«Kinder brauchen Eltern, die sich Zeit für sie nehmen»
Kinder- und Jugendpsychologe Fabian Grolimund begleitet das Elternmagazin Fritz+Fränzi seit vielen Jahren als Kolumnist und Dossierautor. Er weiss, welches die grössten Herausforderungen heutiger Eltern sind – und wie sie damit klarkommen.
Fabian, wärst du heute gerne Kind?
Durchaus. Ich finde, wir leben in einer herausfordernden, aber spannenden Zeit. Wenn ich in die Geschichte der Menschheit schaue, würde ich die Zeit meiner Generation oder die jetzige wählen – in der meiner Eltern, Grosseltern oder Urgrosseltern wäre ich sicher weniger gerne Kind gewesen.
Du bist in den 80er-/90er-Jahren gross geworden – inwiefern hat sich die Lebenswelt der Kinder seither geändert?
Ein grosser Unterschied ist sicher die fortschreitende Digitalisierung. Vieles hat sich in den digitalen Raum verlagert, auch Beziehungen werden mehr über die sozialen Medien als im realen Raum gepflegt. Speziell bei den Kindern sehe ich eine Abnahme an Freiräumen. Zu meiner Zeit hat man mit anderen Kindern viel draussen gespielt – oft unbeobachtet. Heute sind diese Räume stark eingeschränkt.
Es gibt viel mehr Anleitung durch Erwachsene und die Kinder verbringen mehr Zeit in Institutionen. All das raubt ihnen Autonomieerfahrungen, die wichtig sind, um ein Gefühl von Selbstwirksamkeit entwickeln zu können.
Eltern gehen aber auch viel mehr auf ihre Kinder ein als früher.
Das stimmt. Viele Eltern bemühen sich viel aktiver um eine gute Beziehung zu ihren Kindern, was etwas Wunderbares ist. Auf der anderen Seite fällt ihnen das Loslassen schwerer. Es fehlt teilweise das Vertrauen, dass das Kind auch etwas alleine meistern oder sich abgrenzen und eigene Wege gehen darf.
Welches sind heute die grössten Herausforderungen für Eltern?
Die beiden Themen, mit denen Eltern häufig auf mich zukommen, sind «Schule» und «Medien». Wie schaffe ich es, dass mein Kind sich für die Schule interessiert, sich motiviert, sich auch einmal überwinden kann, wenn es keine Lust hat? Und wie schaffe ich es, den Medienkonsum zu begleiten und zu regulieren, damit er nicht überhandnimmt?
Wie siehst du denn die Rolle der Eltern in Bezug auf die Schule?
Ganz wichtig finde ich, dass man als Vater und Mutter interessiert ist beziehungsweise Interesse zeigt: Wie geht es meinem Kind in der Schule? Kommt es mit den Lehrpersonen, mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern zurecht? Dieses Interesse an der Person des Kindes halte ich für bedeutsamer, als ständig am Stoff dranzubleiben.
Mittlerweile können viele Kinder schon vor dem Schulstart lesen und schreiben.
Es gibt einen Anteil an Kindern, die sich früh dafür interessieren. Und diese sollte man nicht ausbremsen. Aber wenn in einer 1. Klasse von 20 Kindern bereits 15 schreiben können, glaube ich nicht, dass alle von ihnen so interessiert waren. Es gibt Eltern, insbesondere solche mit akademischem Hintergrund, für die klar ist, dass für ihr Kind nur das Gymnasium und danach ein Studium infrage kommen. Ohne darauf zu schauen, ob es für das Kind auch der beste Weg ist.
Beim Medienkonsum geht es nicht darum, sich sklavisch an Zeitlimits zu halten, sondern mit den Kindern zu vereinbaren, wann ein sinnvolles Ende erreicht ist.
Diesen Druck spürt man in der Schweiz unterschiedlich stark. Wenn man in Zürich in einer bestimmten Gemeinde wohnt und das Kind geht nicht ans Gymnasium, bekommt man sehr schnell den Eindruck: Ich bin eine schlechte Mutter, ein schlechter Vater. Mein Kind hat es nicht geschafft. Woanders ist das nicht so ausgeprägt.
Neben den Noten zählt im Übertrittsverfahren auch die Einschätzung der Lehrperson. Wenn diese nicht das Gymnasium empfiehlt, ist das sicher in vielen Fällen keine einfach zu übermittelnde Botschaft an die Eltern.
Für die Lehrkräfte sind das ganz schwierige Gespräche. Aber noch einmal: Im Zentrum einer solchen Übertrittsentscheidung sollte nicht die Frage stehen: Schafft es mein Kind ans Gymnasium? Sondern: Welche Schule passt zu meinem Kind? Wenn ein Kind immer das Maximum leisten muss, um das Minimum zu erreichen, damit es mit knapper Not mithalten kann, ist das wahnsinnig zermürbend. Das ist nicht sinnvoll für das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit. Ich erlebe auch oft, dass Eltern versuchen, mit Belohnungen das Maximum herauszuholen, beispielsweise indem sie den Kindern für gute Noten Geld oder ein Handy in Aussicht stellen.
Womit wir beim zweiten grossen Thema der heutigen Elterngeneration wären, den Medien. Einerseits will und kann man die digitalen Medien nicht verbieten, andererseits möchte man den Medienkonsum auch nicht grenzenlos laufen lassen. Wie erlebst du dieses konfliktträchtige Thema?
Dieser Balanceakt ist sehr anspruchsvoll. Es gibt Zeitempfehlungen von Institutionen oder Medienexperten, die den Eltern Orientierung geben sollen, sie aber meist nur noch mehr unter Druck setzen. Denn wenn man ehrlich ist, hängt das Kind oft länger am Gerät als die empfohlenen 30 oder 45 Minuten pro Tag. Aus einem schlechten Gewissen heraus startet man dann den nächsten Versuch, die Empfehlung stur einzuhalten, was aber nicht funktioniert.
Weil das Kind dann rebelliert.
Genau – und das zu Recht! Wie würden wir es finden, wenn wir einen Film schauen und uns kurz vor Ende der Partner den Fernseher ausschaltet mit der Begründung: Abgemacht waren 90 Minuten! Da sollten wir als Eltern etwas flexibler sein. Kinder haben das Bedürfnis, etwas zu Ende zu machen, ein logisches Ende abzuwarten.
Eltern sollten ihrem Kind genügend Schwierigkeiten zumuten, an denen es wachsen kann.
Es geht also nicht darum, sich sklavisch an Zeitbegrenzungen zu halten, sondern mit den Kindern zu vereinbaren, wann ein sinnvolles Ende erreicht ist. Es empfiehlt sich auch, dieses Ende vorzubereiten, indem man sich kurz vorher zum Kind setzt und ihm so signalisiert: Jetzt ist es bald so weit.
Das hört sich sinnvoll, aber auch zeitaufwendig an. Tools wie die Bildschirmzeit-Einstellung sollen Eltern helfen, die Medienzeit der Kinder zu begrenzen – ohne ständig selbst ein Auge darauf haben zu müssen.
Ich selbst habe auf meinem Handy einen Instagram-Zeitblocker aktiviert, der den Kanal nach einer gewissen Zeit ausschaltet. Aber dazu habe ich mich selbst verpflichtet. Nicht meine Partnerin und auch nicht mein Vater haben das festgelegt. Und dazu braucht es eine bestimmte Reife, die Kinder bis zu einem gewissen Alter nicht haben. Kinder brauchen Eltern, die sich Zeit für sie nehmen, interessiert sind und sie begleiten – das können wir nicht an Apps delegieren.
Du hast zu Beginn über die Notwendigkeit gesprochen, eigene Erfahrungen machen zu dürfen. Welche weiteren Bereiche betrifft das neben dem unbeobachteten freien Spiel?
Eltern sollten es zulassen können, dass ihr Kind genügend Schwierigkeiten hat, an denen es wachsen kann. Das heisst mit anderen Worten: Eltern sollten eine unterstützende Haltung haben, ihrem Kind aber nicht zu viel abnehmen.
Angenommen, ein Vater beobachtet, dass sein neunjähriger Sohn mit dem neuen Lehrer nicht so gut zurechtkommt. Der Pädagoge wird oft laut während des Unterrichts und lässt in der Sportstunde Kinder auf der Bank sitzen, weil sie seiner Meinung nach stören. Sein Sohn ist auch manchmal unter den «Bestraften». Wie sollte sich der Vater verhalten?
Im Sinne einer verlässlichen Eltern-Kind-Beziehung fände ich es wichtig, dass der Vater seinem Sohn zuhört, wenn dieser zu Hause von solchen Problemen erzählt. Er sollte anerkennen, dass es gerade nicht so einfach ist, aber seinen Sohn auch bestärken und ihn fragen: Wie willst du jetzt mit dieser Situation umgehen?
Wenn das eigene Kind richtig leidet, sollte man natürlich eingreifen. Ansonsten kann man ihm durchaus zutrauen, dass es mit einigen unangenehmen Momenten zurechtkommt, solange es zu Hause einen sicheren Hafen hat.
Greifen viele Mütter und Väter zu schnell ein?
Ja, diesbezüglich wünschte ich mir zum Teil mehr Gelassenheit und mehr Vertrauen in das Kind. Wenn man zurückschaut und sich fragt, in welchen Phasen man am meisten dazugelernt, am meisten innere Stärke entwickelt hat, dann waren das oft nicht die einfachsten Zeiten, sondern diejenigen, in denen man mit irgendeinem Widerstand umgehen musste. Wir dürfen uns bewusst machen: Resilienz entwickelt sich auch am Widerstand und weniger dann, wenn alles wunderbar ist und nichts Herausforderndes passiert.
In der Pubertät verändert sich die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Freunde werden wichtiger, Mutter und Vater treten ein Stück weit in den Hintergrund. Wie behält man einen guten Kontakt zu seinem Kind?
Ich sehe oft, dass Eltern versuchen, auch noch auf ihre pubertierenden Kinder Einfluss zu nehmen, um in irgendeiner Weise bestimmen zu können, was das Kind denkt, fühlt, tut oder erreicht. Aber das kommt bei den Jugendlichen nicht gut an.
Es ist eine schlimme Vorstellung, wenn wir als Eltern zwar genau wissen, wo und mit wem das Kind ist, aber keine Ahnung haben, wie es in seinem Inneren aussieht.
Was sollte man stattdessen tun?
Wenn wir möchten, dass Jugendliche mit uns im Austausch bleiben, unsere Meinung noch immer etwas zählt, müssen wir auch ihre Ansichten ernst nehmen. Eine Lehrperson, die Jugendliche fragt, wie sie ihren Unterricht empfinden, was sie tun kann, damit sie besser lernen können, erzielt eine grössere Wirkung als diejenige, die versucht, in erster Linie die Jugendlichen zu kontrollieren.
Das Gleiche gilt für Eltern. Wenn ich mich als Vater beziehungsweise Mutter reflektiere, wenn ich ehrlich bin, etwas von mir erzähle und mir ernsthaft anhöre, was das Kind dazu zu sagen hat, sind wir uns näher, als wenn ich einfach nur ein Bild im Kopf habe, nach dem ich mein Kind formen will. Gegen Letzteres rebellieren Jugendliche oft zu Recht.
Worauf kommt es noch an?
Es lohnt sich ebenfalls, sich zu fragen: Wie verlaufen unsere Gespräche? Worüber tauschen wir uns aus? Viele Jugendliche beklagen, dass es nur noch um Organisatorisches, Regeln und ihr Verhalten geht: Hast du an dieses oder jenes gedacht? Wann habt ihr die Mathe-Prüfung? Wann kommst du nach Hause? Gerade in einem Alter, in dem der Nachwuchs es nicht mehr zulässt, versuchen viele Eltern, ihr Kind zu steuern. Doch je mehr ich in diesem Modus bin, desto stärker blendet mich mein Teenie aus.
Aber die Familienzeit ist knapp bemessen. Alle haben viele Termine. Die gilt es zu koordinieren.
Natürlich, aber in diesem ganzen Organisationskram dürfen wir das Essenzielle nicht aus den Augen verlieren. Es ist doch eine schlimme Vorstellung, wenn wir als Eltern zwar ganz genau wissen, wo und mit wem das Kind ist, was es macht und was es noch alles erledigen müsste, aber keine Ahnung haben, wie es in seinem Inneren aussieht. Sich dafür 20 Minuten pro Tag Zeit zu nehmen, müssen wir zu einer Priorität machen.
Tendenziell scheint das Elternsein heute anspruchsvoller geworden zu sein als zur Zeit unserer Eltern. Die Erwartungen sind gestiegen, Familie und Erziehung sind mehr vom Gesellschaftlichen ins Private übergegangen. Das kann belasten.
Oft wird das sprichwörtliche Dorf betrauert, das die Kinder miterzieht und heute nicht mehr vorhanden ist. Natürlich fehlt da etwas, aber ich denke auch, dass wir dieses Dorf ein wenig verklären. Dörfliche Strukturen haben auch etwas Einengendes und vielleicht haben wir uns ganz bewusst dafür entschieden, wegzuziehen, um freier in unseren Entscheidungen zu sein – und müssen nun mit den Nachteilen, beispielsweise mit den fehlenden Grosseltern, leben.
Eltern überschätzen ihren Einfluss auf die Entwicklung des Kindes.
Im Buch «Kindheit – eine Beruhigung», herausgegeben vom Zürcher Kinderarzt Oskar Jenni, heisst es, dass der gestiegene Perfektionsanspruch mitunter auf diese Privatisierung zurückzuführen sei. Wie ein Kind herauskommt, liegt nun allein in der Verantwortung der Eltern. Und die wollen ihre Sache richtig gut machen. Nur sei der elterliche Einfluss auf die kindliche Entwicklung gar nicht so gross.
Ich denke auch, dass wir den elterlichen Einfluss überschätzen. Die Gene und das Umfeld spielen eine deutlich grössere Rolle, als wir denken. Und es ist entlastend, wenn man als Elternteil sagen kann: Es gibt ganz viele Einflussgrössen, ich bin nur eine davon.
Aber warum liegt dann zuweilen so eine Schwere über dem Elternsein?
Der Anspruch, alles gut zu machen, hat sehr zugenommen. Man will beruflich erfolgreich sein, in seinen sozialen Beziehungen, in seiner Familie. Alles soll gut laufen. In meiner Kindheit war der Vater meist der Alleinverdiener und die Mutter vollumfänglich für Care- und Hausarbeit zuständig.
Heute sind oft beide berufstätig. Es ist aber nicht so, dass wir uns 100 Prozent Erwerbsarbeit teilen, sondern gemeinsam 140 oder 180 Prozent arbeiten. Und wir merken, irgendetwas kommt immer zu kurz. Entweder verbringe ich viel Zeit mit den Kindern, aber dann sieht der Haushalt nicht gut aus. Oder ich fokussiere mich eine Zeit lang auf den Job und habe ein schlechtes Gewissen wegen der Familie. Doch uns das einzugestehen, bereitet uns wahnsinnig Mühe.
Wie kommt man da raus?
Es ist sicher hilfreich, wenn wir immer wieder überlegen: Was ist uns am wichtigsten? Worauf können wir verzichten? Letztlich müssen wir uns aber eingestehen, dass dieses Dilemma nie ganz aufzulösen ist und die verschiedenen Bereiche auch phasenweise zu kurz kommen dürfen.
Mir fallen noch drei Stichworte ein, mit denen Eltern heute stärker konfrontiert sind als früher. Erstens: Social Media. Inwieweit erhöht die Möglichkeit, sich ständig mit der ganzen Welt vergleichen zu können, den Druck auf uns Mütter und Väter?
Zuerst einmal erlebe ich immer weniger, dass Menschen ihren Alltag posten. Man findet kaum noch Familienfotos im Netz, die nicht gestellt sind. Somit vergleicht man sich nicht mit realistisch dargestellten Szenen aus aller Welt. Was in letzter Zeit hingegen zugenommen hat, ist die kommerzielle Seite, die wunderschönen Bilder der Influencerinnen und Influencer: durchgestylte Kinderzimmer in Pastelltönen.
Eine echte Veränderung kommt nicht durch fünf Tipps. Dafür benötigt man mehr.
Diese Welt hat etwas sehr Künstliches und Hochpoliertes, was einem das Gefühl geben kann, als einzelne Person, aber auch als Familie sehr defizitär unterwegs zu sein. Diese oft unterbewussten Vergleiche setzen uns unweigerlich unter Druck.
Zweites Stichwort: Elternratgeber. Die Fülle an Titeln auf dem Buchmarkt ist immens. Verunsichert das nicht zusätzlich?
Verunsicherung ist nicht per se schlecht, sondern darf sein. Wenn wir ein Buch lesen, sollten wir die Bereitschaft mitbringen, uns verunsichern zu lassen. Wir werden mit einer anderen Perspektive konfrontiert und dürfen uns fragen: Was bedeutet das für mich? Ist das ein stimmiges Bild? Was in meinem Umgang mit meinem Kind sollte ich vielleicht einmal überprüfen und ändern? Vielleicht komme ich auch zum Schluss, dass ich gar nichts ändern möchte.
Viele Eltern wollen heute das genaue Rezept: «Mit diesen fünf Schritten erreichst du das perfekte Familienleben und dann hast du alles richtig gemacht.» Eine echte Veränderung kommt aber nicht durch fünf Tipps. Dafür benötigt man mehr. Und manchmal braucht es dazu die Bereitschaft, sich auf unangenehme Gefühle einzulassen.
Drittens: Immer mehr Kinder werden abgeklärt, zum Beispiel auf ADHS, Asperger oder Lernstörungen. Ist ein Grund für die Zunahme, dass sich Eltern durch eine Diagnose Entlastung wünschen?
Aus meiner Erfahrung wollen sich Eltern nicht in erster Linie entlasten, sondern suchen Klarheit. Ein Vater hat mir mal gesagt: Als wir die Diagnose hatten, dass unser Kind eine Entwicklungsstörung hat, konnten wir unsere Massstäbe anders setzen. Vorher habe ich mein Kind immer mit anderen Kindern verglichen und mich gefragt: Was ist denn los mit ihm? Jetzt konnte ich mich über Fortschritte freuen, die ich vorher gar nicht gesehen hatte.
Auch wenn die Zahlen früher niedriger waren, gab es diese Kinder schon immer. Die Lernschwachen galten einfach als dumm. Labeling fand und findet so oder so statt. Aber das Wissen um die wirkliche Ursache für gewisse Schwierigkeiten führt zu einem anderen Umgang mit dem betroffenen Kind. Das finde ich sehr sinnvoll.
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die Frage zurückkommen, wie wir es schaffen, das Familienleben mit Freude und Befriedigung zu gestalten.
Wenn ich aus einer Beziehung einen Gewinn ziehen will, dann braucht sie Zeit. Das ist eine wichtige Entscheidung: Ich investiere ganz bewusst in diese Beziehung, erst dann gibt sie mir etwas zurück. Das gilt für Paarbeziehungen gleichermassen wie für Eltern-Kind-Beziehungen. Und dann kann ich mich fragen: Was sind die Momente, die wir als Familie geniessen? Sind es die Ferien, das gemeinsame Essen? Sind es vielleicht ganz unscheinbare Momente wie das gemeinsame Schauen eines Films?
Viele Teenager vermissen, dass die Eltern ihnen auch Einblick in ihr Gefühlsleben gewähren.
Diese sollte man bewusst in den Alltag einbauen und auskosten. Als meine Kinder noch kleiner waren, habe ich gemerkt, dass es für mich einen riesigen Unterschied macht, ob ich sage: Ich muss noch einkaufen und nehme die Kinder mit, oder ob ich sage: Ich verbringe heute Zeit mit meinen Kindern und wir gehen noch zusammen einkaufen. Es ist ja immer noch dieselbe Tätigkeit, aber sobald ich das Ziel «Ich will ein bisschen Zeit mit meinem Kind verbringen» in den Vordergrund stelle, verändert sich die Dynamik.
Jüngere Kinder wissen das sehr zu schätzen. Wie macht man das bei Teenagern, die nicht mehr so viel Interesse an gemeinsamen Aktivitäten haben?
Auch bei denen geht es darum, Anknüpfungspunkte zu suchen. Was macht mein Teenager eigentlich den ganzen Tag? Womit beschäftigt er sich? Es braucht manchmal ein bisschen Überwindung, sich darauf einzulassen, ein Video mit anzuschauen oder seine Freunde kennenzulernen. Und ein Punkt, den viele Teenager vermissen, ist, dass die Eltern ihnen auch Einblick in ihr Gefühlsleben gewähren. Und nicht immer nur die überlegenen Erwachsenen geben.
Häufig ändert sich die Gesprächsdynamik, wenn wir bei uns anfangen: «Heute hatte ich einen richtig blöden Tag.» Ich trete als Mensch in Erscheinung, ich gebe etwas preis. Vielleicht hört der Jugendliche nur zu und sagt nichts dazu. Aber es ist viel wahrscheinlicher, dass er danach auch von seinem Tag erzählt. Jeder Mensch, der mit uns Zeit verbringt und sich auf uns einlässt, beeinflusst uns.