Teilen

«Ich wünschte, man liesse uns nicht so hängen»

Aus Ausgabe
07+08 / Juli + August 2025
Lesedauer: 4 min

«Ich wünschte, man liesse uns nicht so hängen»

Nian rennt weg, ignoriert Regeln, reagiert mit Wutausbrüchen. Seine Eltern stehen lange vor einem Rätsel. Erst spät bringt die Diagnose Autismus Klarheit – und viele Fragen.
Aufgezeichnet von Virginia Nolan

Bild: Silas Zindel / 13 Photo

Nian (11), der Sohn von Karin (41) und Michael (40) aus Rüderswil BE, hat das Asperger-Syndrom. Damit verbundene Herausforderungen haben die Familie in die Isolation geführt, aus der ein Hund sie befreite.

Karin: «Nian ist das jüngste unserer drei Kinder – und war als Baby das pflegeleichteste.»

Michael: «Man konnte ihn irgendwo ablegen, dann blieb er da, guckte in die Luft und war zufrieden.»

Karin: «Alles änderte sich, als er mit elf Monaten anfing zu laufen. Nian hörte nicht auf uns, lief ständig davon, kannte keine Angst. Und es fiel ihm schwer, mit anderen Kindern zu kommunizieren: Er riss ihnen Dinge einfach aus der Hand oder schlug drein, wenn es nicht nach seiner Vorstellung lief. Wir sahen uns in Erklärungsnot: Wir sind keine Laisser-faire-Eltern, sondern haben klare Werte, wie man miteinander umgeht.»

Michael: «Konsequenzen, die bei den älteren zwei gewirkt hatten – dem Kind sein Fehlverhalten erklären, es aufs Zimmer schicken, eine Ansage machen –, brachten nichts.»

Karin: «Er verweigerte oft die Spielgruppe, stieg partout nicht ins Auto. Mit Spielsachen wusste er nichts anzufangen – mit Ausnahme gewisser Spielautos, da drehte er an den Rädern und klappte die Türen auf und zu. Doch nur echte Fahrzeuge interessierten ihn wirklich. Wenn mein Bruder von gegenüber abends mit seinem Kleinbus nach Hause kam, war Nian eine Stunde lang in diesem beschäftigt, hantierte an Hupe und Radio und suchte nach Schlüsseln für den Motor. Auf Schlüssel war er fixiert, wir mussten alle wegsperren.»

Eine zweite Abklärung schafft Klarheit

Michael: «Klappte das Busritual nicht, war die Hölle los. Ebenso am Mittag, wenn ich mal zu früh dran war – und er nicht pünktlich hinter der Eingangstüre stehen konnte, um mich zu erschrecken.»

Karin: «Der Kinderarzt stellte fest, dass die Schere zwischen Nians kognitiven Fähigkeiten und seinem Sozialverhalten gross war. Er veranlasste eine Abklärung, die lediglich Verdachtsdiagnosen ergab. Autismus war nicht darunter. Wir versuchten es mit noch mehr Regeln, noch mehr Grenzen setzen. Auf der kantonalen Erziehungsberatung hiess es, Nian solle mit dem Kindergarten starten.»

Michael: «Nach kurzer Zeit empfahl uns die Kindergartenlehrerin eine zweite Abklärung und stellte bei der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie einen Antrag. Die Diagnose, hiess es da, sei sonnenklar: Asperger-Syndrom.»

Familien bräuchten mehr niederschwellige Beratung und Unterstützung, was Entlastungsangebote, Behördengänge, die Schule oder praktische Alltagstipps betrifft.

Karin, Mutter von Nian

Karin: «Die Kindergärtnerin setzte auf klare Strukturen, so war Nian ein reduziertes Pensum möglich. Doch auch da stahl er sich mal unbemerkt davon, ab da war ich immer abrufbereit. Wir trauten uns kaum mehr ausser Haus vor Angst, er könnte davonlaufen.»

Michael: «Das schlechte Gewissen gegenüber seinen Geschwistern war gross. In der Zeit kam Benji zu uns. Nians Assistenzhund ist darauf trainiert, ihn im Notfall aufzuspüren. Benji holte uns aus der Isolation.»

In der Regelschule überfordert

Karin: «Als die Schule startete, mussten wir um eine Assistenz kämpfen, schrieben Stellen bis auf Kantonsebene an. Weil ich Druck machte, hatte Nian dann eine Eins-zu-eins-Begleitung. Die braucht er bis heute. Die Assistenzperson unterstützt Nian dabei, Emotionen zu regulieren, vermittelt im Sozialen, übt mit ihm, bei Unklarheiten um Hilfe zu fragen – damit hat er grosse Probleme –, oder Handlungsschritte zu planen, etwa bei einer Aufgabe. Nian ist stark auf Strukturen angewiesen.»

Michael: «Auf seinem Wochenplan visualisieren wir alles, was ansteht, mithilfe von Bildern – vom Mittagessen bis zum Arzttermin.»

Karin: «Irgendwann war allen klar, dass die Regelschule Nian völlig überforderte, trotz reduziertem Pensum. Seit letztem Sommer besucht er eine Sonderschule, in der die Mehrheit der Kinder eine Autismus- oder ADHS-Diagnose haben.»

Michael: «Nian hat beides. Das für ADHS typische Hyperaktive kollidiert irgendwann mit dem Autistischen, dem Bedürfnis nach Abschottung und Ruhe. Dann knallt es.»

Karin: «Die Schule kann Nian nur morgens besuchen. Ich muss abrufbereit sein, falls es eskaliert. Seine visuellen Hilfen hatte die Schule zunächst nicht umgesetzt, da häuften sich Probleme. Jetzt kann er auf einen Plan mit Piktogrammen zurückgreifen.»

Michael: «Wir haben unser Umfeld informiert, mit welchen Herausforderungen Nians Diagnose einhergeht. Die Kinder im Quartier akzeptieren ihn, wie er ist. Beim Spielen gibt er den Ton an. Das geht gut, bis die anderen keine Lust mehr haben. Dann sucht er bei den Jüngeren neue Spielpartner. Ein Glück, dass hier so viele Kinder wohnen.»

Karin: «Familien bräuchten mehr niederschwellige Beratung und Unterstützung, was Entlastungsangebote, Behördengänge, die Schule oder praktische Alltagstipps betrifft. Wir mussten alles im Alleingang herausfinden. Ich wünschte, man liesse uns Eltern nicht so hängen.»