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Warum die Schule mehr Raum für Resonanz braucht

Aus Ausgabe
09 / September 2025
Lesedauer: 6 min

Warum die Schule mehr Raum für Resonanz braucht

Wann berührt Unterricht? Wenn ein Gedicht Gänsehaut macht, Mathe staunen lässt, Wissen lebendig wird. Fabian Grolimund über die Bedeutung der Resonanzpädagogik.
Text: Fabian Grolimund

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Laut Lehrplan 21 erwerben und entwickeln Schülerinnen und Schüler in der obligatorischen Schulzeit grundlegende Kenntnisse und Kompetenzen sowie kulturelle Identität, die es ihnen erlauben, lebenslang zu lernen und ihren Platz in der Gesellschaft und im Berufsleben zu finden.

Doch was ist dazu nötig? Wissen? Kompetenzen? Sicher. 

Damit Menschen bereit sind, sich weiterzuentwickeln und ihr Leben lang dazuzulernen, müssen sie darüber hinaus aber auch eine Beziehung zu den Inhalten entwickeln, die sie sich aneignen. Nach dem Philosophen und Soziologen Hartmut Rosa müssen sie sogenannte «Resonanzerfahrungen» machen. 

Im Leben geht es nicht nur darum, schlau zu sein, sondern sich zu verbinden, zu staunen, mitzuschwingen und den Dingen dadurch Leben einzuhauchen. 

Aus dem Film «Good Will Hunting»

Der Begriff Resonanz stammt aus der Physik und bedeutet, dass ein Körper besonders stark zu schwingen beginnt, wenn er von einer äusseren Kraft mit genau der richtigen Frequenz angeregt wird.

Resonanzpädagogik

Hartmut Rosa überträgt diesen Begriff auf menschliche Erfahrungen und meint damit, dass wir durch etwas berührt werden – einen anderen Menschen oder einen Inhalt – und innerlich «mitschwingen». 

In seinem Buch «Resonanzpädagogik» schreibt er dazu: «Kompetenz und Resonanz sind zwei ganz verschiedene Dinge. Kompetenz bedeutet das sichere Beherrschen einer Technik, das jederzeit Verfügenkönnen über etwas, das ich mir als Besitz angeeignet habe. Resonanz dagegen meint das prozesshafte In-Beziehung-Treten mit einer Sache. Kompetenz ist Aneignung, Resonanz meint Anverwandlung von Welt: Ich verwandle mich dabei auch selbst.»

In Beziehung zu einer Sache treten

Im Film «Good Will Hunting» bringt der Psychologe Sean Maguire diesen Unterschied auf den Punkt, als er den genialen, aber unzugänglichen Will damit konfrontiert, dass Wissen, Können und Intelligenz nicht alles ist:

«Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Du warst nie ausserhalb von Boston. Wenn ich dich nach Kunst frage, könntest du mir wahrscheinlich alles erzählen, was es über Michelangelo zu wissen gibt. Sein Werk, seine politischen Ambitionen, seine Beziehung zum Papst, seine sexuelle Orientierung – alles, stimmts? Aber du kannst mir nicht sagen, wie es in der Sixtinischen Kapelle riecht. Du warst nie dort, hast nie unter dieser wunderschönen Decke gestanden und hin­aufgeschaut.»

Der Psychologe erklärt Will, dass er zwar vieles kann und weiss, aber keine echten Emotionen, Erlebnisse und Verluste kennt und dass es im Leben nicht nur darum geht, schlau zu sein, sondern sich zu verbinden, zu staunen, mitzuschwingen und den Dingen dadurch Leben einzuhauchen. 

Eine gute Schule sollte beides ermöglichen: Kompetenzen vermitteln – und Räume schaffen, in denen Resonanz entstehen kann.

Wenn ein Kind beim Lesen eines Gedichts oder einer Geschichte bewegt wird, wenn es im Matheunterricht plötzlich einen Zusammenhang wirklich versteht und dabei ein Staunen verspürt, wenn es sich beim Erforschen eines Themas selbst Fragen stellt – dann tritt es in Beziehung zur Sache. Es ist berührt, antwortet innerlich, denkt weiter, verändert sich vielleicht ein Stück weit. In diesen Momenten verwandelt die Begegnung mit dem Stoff nicht nur das Wissen des Kindes, sondern auch das Kind selbst.

Während also Kompetenz das Ziel hat, etwas sicher zu beherrschen, zielt Resonanz ab auf eine lebendige, persönliche Beziehung zur Welt. Eine gute Schule sollte beides ermöglichen: Kompetenzen vermitteln – und Räume schaffen, in denen Resonanz entstehen kann.

Resonanzerfahrungen ermöglichen: Ein Risiko

Es ist eine grosse Sehnsucht vieler Lehrkräfte, Kindern solche Erfahrungen zu ermöglichen. Sie zu begeistern für eine Fremdsprache, die eigene Liebe zur Literatur weiterzugeben, die Faszination für Naturwissenschaften in Jugendlichen zu entfachen. 

Wir können Resonanzerfahrungen aber nicht planen, herstellen oder gar erzwingen. Sie können sich lediglich einstellen, wenn die Bedingungen stimmen. Und das ist schwierig, wenn der Fokus vor allem auf messbaren Fortschritten, der Einhaltung des Lehrplans, Noten und Selektion liegt.

Resonanzerfahrungen brauchen Zeit, um sich in ­einen Inhalt zu vertiefen, einen Bezug zum eigenen ­Leben herzustellen, Widersprüche zu entdecken und auszudiskutieren, Fragen aufzuwerfen, nach Antworten zu suchen. Und sie erfordern eine Lehrkraft, die überzeugt ist, dass die Themen, die sie vermittelt, für die Schülerinnen und Schüler bedeutsam sind, und die bereit ist, ein Risiko einzugehen.

Kontrollverlust macht Lehrkräfte verletzlich

Man kann ihnen beibringen, wie man das Versmass eines Gedichts bestimmt, und sie mit einer Prüfung dazu bewegen, sich diese Kompetenz anzueignen. Ob sich Jugendliche von der Begeisterung der Lehrperson für Rilke anstecken lassen, die Schönheit in den Gedichten entdecken und sich dadurch berühren lassen, entzieht sich ihrer Kontrolle. 

Dieser Kontrollverlust macht Lehrkräfte verletzlich. Das kennen wir alle, wenn wir von einem Film, einem Lied oder einem Buch begeistert sind, stundenlang ­Vögel beobachten können oder im Modellbau aufgehen und dann feststellen, dass unsere Liebsten damit überhaupt nichts anfangen können und unsere Begeisterung etwas peinlich finden.

Was darf weg, auch wenn es im Lehrplan oder Schulbuch steht – weil in zwei Jahren kein Hahn mehr danach kräht?

In diesem Moment verschliessen wir uns. Viele Lehrkräfte, die mit Begeisterung in ihr Berufsleben starten, machen genau diese Erfahrung. Nicht nur mit Schülerinnen und Schülern, die nicht mitschwingen, auch mit Teammitgliedern, die den Enthusiasmus belächeln oder hinter vorgehaltener Hand giften: «Jaja, soll die sich mal austoben, die wird schon auch noch auf die Welt kommen.»

Was Resonanzerfahrungen minimiert

Und dann sind da noch gewisse Eltern, die zwar oft nach Veränderungen schreien, aber auf mutige Vorstösse einzelner Lehrkräfte sofort mit Verunsicherung und Wut reagieren, reklamieren, dass die Parallelklasse bereits eine Lektion weiter im Schulbuch sei, oder plötzlich Unterschriften sammeln, damit alles beim Alten bleibt.

Zeitdruck, Wettbewerb, Konkurrenzdenken und eine Angst vor Fehlern und Umwegen tun ihr Übriges, um Resonanzerfahrungen zu minimieren.

6 Fragen für Lehrpersonen zu Resonanz

Trotz alledem gelingt es erstaunlich vielen Lehrkräften, immer wieder solche Momente entstehen zu lassen. Sie alle verbindet die immerwährende Suche nach Antworten auf Fragen wie:

  • Warum ist das, was ich vermittle, für mich und meine Klasse relevant? 
  • Was können wir aus diesem Stoff machen? Welches grosse Ganze kann entstehen? Welche Querbezüge gibt es zu anderen Themen und zu unserem Alltag?
  • Wo sind die kleinen Momente im Unterricht, in denen meine Lernenden emotional mitschwingen – durch Begeisterung, Erstaunen, Widerstand, Überraschung –, und wie kann ich darauf aufbauen?
  • Welche Filmausschnitte, Geschichten, Menschen lassen diesen Stoff lebendig werden und könnten bei meiner Klasse Anklang finden?
  • Warum langweilt mich die Vermittlung dieses ­Themas selbst? Und wie wird es für mich wieder lebendig? 
  • Was darf weg, auch wenn es im Lehrplan oder Schulbuch steht – weil in zwei Jahren kein Hahn mehr danach kräht?