«Teilt mir da gerade jemand seine Sorge mit?»
Frau Liussi, warum ist es nicht so leicht, bedürfnisorientiert zu erziehen?
Eltern, die ihre Kinder bedürfnisorientiert erziehen wollen, spüren Herausforderungen in vielerlei Hinsicht. Zuerst sind da die Widerstände von aussen. Dinge, die Menschen im direkten Umfeld zu ihnen sagen, wie: «Du verwöhnst dein Kind!» Weiter ist da die eigene Prägung. Wenn ich es als Kind selbst anders erlebt habe, verfalle ich in Momenten der Überforderung in alte Muster, schreie oder schicke das Kind ins Zimmer.

Oder aber der Partner zieht nicht mit, weil er den Erziehungsstil nicht versteht oder ablehnt. Denn häufig sind es ja die Mütter, die sich entsprechend einlesen und das Wissen dann häppchenweise an ihren Partner weitergeben. Dann ist man als Mutter auch noch dafür verantwortlich, den Partner zu «schulen».
In Ihrem Buch «Selbstbewusst bedürfnisorientiert» geben Sie Tipps, wie Eltern auf Kritik reagieren können. Was entgegnet man bei Aussagen wie «Du verwöhnst dein Kind» am besten?
Mein erster Rat ist: Wähle deine Kämpfe weise. Ist es das jetzt wert, dass ich mit dieser Person in den Dialog gehe? Ist es der Onkel, den ich nur einmal im Jahr an Weihnachten sehe? Oder ist es eine Person, die täglich mit mir und meinem Kind in Kontakt ist und von der ich auch wirklich möchte, dass sie meine Erziehungshaltung versteht? Das sollte man abwägen.
Bedürfnisorientiert ist eine Haltung: Was braucht der Einzelne? Was braucht das Familiensystem? Was brauchen die Leute um uns herum?
Mein zweiter Rat ist dann der empathische Blick hinter das Missverständnis oder den Vorwurf, und zwar: Ist das vielleicht jemand, der mir gerade seine Sorge mitteilt? Wenn beispielsweise die Grossmutter mein Familienbett infrage stellt – sprich die Tatsache, dass wir mit unseren Kindern zusammen in einem grossen Bett schlafen –, dann kann es vielleicht sein, dass sie sich um meine Ehe sorgt. Wenn ich davon ausgehe, dass es erst mal nicht böse gemeint ist, kann ich mit der Person ins Gespräch kommen.
Aber was können Eltern konkret sagen?
Ich kann sagen: «Sorgst du dich? Darf ich dir einmal meine Gedanken dazu schildern und dir sagen, warum du dir keine Sorgen zu machen brauchst?» Das ist schon mal besser als die direkte Konfrontation. Immerhin ist vieles an früheren Erziehungsmethoden noch tief im allgemeinen Bewusstsein verankert. Deshalb können wir annehmen, dass hinter den meisten solcher Aussagen eben keine bösen Absichten stecken.
Man könnte zum Beispiel auch sagen: «Wir wissen heute viel über die kindliche Entwicklung, deswegen haben wir uns entschieden, es anders zu machen. So, wie man sich heute im Auto eben anschnallt, um bei einem Unfall besser geschützt zu sein. Weil die Wissenschaft sich weiterentwickelt hat und wir dem folgen und den besten Weg für unser Kind wählen wollen.» So kann man den Angriff abmildern und seinen eigenen Weg untermauern.
Das Thema bedürfnisorientierte Erziehung ist ja generell mit Irrtümern behaftet. Wie bekommen wir wieder ein klareres Bild davon, was bedürfnisorientiert eigentlich bedeutet?
Wichtig vorab ist die Definition: Bedürfnisorientierung ist eine Haltung, die auf die wichtigsten Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder als System achtet. Diese Haltung ankert im Grunde in zwei wesentlichen Bedürfnissen, dem nach Entfaltung und Entwicklung und dem nach Orientierung. Wenn mein Kind einerseits Autonomie erfährt und sich entwickeln darf, andererseits von mir die Orientierung bekommt, wie das Miteinander funktioniert, dann läuft es gut.
Wenn mein Kind seine eigenen Grenzen erfahren darf und durch mich die Grenzen anderer Menschen, aber auch die Bedürfnisse dieser Gesellschaft verstehen lernt, sind wir auf dem richtigen Weg. Denn Struktur und Orientierung sind für mich auch ein gesellschaftliches Bedürfnis, das ich ebenso meinem Kind mitgeben muss. Ich empfinde mich in der bedürfnisorientierten Haltung stets als Übersetzerin, entweder meiner Bedürfnisse oder der des Umfelds.
Dann geht die bedürfnisorientierte Haltung über die Ebene der Familie hinaus?
Genau. Bedürfnisorientierung ist im Grunde eine Haltung, die uns bis ins Erwachsenenleben der Kinder begleitet, aber auch über die Familie hinausgeht. Nicht alle befürworten den Begriff «bedürfnisorientiert», aber ich mag ihn gerade deswegen so gerne, weil er die Bedürfnisse aller, inklusive der Familie, der Gesellschaft und ihrer Gruppen, mit einschliesst. Dann kann ich mir immer wieder anschauen: Was braucht der Einzelne? Was braucht das Familiensystem? Was brauchen die Menschen um uns herum?
Unsere Kinder wollen Teil der Gesellschaft sein. Im Moment sind ihre Bedürfnisse jedoch fast unsichtbar.
In der Gesellschaft werden kindliche Bedürfnisse ja häufig übersehen.
Kinder brauchen definitiv mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft, ihre Bedürfnisse müssen auch auf dieser Ebene berücksichtigt werden. Beispielsweise sollten sie, finde ich, Mitspracherecht beim Bau eines neuen Spielplatzes haben, nicht nur der Landschaftsarchitekt. Aber Adultismus, also die diskriminierende Haltung gegenüber Kindern, ist tief in der Gesellschaft verwurzelt, das geschieht ja oft nicht absichtlich, sondern es wird einfach nicht an die Kinder gedacht.
Ich finde es ganz wichtig, da auf gesellschaftlicher Ebene anzufangen, denn unsere Kinder wollen Teil der Gesellschaft sein. Und auch das ist ja tatsächlich ein Bedürfnis, nämlich ein soziales. Im Moment sind die Bedürfnisse der Kinder in der Gesellschaft aber fast unsichtbar.
Wie könnte diese Sichtbarkeit verbessert werden?
Nehmen wir das Beispiel Kindertoiletten. Kinder freuen sich unheimlich darüber, wenn sie gesehen werden und teilhaben können, ohne dass sie dafür die Hilfe von Erwachsenen brauchen. Oder eben Mitspracherecht beim Bau eines Spielplatzes, kindgerechte Tische beim Stadtfest, Partizipation im Kindergarten und so weiter.
Oft sind es Kleinigkeiten, die einen grossen Unterschied machen. Und damit geht es natürlich auch um Familienfreundlichkeit, also die Bedürfnisse von Familien. Bedürfnisorientierung funktioniert auf vielen Ebenen und ist eigentlich politisch, weil wir als Gesellschaft menschliche Bedürfnisse einfach beachten müssen. Und dazu gehören natürlich auch die Bedürfnisse von Kindern und Familien.