Teilen

Wie mir ein «Spiisse» eine Erziehungslektion erteilte

Aus Ausgabe
09 / September 2025
Lesedauer: 3 min

Wie mir ein «Spiisse» eine Erziehungslektion erteilte

Was tun, wenn der Sohn seinen «Spiisse» selbst herausziehen will? Unsere Kolumnistin scheitert dabei grandios.
Text: Mirjam Oertli

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Kürzlich rief die Lehrerin an. Das macht mich immer leicht nervös. Man weiss ja nie, was einen gleich ereilt. «Wir waren draussen», hörte ich. Barfuss, und nun stecke ein Splitter, ein «Spiisse», im Zeh des Sohnes. Okay, das wird zu stemmen sein, fand ich, fuhr den Computer herunter, das Velo aus der Garage und hin zum Pausenplatz. 

Da sass er, hielt den Fuss umklammert und die Tränen zurück. In solchen Situationen fühle ich mich dann gern ein wenig heldenhaft. Als trüge ich ein Cape und flöge mit ausgestreckter Faust ein. Nach Hause gingen wir aber ganz normal.

Es war nach 16 Uhr, als wir dort ankamen. «Darf ich …?», fragte ich vorsichtig. Nein, er probiere es selbst. Erst mal kein Nahkampf, auch gut. (Vielleicht sollte ich dazu erwähnen, dass er sich die Fingernägel lange nur im Schlaf schneiden liess.) Dennoch zweifelnd holte ich ihm die Pinzette und mir schon mal die Brille.  

Sachte, sehr sachte, machte er sich am Zeh zu schaffen. Schwer und schwerer seufzte ich jedes Mal, wenn er mit der Pinzette wieder im Leeren hantierte.

Der Sohn zupfte weiter am Splitter herum. Stöhnte, klagte, verzagte, während «minimalinvasiv» eine neue Bedeutung erhielt.

Um 16.35 Uhr durfte ich mal schauen. «Soll ich …?» Nun war ich mindestens so bereit dazu wie Dr. Gütterli auf unserer Kasperli-CD damals, der dem Chaschper einen «Baumstamm!» aus dem Finger zog. «Sodeli, jetzt isch er duss», hätte ich sicher bald so beiläufig-souverän sagen können wie er. Doch merkte ich, dass grad kein guter Moment war, weder für Kasperli-Zitate noch Eingriffe meinerseits.

Weiter zupfte der Sohn an der Eintrittspforte des Splitters herum. Stöhnte, klagte, verzagte, während «minimalinvasiv» eine neue Bedeutung erhielt. «Wenn du mich nur machen liessest», dachte ich. Aber so laut, dass es zu spüren war. Ich sollte ihn bestärken, an ihn glauben, das wusste ich. Und glaubte gerade nur ziemlich fest an sein Scheitern.

Zum Zusehen verknurrt

Zwanzig Minuten später war er zermürbt genug, mir die Pinzette zu geben – und zog doch jedes Mal den Fuss weg, wenn ich näherkam. Ob ich drohen sollte oder brachial werden? Da sprudelten Verzweiflung und Tränen schon aus ihm heraus. Über den «Spiisse», diesen Nachmittag, das ganze Leben.

Die Lage war ernst und ich weiterhin zum Zusehen verknurrt. Also googelte ich. Schleppte Seifenwasser an und Stecknadeln, Desinfektionszeug, Pflaster und was der Badezimmerschrank noch hergab. Dann demonstrierte ich an meiner Hand den besten Winkel für die Nadel. Mehr wie eine Ärztin, die Kooperation herbeierklären, nicht das Skalpell aushändigen will. Er allerdings laborierte weiter.

Der «Spiisse» war zu stemmen gewesen. Aber auf seine Art, die nicht die meine war, und dazu noch die bessere.

Um 17.20 Uhr googelte ich erneut. Jetzt, wie Zugsalbe wirkt und wann die Permanence schliesst. Und weil ich das Handy in der Hand hielt, leuchtete ich ihm noch ein wenig den Zeh aus. Als mein Arm taub wurde und ich eben wieder dazu ansetzen wollte, dass das bestimmt nichts mehr werde, beförderte er, triumphierend, den «Baumstamm» an die Luft.

«Sodeli, jetzt isch er duss», hätte ich fast gesagt. Stattdessen gratulierte ich ihm ungläubig und umso überschwänglicher. Erleichtert war ich fast so sehr wie er, aber auch ein wenig betreten.

Der «Spiisse» war zu stemmen gewesen. Aber auf seine Art, die nicht die meine war, und dazu noch die bessere. Auch wenn mich die Erkenntnis spät ereilte – beim Blick auf beinah unversehrte Haut und seinen Stolz. Und hätte einem von uns jetzt ein Cape zugestanden, dann eher nicht mir.