Herr Bruggmann, das Arud-Zentrum für Suchtmedizin betreut rund 4000 Abhängige, darunter auch Jugendliche. Wie alt sind diese?
Sie sind ein kleiner Teil unserer Patienten. Die meisten sind älter, gegen 18. Es ist nicht so, dass es bei den Jüngeren keinen Bedarf gäbe. Wir haben mehrmals versucht, Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu gewinnen, stellten aber fest, dass die mit Suchtthemen oft wenig vertraut sind. Da besteht eine Versorgungslücke.
Welche Substanzen konsumieren Jugendliche, die Sie behandeln?
Es müssen grössere Probleme vorhanden sein, bis jemand unsere Einrichtung aufsucht. Bei den Jugendlichen sehen wir einerseits diejenigen, die auf Initiative der Eltern hin vorstellig werden, weil es schulisch nicht läuft oder zu Hause Probleme gibt, meist aufgrund von Cannabiskonsum. Andererseits betreuen wir Jugendliche, die den Boden unter den Füssen verloren haben, weil sie Opioid-abhängig sind oder in einem solchen Ausmass Cannabis konsumieren, dass sie den Alltag nicht mehr bewältigen können. Schwere Cannabis-Abhängigkeit äussert sich weniger körperlich, aber durch Folgeerscheinungen wie Schul- oder Lehrausschluss und schwerwiegende familiäre Krisen.

Was hat es mit Opioiden auf sich?
Die Bezeichnung ist ein Sammelbegriff für Substanzen, die an Opioid-Rezeptoren andocken und stark schmerzstillend, beruhigend und euphorisierend wirken. Die Gruppe der natürlichen Opioide bilden die Opiate; das sind direkt aus der Schlafmohn-Pflanze gewonnene Wirkstoffe wie Codein oder Morphin. Dann gibt es halbsynthetische Opioide wie Heroin, das eine chemische Weiterentwicklung von Morphin darstellt, sowie synthetische, also vollständig künstlich hergestellte Opioide wie Oxycodon, Tramadol oder Tilidin. Wir finden sie in mittelstarken bis starken rezeptpflichtigen Schmerzmitteln.
Welche Opioide konsumieren süchtige Jugendliche?
Da hat sich die Situation grundlegend verändert. Es geht nicht mehr um Heroin von der Strasse, im Fokus stehen synthetische Opioide, die als Medikamente gehandelt werden. Jugendliche konsumieren oft Ware aus dem Darknet. Bei manchen führte der Weg in die Sucht über eine angebrochene Medikamentenschachtel aus der elterlichen Hausapotheke. Ich spreche hier nicht von Fiebersenkern, sondern von sehr starken Schmerzmitteln, die man nach Operationen einnimmt. Jugendliche wollten experimentieren und verloren irgendwann die Kontrolle. Opioide haben ein hohes Abhängigkeitspotenzial.
Bei Jugendlichen ist Mischkonsum ein Problem, mit dem wir es immer häufiger zu tun haben.
Und Minderjährige bestellen sie eigenhändig übers Darknet?
Ich vermute, dass die Mehrheit über Zwischenhändler an die Substanzen gelangt. Es deutet vieles darauf hin, dass synthetische Opioide weniger auf dem herkömmlichen Schwarzmarkt gehandelt werden, sondern immer häufiger aus dem Darknet kommen. Dort besteht erhöhte Gefahr, dass Präparate etwas viel Stärkeres enthalten als den angegebenen Wirkstoff. Wir hatten Fälle, in denen aus dem Darknet bestelltes Oxycontin, eigentlich ein mittelstarkes Schmerzmittel, Nitazene enthielt. Das sind synthetische Opioide, die in kleinster Dosis tödlich wirken können für jemanden, der sie nicht gewohnt ist.
Im Ausland häufen sich gravierende Vorfälle mit synthetischen Opioiden, in den USA ist gar eine Epidemie im Gang. Wie schätzen Sie die Lage in der Schweiz ein?
Es ist wahrscheinlich, dass sich Suchterkrankungen und Todesfälle durch synthetische Opioide bei uns häufen werden. Problematisch ist, wie gesagt, deren Verbreitung übers Darknet, wo höchst potente Opioide wie Nitazene oder Fentanyl angeboten werden. Mit den USA ist die Situation aber nicht vergleichbar. Dort hat ein Pharmakonzern ein Oxycontin-Präparat gepusht und als harmlos verkauft, davon wurden Tausende abhängig. Als das Medikament vom Markt genommen wurde, stiegen diese Leute auf Heroin um – und wo dieses Mangelware war, auf Fentanyl. In der Schweiz kann das so nicht passieren. Wir haben viel strengere Zulassungs- und Verschreibungskriterien für Medikamente und sind sehr gut aufgestellt, was die Versorgung von Opioid-Abhängigen betrifft.
Wie stark sind Jugendliche von der Problematik betroffen?
Es geht um eine kleine Minderheit. Trotzdem ist Aufklärung enorm wichtig – und dass wir junge Leute auf das Angebot der Drug-Checking-Stellen aufmerksam machen, die psychoaktive Substanzen kostenlos chemisch analysieren und zudem auf besonders gefährliche Kombinationen hinweisen. Denn gerade bei Jugendlichen ist Mischkonsum ein Problem, mit dem wir es immer häufiger zu tun haben.
Mischkonsum wovon?
In jüngeren Jahren gab es in der Schweiz mehrere Todesfälle von Jugendlichen, die mehrere psychoaktive Substanzen gleichzeitig eingenommen hatten. Sie mischten Codein-haltigen Hustensirup und synthetische Opioide mit Alkohol und anderen Medikamenten wie Benzodiazepinen. «Benzos» wirken angstlösend, beruhigend, muskelentspannend und schlaffördernd. Sie kommen zur Behandlung von Angstzuständen und anderen psychischen Leiden zum Einsatz, etwa unter Handelsnamen wie Xanax, Valium oder Temesta.
Ich wünschte mir, dass Drug-Checking überall etabliert wird. Es rettet Menschenleben.
Wie kommt es zu diesem Phänomen?
Musik und soziale Medien spielen eine wichtige Rolle. So besingen Rapper den Konsum von Xanax, auf Tiktok gibt es Challenges mit «Getränken» wie Lean oder Purple Drank. Diese werden aus Limonade, Bonbons, verschreibungspflichtigem Hustensaft und Medikamenten gemischt – die Anleitung gibt es inklusive. Was cool aussieht, kann tödlich enden, wenn Substanzen zusammentreffen, die einzeln nicht unbedingt gefährlich wären, doch in Kombination eine fatale Wirkung entfalten, etwa zur Atemlähmung führen können.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Wir dürfen Aufklärung nicht sozialen Medien überlassen. Wir sollten mit Jugendlichen offen über Substanzen, deren Wirkung und Konsum sprechen. Die Angst, dass man sie damit verführt, ist eine Fehlannahme. Es ist viel gefährlicher, wenn wir Dinge tabuisieren und Jugendliche ohne Hintergrundwissen etwas ausprobieren. Gerade im Hinblick auf Medikamente sind viele experimentierfreudiger, weil sie denken, Arzneimittel seien ungefährlich.
Ich wünschte mir auch, dass Drug-Checking überall etabliert wird. Manche Regionen sind damit zurückhaltend, weil man befürchtet, dass es den Drogenkonsum fördert. Fakt ist: Drug-Checking rettet Menschenleben. Wir sollten akzeptieren, dass gerade im Jugendalter ein gewisser Konsum stattfindet, und uns dafür einsetzen, dass dabei möglichst wenig Leute zu Schaden kommen.






