rauschmitteln gehören zur Jugend dazu, das wissen viele Eltern aus eigener Erfahrung. Was bei den meisten ein vorübergehendes Phänomen ist, wird einigen aber zum Verhängnis. Warum werden Menschen süchtig und was schützt Heranwachsende vor Abhängigkeit?
Text: Virginia Nolan

Bilder: Marvin Zilm / 13 Photo

Ich war 15 und sah aus wie 12, aber es war einfach, an das Zeug zu kommen: Ecstasy, Kokain, Benzos. Gekifft hatte ich schon früher, bevor ich damit anfing, die Wochenenden beim Vater in Zürich zu verbringen. Mit meiner Mutter gab es damals ständig Streit. Sie war streng, was Handyregeln und Ausgehzeiten betrifft: Ich war der Einzige, der eine Kindersicherung auf dem Gerät hatte und um 22 Uhr zu Hause sein musste.

Mein Vater war nicht der Grund, dass ich immer öfter nach Zürich fuhr – ich wollte Freiheit. Ich fand Anschluss an eine Gruppe von Leuten im Park. Viele von ihnen waren Milchgesichter wie ich, in Clubs hatten wir keinen Zutritt. Sie alle konsumierten, nicht wenig und kein einfaches Zeug. Ich war neugierig und dachte nicht daran, dass etwas schieflaufen könnte.»

Eine Suchtproblematik ist immer multifaktoriell. Sie lässt sich nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen.

Drei Sucht-Geschichten

Ben*, heute 19 Jahre alt, ist einer von drei Mitwirkenden, die in diesem Dossier über ihre Suchterkrankung sprechen. Ihnen wurden unterschiedliche Substanzen zum Verhängnis, doch ihre Geschichten haben vieles gemeinsam. Dass sich die Sucht allmählich einschlich und die Betroffenen sie noch leugneten, als die Folgen offensichtlich waren.

«Ein Jahr lang war ich high zur Schule gegangen und hatte mit Bestnoten abgeschlossen», sagt Noah*, 18. «Warum sollte ich etwas ändern?» Als «Meisterin im Verdrängen» bezeichnet sich Claudia*, 52. «Du besorgst Weisswein, füllst ihn unauffällig in PET-Fläschchen ab. Du ahnst, das ist nicht gut, und schiebst den Gedanken beiseite. Du hast einen tadellos geführten Haushalt, lässt es der Familie an nichts fehlen. Alles ist gut.»

Faktor Familie

Was lässt Menschen zu Drogen greifen? Warum werden manche dabei süchtig und andere nicht? Wie kommt es, dass gerade Jugendliche gerne mit Substanzen experimentieren? Was gibt ihnen im Umgang damit die nötige Stärke? Diese und weitere Fragen greift das vorliegende Dossier auf. Im Fokus steht die Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Cannabis, Medikamenten oder sogenannt harten Drogen.

Wir wollen wissen, was Experimentierfreude von Problemkonsum unterscheidet, wie man mit Teenagern über Drogen spricht – und was zu tun ist, wenn sich der Nachwuchs mit Gras ertappen lässt oder trunken über der Kloschüssel hängt.

Gene spielen eine wichtige Rolle, die Umwelt aber auch. Mal ist das eine stärker, mal das andere.

Wolfgang Sommer, Suchtforscher

Die Suchtforschung beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, was Menschen für Abhängigkeitsprobleme anfällig macht. Fest steht: Eine Suchtproblematik ist immer multifaktoriell. Sie lässt sich nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen, sondern resultiert aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Einflüsse. Forschende haben diesbezüglich mehrere Risikofaktoren identifiziert, angefangen bei den Genen.

«Oft ziehen sich Abhängigkeitserkrankungen wie ein roter Faden durch Familiengeschichten», weiss Philip Bruggmann, Chefarzt beim Arud-Zentrum für Suchtmedizin in Zürich. 40 bis 60 Prozent des Risikos, drogenabhängig zu werden, seien auf unser Erbgut zurückzuführen, schreibt das US-amerikanische National Institute on Drug Abuse. Was heisst das genau?

«Dass Gene eine wichtige Rolle spielen», sagt Wolfgang Sommer, Suchtforscher am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, «die Umwelt aber auch. Mal ist das eine stärker, mal das andere.»

Ben, 19, konsumierte Ecstasy, Koks, Hustensirup, Beruhigungsmittel und Alkohol – bis zum Zusammenbruch.

Gene und Umwelt wirken zusammen

Die Sache sei komplex: «Ein erhöhtes Suchtrisiko lässt sich nicht auf ein spezifisches Gen zurückführen. Vielmehr spielen gegen hundert Gene eine Rolle, die auf unterschiedliche Weise zusammenwirken.» So beeinflussten Genvarianten biologische Vorgänge, aber auch Persönlichkeitsmerkmale, die Menschen für eine Suchterkrankung mehr oder weniger anfällig machten.

Risikofaktoren seien etwa psychische Erkrankungen und die Veranlagung dazu, aber auch Eigenschaften wie eine niedrige Frustrationstoleranz, Probleme mit der Emotionsregulation, geringe kognitive Fähigkeiten oder schwach ausgeprägte Exekutivfunktionen. Letztere sind jene geistigen Fähigkeiten, die uns soziale Anpassung und Kooperation erleichtern, uns ermöglichen, Handlungen zu planen und umzusetzen und eigene Bedürfnisse aufzuschieben.

Genetik ist keine Bestimmung

Die gute Nachricht: Über derlei Fertigkeiten entscheiden nicht allein die Gene. «Wir können sie trainieren», sagt Sommer, «ab frühster Kindheit.» Dies setzt entsprechende Lernerfahrungen voraus, ermöglicht durch verlässliche und liebevolle Bezugspersonen, die dem Kind Entfaltung und geistige Anregung ermöglichen, ihm Werte und Beständigkeit vermitteln.

Ohne diesen Dünger, weiss Sommer, gedeiht selbst der beste Samen nicht. Oder anders gesagt: «Die Genetik ist nicht unsere Bestimmung, sondern eher ein Gerüst, das vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten zulässt.» So könnten gute Umweltbedingungen genetisches Risiko wettmachen. Dagegen sind Vernachlässigung, anhaltende familiäre Konflikte, ein suchtkranker Elternteil sowie Erfahrungen von Traumata Faktoren, die das Risiko für eine Suchterkrankung erhöhen, genauso wie Armut, ein niedriger Bildungsstand oder leichter Zugang zu Drogen.

Du ahnst, das ist nicht gut, und schiebst den Gedanken beiseite.

Claudia, 52

Am stärksten fällt der Faktor Gene ins Gewicht, wenn es um die Abhängigkeit von Stimulanzien geht, sogenannten Aufputschmitteln. Dazu zählen Kokain oder Amphetamine. Das sind chemische Verbindungen, die die Aktivität des zentralen Nervensystems erhöhen und als Wirkstoff in Partydrogen oder – niedrig dosiert – in rezeptpflichtigen Medikamenten wie Ritalin vorkommen.

«Die Abhängigkeit von Stimulanzien geht in hohem Mass auf genetische Ursachen zurück», sagt Sommer. «Beziehungsweise steht sie in engem Zusammenhang mit ADHS – die Störung erhöht das Risiko dafür massiv.»

Abhängigkeit und ADHS

Der Grund dafür liegt dem Forscher zufolge in den neurobiologischen Besonderheiten von ADHS, insbesondere einer veränderten Reaktion auf Dopamin. Der Botenstoff spielt eine zentrale Rolle bei Aufmerksamkeit und Motivation. Ausgeschüttet wird er bei positiven Reizen, wenn wir flirten, Sport machen oder etwas Gutes essen, aber auch bei Gefahr oder Warnsignalen.

«Bei Personen mit ADHS reagiert das auf Dopamin spezialisierte System weniger empfindlich auf solche Reize. Dadurch sind sie schneller ablenkbar und können sich weniger gut konzentrieren», sagt Sommer. «Während Stimulanzien auf die meisten von uns antriebssteigernd wirken, verhelfen sie ADHS-Betroffenen oft zu mehr innerer Ruhe und Klarheit.»

Wir Menschen wollen mit allen Mitteln ungute Empfindungen reduzieren.

Wolfgang Sommer, Suchtforscher

Dieser Selbstmedikationseffekt sowie typische, mit der Störung verbundene zwischenmenschliche und emotionale Probleme machten Heranwachsende mit ADHS empfänglicher für Drogenkonsum im Allgemeinen und Stimulanzienmissbrauch im Speziellen.

«Tatsache ist aber auch», betont Sommer, «dass eine Behandlung mit niedrig dosierten Stimulanzien das Suchtrisiko von ADHS-Betroffenen deutlich reduziert. Denn entsprechende Medikamente helfen ihnen, ihre Reizverarbeitung besser zu regulieren. Darum ist Früherkennung so wichtig.»

Was passiert im Gehirn?

Trotzdem: «Es gibt keine Suchtpersönlichkeit, die zur Abhängigkeit prädestiniert ist», ist Forscher Sommer überzeugt. Vielmehr sei es ein uralter, in uns allen angelegter Lernprozess, der allmählich den Weg in die Sucht ebne. So liege es in der menschlichen Natur, dass wir mit allen Mitteln versuchten, unangenehme Empfindungen zu reduzieren und uns an guten Gefühlen zu erfreuen.

Das Belohnungssystem registriere in der jeweiligen Situation die unerwarteten, positiven Folgen unseres Verhaltens – und generiere ein Lernsignal, damit wir dieses Verhalten in Zukunft wiederholen. «Dieses Belohnungslernen lehrt Menschen und Tiere, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden», sagt Sommer. «Es ist entscheidend zur Herausbildung überlebenssichernder Verhaltensweisen wie Nahrungssuche oder Fortpflanzung.»

Süchtig: eine Mutter schaut auf ein Gewässer.
Claudia, 52, Mutter zweier erwachsener Kinder, versuchte den Schmerz alter Wunden im Alkohol zu ertränken.

Wir konsumieren demzufolge aus vergleichbaren Gründen Substanzen, wie wir meditieren, Sex haben oder Süsses essen. «Mit dem Unterschied, dass Drogen direkter und intensiver in das Belohnungssystem eingreifen als herkömmliche positive Reize.»

Claudia erinnert sich: «Als Teenager schätzten wir alle die Wirkung, die ein Drink hat: Man wird ausgelassen und gelöst, traut sich, Leute anzusprechen.» Noah spielte einst im Kokainrausch um hohe Geldsummen: «Auf Koks bist du voller Energie und traust dir alles Mögliche zu.»

Substanzen machten es möglich, unsere geistige Verfassung einer Situation und ihren Erfordernissen anzupassen, sagt Suchtforscher Sommer, «solange wir sie kontrolliert einsetzen. Mit der Wiederholung steigt das Risiko, die Kontrolle zu verlieren.»

Jugendlichen ist vernunftgeleitetes Denken nur bedingt möglich.

Toni Berthel, Psychiater

Die Pubertät: eine Achterbahnfahrt

Jugendliche gelten als besonders anfällig für Drogenkonsum. «Zunächst sind Experimentierfreude und Draufgängertum Umbauarbeiten im Gehirn geschuldet», weiss Toni Berthel, Psychiater und Suchtexperte aus Zürich. Während der Pubertät wird das Gehirn neu organisiert. Dieser Umbau erfolgt schrittweise. Erst als Letztes, nämlich zwischen 20 und 25 Jahren, kommt der präfrontale Kortex dran, der unter anderem für Impulskontrolle und Planung zuständig ist.

«Bis dahin ist Jugendlichen vernunftgeleitetes Denken nur bedingt möglich», weiss Berthel. Teenager sind demzufolge weniger gut in der Lage, Impulse zu steuern. Und es gelangen – ebenfalls umbaubedingt – weniger stimulierende Reize in ihr Belohnungszentrum. Das bedeutet: In dem Alter braucht es mehr, um einen Kick oder Glücksgefühle zu verspüren.

So ist es einerseits unser Schaltzentrum, das in der Pubertät eine emotionale Achterbahn bewirkt. «Es sind andererseits aber auch die enormen körperlichen Veränderungen, die zu Verunsicherung führen», sagt Berthel. Zeitgleich müssten Heranwachsende ihre zentrale Entwicklungsaufgabe bewältigen: «Sich von zu Hause ablösen, eine eigene Identität entwickeln und ihren Platz in der Gesellschaft finden.»

Damit einhergehende Sorgen und Spannungen gelte es auszugleichen. Dafür, sagt Berthel, gebe es unterschiedliche Strategien: «Man meistert schwierige Gefühle mit Aushalten oder man entzieht sich ihnen durch Betäubung und Flucht.»

Rauscherfahrungen vermitteln Jugendlichen Zugehörigkeit, erleichtern ihnen den Anschluss.

Toni Berthel, Psychiater

Wenn Teenager kiffen, sich betrinken, rauchen oder Partydrogen ausprobieren, geht es laut dem Suchtexperten um mehr als nur Substanzkonsum. «Natürlich finden wir Eltern: Das ist schlecht!», weiss Berthel. «Aber die Jugendlichen konsumieren ja gerade deswegen, weil es sich gut anfühlt.»

«Rauscherfahrungen gehören dazu»

Rausch, also bewusst herbeigeführter Kontrollverlust, habe in unserer Kulturgeschichte eine lange Tradition, wenn es um sogenannte Initiationsrituale geht – Zeremonien, die den Übergang einer Person in die nächste Lebensphase, einen neuen sozialen Status oder eine andere Gruppe markieren.

«Die Jugendphase ist voller Übergänge», sagt Berthel. «Rauscherfahrungen gehören da einfach dazu. Sie vermitteln Jugendlichen Zugehörigkeit und Identität, erleichtern ihnen die Ablösung von den Eltern und den Anschluss unter ihresgleichen.»

Je nach Peergruppe andere Substanzen

Welche Rolle Substanzen im Verlauf einer Jugend spielen, hängt demnach auch von der Peergruppe ab. Wer in den 1900er-Jahren Teenager war, erinnert sich: Skater und Hip-Hopper kifften, Techno-Fans kamen eher mit Ecstasy in Berührung, Alkohol kam nicht nur bei Punks gut an.

Noch heute hat jede Clique ihre Eigenheiten – und für ihre Mitglieder eine zentrale Funktion: Sie ist das Vorzimmer zur Gesellschaft, wo sich Teenager auf deren Herausforderungen vorbereiten und untereinander Entwicklungsprozesse anstossen, die im Elternhaus nicht möglich wären. «Einen Platz in der Gruppe zu haben, ist entscheidend», sagt Berthel. «Darum stossen Eltern auf taube Ohren, wenn sie ihrem Kind aus Angst vor schlechtem Umgang nahelegen, sich neue Freunde zu suchen.»

Jugendlicher, süchtig, geht auf einem Feldweg.
Wie sprechen wir mit Kindern über Drogen? Sollen Eltern, die rauchen, ihr Laster verstecken? Antworten von Fachleuten zu Suchtmitteln, Abhängigkeit und Vorbildfunktion.

Aufklärung ist wichtig

Das neue Smartphone, der erste Monatslohn, Ausgang, Alkohol: «In der Pubertät eröffnen sich Jugendlichen viele neue Angebote», weiss Suchtexperte Berthel. Diese verantwortungsvoll zu nutzen, gelinge meist nicht auf Anhieb.

«Dass es dabei zeitweilig zum Kontrollverlust kommt, ist normal, ebenso, dass Eltern sich Sorgen machen. Im Zusammenhang mit Substanzen gleich von Sucht zu sprechen, ist in den meisten Fällen unbegründet. Wir sollten Jugendliche nicht vorschnell pathologisieren, wenn sie über die Stränge schlagen – die grosse Mehrheit tut dies nur vorübergehend.»

Einen schlimmen Kater will man nicht so schnell wiederholen.

Karina Weichold, Psychologin

Grenzen überschreiten als Entwicklungsschritt

Es ist eine kleine Minderheit der Jugendlichen, die eine Abhängigkeitserkrankung entwickelt, weiss auch Suchtmediziner Philip Bruggmann. «Aufklärung ist trotzdem enorm wichtig», sagt er, «gerade im Hinblick auf neuere Phänomene wie Mischkonsum, den wir vor allem bei Jugendlichen beobachten.»

Manchmal müssten Jugendliche Grenzen überschreiten, um sie zu erkennen, weiss auch Karina Weichold, Psychologieprofessorin an der Universität Jena mit Forschungsschwerpunkt Suchtprävention. Bis zu einem gewissen Grad, sagt sie, habe jugendlicher Leichtsinn eine entwicklungsfördernde Funktion, damit sich Teenager an die zahlreichen Herausforderungen dieser Lebensphase heranwagten.

HINTERGRUNDWISSEN, BERATUNG UND HILFE

Für Jugendliche
  • Antworten auf Fragen rund um Sucht und Substanzen: feel-ok.ch
  • Anonyme Online-Beratung: safezone.ch
  • Persönliche Telefonberatung: 147
  • Hintergrundwissen: Umfangreiche Informationen zu rund 30 Substanzen und ihren Risiken, Nebenwirkungen und Safer-Use-Regeln, spannend, anschaulich und ansprechend aufbereitet: know-drugs.ch
  • Übersicht zu schweizweiten Drug-Checking-Angeboten: infodrog.ch

«Ein Teenager, der betrunken heimkommt, demonstriert damit unter Umständen auch seine Unabhängigkeit den Eltern gegenüber – er will in seiner Entwicklungsaufgabe, autonomere Entscheidungen zu treffen, einen Schritt weiterkommen.»

Wo beginnt Problemkonsum?

Einen vernünftigen Umgang mit Alkohol zu lernen, kann auch bedeuten, es mal damit zu übertreiben, so Weichold: «Wer einen schlimmen Kater durchlitten hat, will die Erfahrung so schnell nicht wiederholen.» Ähnlich sei es beim Konsum von Cannabis. Weichold rät deutlich davon ab, findet aber auch beruhigende Worte: «Wer es ausprobiert, wird nicht gleich zum Dauerkiffer, da müssen weitere Risikofaktoren dazukommen.»

Jugendliche, süchtig: Teenager versteckt sein Gesicht hinter einer verblühten Sonnenblume.
Exzessiver Cannabiskonsum hat Noah, 18, zwei Lehrstellen und vieles mehr gekostet.

Die Psychologin verweist auf Befunde aus mehreren Studien, die zu einem ähnlichen Schluss kamen: Unter den Jugendlichen, die als sozial kompetent, psychisch robust und ebenso solide eingestuft wurden, was ihren Selbstwert betrifft, waren etliche, die mit Marihuana experimentiert hatten, aber nicht regelmässig konsumierten. Den Resultaten zufolge fanden sich in dieser Gruppe mehr stabile Jugendliche als in der Gruppe Gleichaltriger, die übermässig kifften oder Cannabis nie probiert hatten.

Realität ausblenden

Dennoch bleibt die Frage: Wo endet Experimentierfreude und beginnt problematischer Konsum? «Am Anfang gings mir beim Kiffen darum, Spass zu haben», erinnert sich Noah. «Einmal gingen wir direkt danach einkaufen. Mitten im Laden setzte der Lachflash ein. Das war legendär.»

Damals, ist Noah überzeugt, hatte er keine Probleme. «Die kamen, als ich weder Gesellschaft noch einen besonderen Anlass brauchte, um einen Joint zu rauchen», sagt er. «Ich tat es nicht mehr aus Spass, sondern um die Realität auszublenden, Dinge, die schiefliefen.»

Ich wollte irgendwo der Beste sein – auch wenn das nur hiess, derjenige zu sein, der die meisten Pillen nahm.

Ben, 19

Auch Claudia spricht vom Wein als Betäubungsmittel, mit dem sie den Schmerz alter Wunden zu ertränken versuchte. Und Ben konsumierte nach dem Motto «Je mehr, desto besser». «Am Ende ging es mir um Aufmerksamkeit», sagt er. «Ich wollte in irgendetwas der Beste sein, so wie früher in der Schule – auch wenn es nur bedeutete, derjenige zu sein, der die meisten Pillen nimmt.»

Wenn Drogen zur Krücke werden

Wenn uns eine Pille Glücksgefühle beschert, ein paar Drinks einen beschwingten Abend oder der Joint eine Lachnummer, ist das noch kein Grund zur Sorge, weiss Suchtexperte Toni Berthel.

«Problematisch wird es, wenn Spass und soziale Faktoren in den Hintergrund rücken und wir die Substanz allmählich brauchen, um unsere Funktionalität zu stützen: Wenn Antrieb und Entspannung, Glücksgefühle und Konzentration, die Konfrontation mit Problemen und alltäglichen Erfordernissen nur noch mit ihrer Hilfe gelingen.» Oder, wie Psychotherapeutin Kinga Gloor es formuliert: «Wenn die Droge zur Krücke wird.»

Am Erfolg dürfen wir uns freuen, am Misserfolg wachsen wir.

Kinga Gloor, Psychotherapeutin

Oft sind es Jugendliche mit Vorgeschichte, die diese Stütze brauchen, weil sie aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen, ADHS oder psychische Grunderkrankungen haben, weiss die Beraterin und Therapeutin bei der Fachstelle für Abhängigkeitserkrankungen in Bülach ZH. Ihre Erfahrung zeigt aber auch: Die Annahme, dass Suchtprobleme nur diejenigen treffen, die es schon immer schwer hatten, greift zu kurz.

«Die Pubertät ist eine gewaltige Herausforderung in Sachen Emotionsregulation», sagt Gloor, «und zwar für alle. Ich habe viele Klientinnen und Klienten, die vorher völlig unauffällig waren. Ehemalige Klassenbeste etwa, die nicht damit zurechtkamen, dass sie im Gymnasium abgehängt wurden. Wer immer an der Spitze war und sich im Mittelfeld wiederfindet, braucht einen gewissen Selbstwert, um sich nicht entmutigen zu lassen. Ist der nicht so gefestigt, kommt eine Substanz, die alles ein bisschen egaler macht, womöglich gelegen.»

HINTERGRUNDWISSEN, BERATUNG UND HILFE

Für Mütter und Väter
  • Beratung telefonisch und online: Schweizer Elternnotruf, 0848 354 555
  • Übersicht über Beratungs- und Suchtfachstellen nach Wohnkanton, Substanz und Art des Angebots (von Online- und Telefonberatung bis hin zu Therapieplätzen): infodrog.ch
  • Zahlen und Fakten, Informationen zu Prävention, Hilfsangeboten und Forschung rund um Suchtfragen: suchtschweiz.ch
  • Erziehungstipps zur Suchtprävention in einfacher Sprache und mit Erklärvideos: meinteenager.ch
  • Fünf Leitfäden für Eltern zeigen auf, was wir tun können, um Kinder vor Problemen mit Alkohol, Cannabis, Online-Medien, psychoaktiven Medikamenten und Tabak zu schützen. Eltern erfahren Tipps und Rat zu Prävention, Früherkennung und Frühintervention
  • Neun Elternbriefe zur Suchtprävention im Alltag
  • Beratung, Entlastung und Hilfe für Mütter, Väter und Familien, die von Sucht und Armut betroffen sind

Suchtprävention fängt früh an

Sicher ist Gloor zufolge: Suchtprävention fängt viele Jahre vor der Jugend an. Mit Bezugspersonen, die das Kind in seinen Bedürfnissen wahr- und ernst nehmen, ihm Nestwärme geben. Die ebenso seine Selbständigkeit fördern, es eigene Erfahrungen machen lassen und ermutigen, selbst Lösungen zu finden. Die ihm etwas zutrauen, «auch und vor allem, mit Frust umzugehen», sagt Gloor.

«Am Erfolg dürfen wir uns freuen, am Misserfolg wachsen wir.» Da spiele unser Vorbild eine Schlüsselrolle, und zwar im Kleinen: «Wie reagieren wir, wenn uns etwas nicht gelingt? Stecken wir den Kopf in den Sand? Oder bleiben wir dran und sind zuversichtlich, dass es beim nächsten Mal besser läuft?»

Selbstwert, Umgang mit Misserfolg, Selbstwirksamkeit – sperrige Begriffe für die innere Überzeugung, Schwierigkeiten überwinden und Ziele erreichen zu können: Darauf, sagt Gloor, komme es an. «Je stärker Jugendliche da aufgestellt sind, desto eher trauen sie sich zu, Krisen aus eigener Kraft zu bewältigen, statt sich mit Alkohol, Cannabis oder Ähnlichem einen Krückstock zu suchen.»

* Namen von der Redaktion geändert