«Ablösung ist ein Prozess, der ein ganzes Leben dauern kann»

Wer eine gesunde Beziehung zu seinen Eltern haben will, muss sich erst von ihnen lösen, sagt die Psychologin und Buchautorin Sandra Konrad. Ein Gespräch über falsche Erwartungen, Rebellion und die Frage, wie man seinen eigenen Kindern das erspart, was einen selber quält.
Frau Konrad, Sie haben ein Buch geschrieben, in dem es um die Ablösung der Kinder von ihren Eltern geht. Lösen wir uns nicht automatisch, wenn wir erwachsen werden, ausziehen, eine eigene Familie gründen?
Äusserlich sicherlich, aber innerlich gibt es häufig Blockaden in der emotionalen Ablösung. Wir erkennen es daran, wenn unser Denken und Fühlen zu sehr um die Eltern kreist. Manche Menschen sind ständig enttäuscht von ihren Eltern und grollen ihnen, weil diese nicht so sind, wie sie es sich wünschen.
Andere verbiegen sich bis ins hohe Erwachsenenalter, um den Eltern zu gefallen und deren Erwartungen zu erfüllen – und leben letztlich an ihren eigenen Bedürfnissen und Träumen vorbei. All das macht auf Dauer sehr unglücklich, wobei vielen gar nicht bewusst ist, dass sie emotional noch mit ihren Eltern verstrickt sind.

Sie halten diesen Ablösungsprozess für sehr wichtig und argumentieren sogar, dass alle unsere Beziehungen davon profitieren. Warum?
Weil wir bessere Beziehungspartner und auch bessere Eltern werden, wenn unsere Ablösung gelungen ist. Konkret geht es darum, dass wir emotional erwachsen, also reif werden, so dass wir enge Beziehungen – auch ausserhalb unserer Familie – eingehen können. Dann können wir anderen nah sein, ohne uns selbst zu verlieren.
Wir müssen uns von den Erwartungen der Eltern verabschieden, die nicht zu uns passen.
Es ist kein Plädoyer für ein «Tschüss, das wars jetzt, auf Nimmerwiedersehen». Im Gegenteil. Es geht darum, die Eltern reifer zu lieben und eine Beziehung auf Augenhöhe mit ihnen zu führen. Leider gibt es nicht wenige Menschen, die sich vor ihren Eltern verbiegen und glauben, viel verschweigen oder verheimlichen zu müssen.
Manche haben vielleicht eine angestrengte Beziehung zu den Eltern, sind aber in der eigenen Familie, im Beruf, in Freundschaften zufrieden. Ist die Elternbeziehung wirklich so wichtig?
Ich beobachte häufig, dass Menschen, die von ihren Eltern nicht gesund abgelöst sind, liegen gebliebene Konflikte in ihre anderen Beziehungen tragen. Das führt dann dazu, dass wir diese Konflikte mit unserem Partner, unseren Kindern oder Freunden austragen und reinszenieren. Dann schreien wir vielleicht den Ehemann an, weil der zwei Minuten zu spät kommt – aber eigentlich schreit unser kindliches Ich, das immer wieder vom Vater vernachlässigt worden ist.
Oder wir fühlen uns eingeengt, wenn die Partnerin ganz harmlose Absprachen für den Alltag einfordert – weil uns das an unsere Mutter erinnert, die uns keine Luft zum Atmen liess. Oder wir streiten mit unseren Kindern über Ausgaben, die wir uns eigentlich ohne Probleme leisten könnten – weil wir wissen, dass sie aus der Perspektive unserer Eltern grossspurig und übertrieben aussehen könnten.
Ist das nicht auch eine Typenfrage? Die einen haben vielleicht länger an den Verletzungen ihrer Kindheit zu tragen, während andere diese Themen schneller hinter sich lassen.
Ich glaube, es ist wichtig, genau hinzuschauen, was Ablösung ist. Das ist ein Prozess, den jeder Mensch durchmacht. Kein schneller Schritt, den man einmal gehen kann und dann ist es abgehakt. In diesem Prozess geht es zum einen darum, sich von den Erwartungen der Eltern zu verabschieden, die nicht zu einem passen. Und zum anderen darum, dann auch ihre vielleicht aufkeimende Enttäuschung auszuhalten, wenn man, um bei ganz klassischen Beispielen zu bleiben, kein Interesse hat, das Familienunternehmen zu übernehmen oder in die Nähe der Eltern zu ziehen.
Erwachsen werden heisst, sich selbst treu zu werden. Wir werden nicht geboren, um die Erwartungen und Aufträge unserer Eltern zu erfüllen.
Diese Erwartungen müssen von den Eltern nicht mal geäussert werden, wir haben sie tief verinnerlicht. Wie mache ich mir diese bewusst und wie löse ich sie auf?
Manche Erwartungen der Eltern sind für uns stimmig. Wir erfüllen sie gern, weil sie zu uns passen. Andere jedoch überfordern uns oder machen uns unglücklich. Diese geben uns dann häufig wichtige Hinweise, worauf wir genauer schauen sollten, an welchen Stellen im Leben wir falsch abgebogen sind, um den Eltern zu gefallen.
Ich gebe ein Beispiel: Ein Klient von mir bekam nach einer lang ersehnten Beförderung plötzlich Panikattacken, er konnte nicht mehr schlafen und war völlig neben der Spur. Er stellte während der Therapie fest, dass er mit der Beförderung zwar einen Wunsch seines Vaters erfüllt, aber an seinen eigenen Bedürfnissen vorbeigelebt hatte. Erst als er sich die Erlaubnis gab, seine berufliche Position aufzugeben und wieder einen Job mit weniger Verantwortung zu übernehmen, verschwanden seine Symptome. Er konnte wieder frei atmen und hatte das Gefühl: «Ich bin wieder bei mir.»
Was gehört noch zur Ablösung dazu?
Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt ist, dass wir die eigenen Erwartungen an unsere Eltern hinterfragen. Das ist häufig sehr schmerzhaft, wenn wir zum Beispiel erkennen müssen, dass unsere Eltern nie so waren, wie wir sie gerne gehabt hätten – und auch niemals so sein werden. Das zu akzeptieren, kann extrem hart sein. Und diesem Schmerz weichen viele Menschen aus. An dieser Stelle kommt es darauf an, dass wir uns selbst versorgen und dies nicht mehr von den Eltern erwarten.
Ihr Buch beginnt mit einer Checkliste. Darin heisst es zum Beispiel: «Ich muss meine Eltern stolz machen» oder «Ich streite mich oft mit meinen Eltern, um ihnen zu beweisen, dass ich recht habe». Sie schreiben: Wer auch nur einem dieser Sätze zustimmt, ist noch nicht «hinreichend abgelöst».
Ja – und ich glaube, es lohnt sich für alle, diese Checkliste durchzugehen.
Ich behaupte: Fast alle Menschen fühlen sich an der einen oder anderen Stelle ertappt.
Das beweist, dass Ablösung ein Prozess ist, den wir alle durchmachen müssen und der mitunter ein ganzes Leben dauern kann. Es geht darum, die Kinderrolle hinter sich zu lassen und erwachsen zu fühlen und zu handeln. Ein Beispiel: Es ist nichts verkehrt daran, wenn ich mir wünsche, dass meine Eltern stolz auf mich sind. Problematisch wird es, wenn ich gegen meine eigene innere Haltung handle, um die Eltern stolz zu machen.

Erwachsen werden heisst, sich selbst treu zu werden. Wir werden ja nicht geboren, um die Erwartungen und Aufträge unserer Eltern zu erfüllen. Wir haben dieses wunderbare Geschenk des Lebens erhalten, um es zu gestalten. Und damit machen wir unseren Eltern im Grunde das schönste Kompliment. Nämlich, dass sie uns zu selbständigen Individuen haben reifen lassen, die fähig sind, ein selbstbestimmtes, glückliches Leben zu führen.
Wie gehe ich damit um, wenn meine Eltern da nicht mitmachen – und zum Beispiel meine beruflichen Entscheidungen immer weiter kritisieren?
Sie machen sich bewusst, dass Sie als Erwachsene die Zustimmung Ihrer Eltern nicht mehr brauchen. Klar gefällt es uns allen, wenn die Eltern uns loben, aber wir können auch existieren, wenn die Eltern nicht mit allem einverstanden sind. Als Kind waren wir abhängig von unseren Eltern. Heute liegt es allein an uns, unser Leben so zu gestalten, dass wir zufrieden sind. Dazu gehört auch, dass wir uns selbst gute Eltern werden.
Wer ein stabiles Selbst hat, hat ausreichend Selbstvertrauen und kann sich gut abgrenzen.
Wir behandeln uns so, wie wir es uns von unseren Eltern immer gewünscht hätten: Wir gehen freundlich und liebevoll mit uns um. Wir ermutigen uns selbst. So werden wir immer unabhängiger von ihnen und dann gelingt es uns auch, gelassen bei uns zu bleiben, wenn sie anderer Meinung sind oder uns kritisieren. Wer ein stabiles Selbst hat, hat ausreichend Selbstvertrauen und kann sich gut abgrenzen.
Trotzdem kann dieser Fokus auf Ablösung auch tiefe Verlust- und Trennungsängste wecken.
Ja. Es gibt Kinder, die erst mal einen Schreck bekommen und denken: «Verliere ich jetzt meine Eltern?» Oder Eltern, die befürchten, dass sich ihre Kinder bei einer Ablösung von ihnen abwenden. Dabei entsteht bei einer gesunden Ablösung genau das Gegenteil: Eltern und Kinder können sich authentisch begegnen. Daraus kann etwas ungemein Bereicherndes entstehen, nämlich eine Beziehung, die nicht auf Schuldgefühlen, Rebellion oder Pflichterfüllung basiert.
Und wie sieht die Beziehung aus, wenn erwachsene Kinder sich nicht ablösen können?
Von aussen können das völlig unauffällige Eltern-Kind-Beziehungen sein. Man hat regelmässigen Kontakt, alles wirkt harmonisch. Aber unter der Oberfläche brodelt es. Kinder erfüllen die Erwartungen der Eltern, weil sie sonst starke Schuldgefühle haben, entwickeln dabei aber Groll und werden in ihrem Leben nicht glücklich.
Ein anderer Fall sind dauerrebellierende erwachsene Kinder, die keinen Streit mit den Eltern auslassen. Sie haben ihren Entscheidungs- oder Lebenskompass gegen die Eltern ausgerichtet und machen immer das, was die Eltern nicht wollen – was natürlich kein guter Weg ist, um zu sich selbst zu finden.
Und dann gibt es nicht wenige Eltern-Kind-Beziehungen, die von den Kindern als quälend empfunden werden, weil sie lediglich von einem starren Konventionskorsett aufrechterhalten werden. Ich erinnere mich an eine Klientin, die gesagt hat: «Ich bin bei meinen Eltern wie gelähmt. Es ist so langweilig. Ich schlafe fast ein, wenn ich bei ihnen am Tisch sitze. Ich habe einen Knoten im Bauch und bin in den Tagen darauf völlig deprimiert.» Diese Lähmung und Sprachlosigkeit kennen viele nicht abgelöste Menschen.
Wie kommt man da raus?
Wer sich so gefangen fühlt und glaubt, nichts ändern zu können oder zu dürfen, kann sich ein paar wichtige Fragen stellen: «Was würde passieren, wenn ich meine Wünsche über mein Pflichtgefühl stellte?» Oder: «Was passiert, wenn ich genauso weitermache wie bisher?» Manchmal sind die Antworten auf diese Fragen so erschreckend, dass endlich eine innere Kraft entsteht, etwas zu verändern.
Indem Eltern ihr Kind ihrem Alter entsprechend loslassen, unterstützen sie seine Ablösung.
Meine Klientin, die sich mit ihren Eltern so langweilte, antwortete: «Ich werde depressiv, will nur noch schlafen, verliere meinen Job und meine Freunde, und dann muss ich irgendwann wieder bei meinen Eltern einziehen.»
Diese Horrorvorstellung weckte ihren Widerstand und sie spürte, wie ungesund sie noch mit ihren Eltern verstrickt war. Wir konnten dann anfangen, an ihrer Ablösung zu arbeiten, und sie lernte nach und nach, ihre eigenen Wünsche zu fühlen und zu formulieren, Grenzen zu setzen, die Beziehung zu den Eltern mitzugestalten, anstatt sich in etwas zu fügen, das ihr nicht guttut.
Wie sieht das Thema Ablösung vonseiten der Eltern aus? Können auch sie dafür Sorge tragen, dass eine gesunde Ablösung stattfindet?
Auf jeden Fall können Eltern ihre Kinder dabei unterstützen. Ablösung ist keine Einbahnstrasse. Kinder haben im Laufe ihres Lebens die Aufgabe, sich von den Eltern abzulösen. Und Eltern kommen idealerweise ihrer Aufgabe nach, die Kinder loszulassen.
Loslassen heisst dabei nicht, die Kinder aus dem Nest zu schmeissen, wenn sie noch gar nicht so weit sind, sondern sie altersgemäss in die Selbständigkeit zu begleiten. Halt zu geben, aber dem Kind auch zu vertrauen, damit es Selbstvertrauen entwickelt. Ein Beispiel aus meiner Praxis: Eine junge Frau hatte ihren Job gekündigt, um mit ihrem Partner eine Weltreise zu machen. Ihre Mutter war völlig entsetzt. Was da alles passieren kann!
Wie haben Sie da beraten?
Ich habe die beiden im Austausch begleitet und übersetzt. Im Grunde ging es darum, der Mutter zu spiegeln, dass sie ihre Tochter zu einem so selbständigen und mutigen Menschen erzogen hatte, dass sich diese nun traute, ihre Träume zu leben. Mir war wichtig, der Mutter zu vermitteln, dass sie einen sehr guten Job gemacht hatte: «Ihre Tochter ist jetzt erwachsen. Sie steht mit beiden Beinen fest im Leben, sie ist selbstbewusst und stark. Und das ist auch Ihnen zu verdanken. Sie dürfen wirklich loslassen.»
Aber sorgen sich Eltern nicht immer um ihre Kinder?
Natürlich. Aber übertriebene elterliche Sorge führt zu Angst, und das führt schlimmstenfalls dazu, dass Kinder sich nichts zutrauen. Man kann sein Kind ohnehin nicht vor allem beschützen. Aber man kann für es da sein, wenn es einen braucht. Das gibt sehr viel Halt, zu wissen, dass die Eltern im Zweifel für einen da sind – egal, wie alt man ist und was passiert.

Wie wichtig ist eine gute Ablösung von den eigenen Eltern, wenn wir selbst Mutter oder Vater werden?
Das ist ein wichtiger Punkt. Ich sehe es häufig, dass sich frischgebackene Eltern Fragen wie diese stellen: Wo hänge ich noch in alten Konflikten fest? Welche alten Enttäuschungen muss ich noch verarbeiten, damit ich sie nicht an meine eigenen Kinder weitergebe?
Gibt es Anzeichen dafür, dass ich meinen Kindern ihre Ablösung erschwere? Zum Beispiel, wenn ich besondere Erwartungen an sie habe?
Es kommt darauf an, ob das Kind die elterlichen Erwartungen erfüllen kann und mag. Wichtig ist, dass Kinder unpassende elterliche Erwartungen zurückweisen können. Denn Eltern haben nun mal viele Erwartungen an ihre Kinder, oft ganz unbewusst. Das fängt schon in der Schwangerschaft an. Man malt sich aus, wie das Kind wird, oder man wünscht sich beispielsweise insgeheim eher einen Jungen oder ein Mädchen.
So ging es mir. Als ich erfuhr, dass ich einen Sohn bekomme, war ich enttäuscht. Ich hatte mir so sehr eine Tochter gewünscht. Ich musste sogar kurz weinen.
Wie gesund, dass Sie diese Traurigkeit zugelassen haben! Haben Sie lange getrauert?
Nein, nach einer Stunde war alles wieder in Ordnung und ich konnte mich auf meinen Sohn freuen.
Das ist ein sehr gutes Beispiel, wie wir mit unseren Erwartungen als Eltern umgehen können. Wir nehmen sie wahr und passen sie an, ohne dem Kind etwas anzulasten, ohne ihm Schuldgefühle zu machen. Es werden ja im Laufe der Elternschaft noch sehr viele Enttäuschungen hinzukommen.
Ihr Sohn schlägt vielleicht einen anderen beruflichen Weg ein, als Sie sich wünschen, heiratet jemanden, den Sie nicht mögen, oder vertritt politische Ansichten, die Sie schrecklich finden. In diesen Situationen dürfen Sie enttäuscht sein. Sie dürfen weinen und mit Ihren Freundinnen darüber reden, wie schwierig Sie das finden. Es bringt nichts, diese Gefühle zu unterdrücken.
Wenn wir uns selbst emotional versorgen können, entsteht oft ein milder Blick auf unsere Eltern.
Aber es ist kaum hilfreich, dem Kind die eigene Enttäuschung zu zeigen.
Da wären wir wieder bei der emotionalen Reife. Wir fühlen, was ist, wir halten Differenzen aus und können genau deshalb in Kontakt bleiben. Indem wir unseren Kindern vorleben, dass wir unsere Gefühle nicht unterdrücken, sondern sie zulassen, sind wir ihnen gute Lehrer. Wir dürfen traurig sein, dass unser Kind einen anderen Weg einschlägt, als wir uns das viele Jahre lang gewünscht haben. Aber wir haben kein Recht, unser Kind in unsere Wünsche zu zwängen.
Dennoch bleibt mein Kind ein Leben lang mein Kind und ich seine Mutter.
Da haben Sie völlig recht. Sie beide werden immer eine besondere Beziehung zueinander haben, in der auch familiäre Loyalität eine Rolle spielt. Wenn die Ablösung gelingt, kann eine wunderbare Beziehung auf Augenhöhe entstehen. Idealerweise können erwachsene Kinder sich ihren Eltern verbunden fühlen und gleichzeitig ein selbstbestimmtes Leben führen, das durchaus von den Erwartungen der Eltern abweichen kann.
Statt Verlustangst herrscht das Vertrauen, geliebt zu werden. Statt Schuld fühlen wir Dankbarkeit, Verständnis und Liebe für unsere Eltern. Wenn wir gelernt haben, uns selbst emotional zu versorgen, entsteht oft ein milder Blick auf die Eltern, weil wir erkennen, dass sie uns – in Anbetracht ihrer eigenen Kindheitserfahrungen – die besten Eltern waren, die sie sein konnten.
Sandra Konrad: Nicht ohne meine Eltern. Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert. Piper 2023. ca. 38 Franken.