Elternstreit: «Lieber früher in eine Beratung als später»

Lesedauer: 10 min
Konflikte gehören zu Beziehungen dazu. Paartrainer Christian Pröls-Geiger spricht darüber, was Eltern tun können, damit Streiten für die Kinder nicht zur Belastung wird.
Interview: Nathalie Klüver

Bild: Adobe Stock

Herr Pröls-Geiger, wo Menschen miteinander zu tun haben, tauchen Meinungsverschiedenheiten auf. Ist eine Beziehung ohne Streit überhaupt möglich?

Streit lässt sich nicht vermeiden. Konflikte, Interessensunterschiede, Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Bedürfnisse gehören zum Leben nun mal dazu. Die Frage ist aber: Wie geht man mit den verschiedenen Meinungen und Bedürfnissen um?

Wichtig ist, in Ich-Botschaften zu sprechen. So fühlt sich das Gegenüber nicht angeklagt.

Es ist gut, wenn man frühzeitig ins Gespräch kommt, wenn man merkt, dass etwas nicht passt oder einen etwas stört. Je früher man Dinge anspricht, desto früher kann man sie auch klären und es eskaliert nicht in einem grossen Krach. Wichtig ist, dass man dabei in Ich-Botschaften spricht, sodass der andere sich nicht angeklagt fühlt.

Im stressigen Elternalltag bleibt oft keine Zeit für solche Gespräche. Die Momente ohne Kinder sind rar und meistens ist man müde. Was tun?

Zum Beispiel einen Termin dafür ausmachen: Einige besprechen das, wenn das Kind seinen Mittagsschlaf hält. Manche Eltern institutionalisieren das auch und haben einen festen Abend in der Woche für Gespräche. Manchmal braucht es auch gar nicht so lange, manches Feedback ist in zehn Minuten geklärt. 

Christian Pröls-Geiger ist Pädagoge und Trainer für Paarkommunikation sowie systemischer Familientherapeut und stellvertretender Leiter am Kinderschutzzentrum des Kinderschutzbundes München. In seinem Buch «Hört auf zu streiten!» gibt er Eltern Tipps für eine bessere Streitkultur.

Was könnte so ein Feedback sein?

Wenn es einen zum Beispiel ärgert, dass der andere einen vor den Nachbarn als unordentlich bezeichnet hat. Statt sich lange aufzuregen, reicht es, wenn man sagt, dass man das nicht schön fand und es einen verletzt hat. Der andere muss da auch gar nicht gross darauf antworten, sondern kann es zur Kenntnis nehmen oder sagen, dass er darüber nachdenkt.

Am besten kann man über Konflikte sprechen, wenn sie nicht aktuell aufkochen.

Also eher die berühmte Nacht drüber schlafen als sofort im Eifer des Gefechtes antworten?

Damit Konflikte nicht eskalieren, ist es gut, wenn man Tempo rausnimmt. Eskaliert ist ein Konflikt schnell, aber runtergefahren nur langsam. Deshalb ist es hilfreich, sich eine Pause zu verschaffen, wenn man in emotional aufgeheizten Situationen ist oder wenn man feststellt, dass man in eine Spirale aus Vorwurf und Gegenvorwurf geraten ist. Es gilt ganz allgemein: Am besten kann man über Konflikte sprechen, wenn sie nicht aktuell aufkochen.

Wenn man Glück hat, lösen sich die Probleme dann von allein und man muss gar nicht mehr darüber sprechen. Aber das klappt ja nicht immer: Wie findet man dann den richtigen Zeitpunkt?

Wichtig ist es, zu reflektieren, wieso der Konflikt eigentlich auftauchte. War es eine stressbedingte Situation? Das ist gerade im hektischen Familienalltag oft der Fall. Also der Streit darum, dass einer von beiden morgens das Geschirr nicht in den Geschirrspüler gestellt hat. Das Überthema ist nicht das Geschirr, sondern der morgendliche Stress und die Frage: Wie gestalten wir das Frühstück so, dass es für alle weniger stressig ist?

Es könnte aber auch um das Thema Wertschätzung gehen. Habe ich das Gefühl, mein Aufwand für die Familie wird gesehen und anerkannt und nicht als selbstverständlich betrachtet? Am schwierigsten sind Dauerbrennerthemen. Da greift man oft zu Floskeln wie «immer machst du das und das» und landet ruckzuck in der Vorwurfschleife. Diese Themen sollte man auf einen ruhigen Termin vertagen, wenn es grad nicht aktuell brennt, und vorher überlegen, welche Ich-Botschaften man senden möchte. Wichtig ist, dass man dann nur bei einem Thema bleibt.

Über welche Themen streiten sich Eltern am häufigsten?

Das sind ganz oft banale Alltagsthemen wie Haushalt oder Rollenverteilungen. Es ist auch eine Frage des Ressourcenmanagements: Beide sind gestresst, schlafen zu wenig und sind dadurch dünnhäutig. Es lohnt sich herauszufinden, worum es sich wirklich dreht.

Also der berühmte Blick unter die Spitze des Eisbergs?

Genau. Dafür braucht man einen guten Zugang zu sich und seinen Bedürfnissen und sollte in sich hineinhorchen: Was stört mich gerade? Was steckt wirklich dahinter und was ärgert mich?

Sollten Eltern es generell vermeiden, vor den Kindern zu streiten oder muss man nicht zwangsläufig alles vertagen?

Es kommt auf das Streitthema an und darauf, wie der Konflikt ausgetragen wird. Eine Diskussion über das nächste Urlaubsziel kann man ruhig vor den Kindern austragen und ihnen dann sagen, wieso man streitet und wieso man unterschiedlicher Meinung ist. Wichtig ist, dass man schaut, wie die Kinder reagieren, ob sie zum Beispiel den lauteren Tonfall der Eltern als bedrohlich wahrnehmen. Auf diese Signale sollten die Erwachsenen dann eingehen und das mit ihnen besprechen.

Welche Signale senden Kinder denn, wenn sie sich im Streit unwohl fühlen?

Einige halten sich die Ohren zu und weinen, andere Kinder sagen «Stopp» oder rennen aus dem Zimmer heraus. Wieder andere ziehen sich wortlos zurück. Einige versuchen den Streit der Eltern zu schlichten und stellen damit ihre eigenen Bedürfnisse hinter die ihrer Eltern. Damit entsteht eine Rollenumkehr, die dauerhaft für die kindliche Entwicklung ungesund ist.

Wenn man sich vor den Kindern streitet, sollte man sich auch vor ihnen wieder versöhnen.

Je älter Kinder sind, desto besser können sie mitteilen, was ihnen wichtig ist. Wenn sie kleiner sind, nehmen sie die Atmosphäre als bedrohlich wahr, können aber inhaltlich vielleicht noch gar nicht einordnen, um was es geht. Je älter sie sind, umso besser kennen sie auch die Eltern und die «Choreografie ihrer Streitigkeiten». Und ganz wichtig: Wenn man sich vor den Kindern streitet, sollte man sich auch vor ihnen wieder versöhnen.

Bei einer Diskussion um den Urlaub am Meer oder in den Bergen geht das einfacher. Was ist aber bei offenen Themen, die nicht sofort geklärt werden können?

Da ist es wichtig, den Kindern zu zeigen: Wir geben uns Mühe, das konstruktiv zu klären. 

Ist es für die Kinder nicht beruhigender, wenn man ihnen sagt, dass alles wieder gut wird?

Nie mehr versprechen, als man halten kann! Da geht sonst das Vertrauen verloren. Kinder bekommen mehr mit, als Erwachsene denken, sie haben ganz feine Antennen. Deshalb ist es auch eine Illusion zu glauben, dass die Kinder es nicht mitbekommen, wenn man sich abends streitet. Genauso belastend sind kalte Konflikte, wo man sich nur anschweigt, auch das spüren Kinder. Das kann für sie belastender sein, als wenn der Konflikt benennbar ist.

Was machen Konflikte mit Kindern?

Bei dauerhaft ungeklärten Konflikten herrscht eine Dauererregung in den Kindern; eine Spannung, die nicht weggeht und sie in eine ständige Alarmbereitschaft versetzt. Kinder brauchen einen sicheren Ort, an dem sie sich entspannen können. Dazu zählt nicht nur das eigene Zimmer, sondern auch entspannte Momente.

Kinder identifizieren sich mit beiden Eltern und wenn einer herabgewürdigt wird, dann trifft es automatisch auch das Kind.

Welche Alarmsignale gibt es, wenn Kinder durch elterliche Konflikte belastet sind?

Schlechtere Konzentration in der Schule, Wegbeamen in Fantasiewelten oder die Spannung von zuhause wird in Aggression auf dem Schulhof umgewandelt. Auffällig ist es auch, wenn Jugendliche nur noch in der Peer Group unterwegs sind und gar nicht mehr zuhause sein wollen. Wenn die Kinder versuchen, Konflikte zu verhindern oder für die Eltern zu moderieren, kann man dies auch als Alarmzeichen werten. Sie zeigen damit: Mir ist das zu viel.

Gibt es absolute No-Gos, wenn Eltern vor ihren Kindern streiten? 

Definitiv Gewalt. Körperliche und verbale. Kraftausdrücke oder das Herabwürdigen, Schlechtmachen des anderen sollten Eltern unbedingt vermeiden. Kinder identifizieren sich mit beiden Eltern und wenn einer herabgewürdigt wird, dann trifft es automatisch auch das Kind. Wichtig ist ausserdem, das Kind nicht zu instrumentalisieren und nicht zu versuchen, es auf seine Seite zu ziehen. Drohungen mit einer Trennung oder Scheidung können Kinder zudem auch sehr verunsichern.

Wie können Eltern ihren Kindern auch im Streit Sicherheit vermitteln?

Im Idealfall ist die Message an die Kinder immer: Wir haben das im Griff und wir lösen das. Kinder bemerken und honorieren die ehrlichen Bemühungen ihrer Eltern. Es ist auch hilfreich, mit dem Kind ein Stoppzeichen zu vereinbaren, das sie einsetzen können, wenn ihnen der Streit zu viel wird.

Was hilft, wenn man merkt, dass sich ein Streit aufschaukelt und man in eine Streitspirale gerät?

Viele Konflikte entstehen dadurch, dass man gestresst ist und dünnhäutig. Da hilft es, zu benennen, was los ist, zu sagen: Mir ist das gerade alles zu viel, ich brauche kurz Ruhe, ich sammle mich im Nebenzimmer und bin gleich wieder da. Wenn man schon im Streit ist und feststellt, dass man in eine Spirale aus Vorwurf und Gegenvorwurf gerät, kann man ein Time-Out-Zeichen vereinbaren und ausmachen, sich kurz zurückzuziehen, um sich «abzukühlen» und dann noch einen Anlauf nehmen. Selbstfürsorge und Konflikt-Entschleunigung sind also wichtig.

Wir können den andern nicht ändern. Das Beste ist daher, an sich selbst zu arbeiten und den Konflikt auf seiner Seite zu beenden.

Und wenn man immer wieder über dieselben Dinge streitet und einfach keine zufriedenstellende Lösung findet?

Ich rate immer dazu, bei Konflikten lieber früher in eine Beratung zu gehen als später. Der Weg aus einem eskalierten Konflikt in die Normalität ist sehr viel schwieriger, als wenn man frühzeitig in einer Beratung in einem moderierten Gespräch nach einer Lösung sucht. Gerade wenn man sich im Kreis dreht, hilft der Blick von aussen. Sich Beratung zu suchen, ist ein Zeichen von Stärke und keine Schwäche.

Wenn beide sich bewusst sind, dass es Zeit wird, etwas zu ändern, ist es einfacher. Was ist, wenn der andere nicht mitzieht? Kann schon ein Elternteil allein eine Veränderung im Konfliktverhalten bewirken?

Es ist eindeutig leichter, wenn Eltern zusammenarbeiten, das hat auch verbindenden Charakter: Wir zwei zusammen für den Familienfrieden. Aber es geht auch alleine, es ist nur deutlich anstrengender. Wichtig ist es, eine deutliche Haltung zu präsentieren, also der Familie zu sagen: «Ich will diese Konflikte nicht mehr und ich unternehme folgende Schritte, damit es harmonischer zugeht». Das zeigt: Das ist mein Investment für die Familie.

Die Schritte sollten deutlich benannt werden. Wenn man das dann durchzieht, dann baut sich auch ein Druck auf das Gegenüber auf und dieses strengt sich dann hoffentlich auch an. Gleichzeitig verändert sich der Elternteil, der sich mit den Auslösern für den Streit beschäftigt, und das hat wiederum eine Auswirkung auf den anderen Elternteil, der sich nicht in Beratung begibt, und dadurch auf die ganze Familie.

Gibt es etwas, was man unterlassen sollte?

Bei Konflikten besteht immer die Gefahr, dass man den anderen ändern will. Das funktioniert aber nicht. Das Beste ist es, an sich selbst zu arbeiten und den Konflikt auf seiner Seite zu beenden. Das ist leichter gesagt als getan, aber wer an sich selbst arbeitet, verändert auch den eigenen Fokus auf den Konflikt.

Gibt es denn auch etwas Positives, was Kinder von streitenden Eltern lernen können?

Wenn Eltern beim Streiten und Vertragen vormachen, wie man konstruktiv nach Lösungen sucht und Kompromisse findet, dann können Kinder viel lernen. Kompromisse gehören zum Leben dazu, es ist nun mal so, dass man nicht immer und überall die eigene Position durchsetzen kann.

Eltern können Kindern vermitteln, dass Konflikte auch eine Möglichkeit sind, neue Ideen zu finden. Wenn man das gut hinbekommt, dann erhalten die Kinder eine Art Werkzeugset für ihre sozialen Kompetenzen. Davon profitieren sie ihr Leben lang.

Besser streiten – Tipps für Eltern

  • Frühzeitig klären: Konflikte möglichst zeitnah und sachlich ansprechen, bevor sie eskalieren
  • Ich-Botschaften nutzen: eigene Gefühle ausdrücken, ohne Vorwürfe zu machen
  • Den richtigen Zeitpunkt wählen: Gespräche wirken am besten, wenn alle Beteiligten entspannt sind
  • Auf ein Thema konzentrieren: komplexe und wiederkehrende Streitpunkte besser einzeln besprechen, nicht im Paket
  • Pausen einlegen: wenn die Emotionen hochkochen, kleine Auszeiten einlegen mit einem fest vereinbarten Wiederaufnahme-Zeitpunkt
  • Kinder nicht mit einbeziehen: Gewalt, Herabwürdigen oder gar Einbeziehen von Kindern vermeiden
  • Versöhnung zeigen: Kinder lernen, dass Konflikte lösbar sind, wenn Erwachsene sich wieder vertragen
  • Eigenes Verhalten immer wieder reflektieren: Verantwortung für das eigene Verhalten übernehmen, anstatt den anderen ändern zu wollen