Vorbilder: Es zählt nicht, was wir sagen, sondern was wir tun
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Es zählt nicht, was wir sagen, sondern was wir tun

Lesedauer: 4 Minuten

Vorbild zu sein, ist so eine Sache, gerade gegenüber dem eigenen Kind. Denn dieses nimmt ­haargenau wahr, wenn Eltern nicht tun, was sie ihm predigen. Ratsamer ist, Haltung zu zeigen.

Text: Thomas Feibel
Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

Wenn mein ältester Sohn an seinem Briefkasten vorbeikommt, schliesst er ihn auf. Jedes Mal. «Das ist der Feibel-Move», erklärte er mir eines Tages halb im Scherz, als ich zufällig bei dieser rituellen Handlung zugegen war. Erst musste ich lachen. Dann aber wurde mir schlagartig klar, woher mein Sohn diese seltsame Marotte hat: von mir! Auch ich gehe nicht an meinem Briefkasten vorüber, ohne nicht kurz hineinzuschauen. Jedes Mal.

Ich könnte nun an dieser Stelle wahrheitsgetreu einschieben, dass es dafür gute Gründe gibt. So werfen in meiner Stadt die unterschiedlichsten Briefzusteller täglich mehrfach zu verschiedenen Uhrzeiten Post ein. Die Wahrheit sieht jedoch ganz anders aus: Dieser Tick ist eine Angewohnheit, die bereits auf meinen Vater zurückgeht. Sobald er früher den Eingangsbereich seines Mietshauses durchquerte, sperrte er den Briefkasten auf. Jedes Mal. Kinder ahmen ihre Eltern nach, wie dieses generationenübergreifende Beispiel zeigt. 

Vorbilder als Abgrenzung zu den Eltern

Das gilt auch für die Medienerziehung. Kaum ist zum Beispiel von der Smartphonenutzung die Rede, wird fast schon reflexartig der Ruf nach der Vorbildfunktion laut. Kinder und Jugendliche, das wissen wir aus der täglichen Beobachtung, verbringen viel mehr Zeit damit, als es ihrer Gesundheit zuträglich sein dürfte. Sie spielen, chatten und posten, bis die Finger glühen. Allerdings kommen auch wir Erwachsenen – das gehört ebenfalls zur Wahrheit – kaum von unseren Geräten los. Unsere Motive sind, selbst wenn wir uns das exzellent schönzureden wissen, nicht immer von Bedeutung. Heute ein gutes Vorbild zu sein, ist nicht nur schwierig, sondern auch eine Frage der Definition.

Kinder sind exzellente Beobachter der Verhaltensweisen ihrer Eltern. Darum können wir ihnen nichts vormachen.

Wir wissen einerseits, dass Kinder und Jugendliche sich ihre Vorbilder bewusst aussuchen, etwa in ihrer Peergroup unter Freundinnen und Schulkameraden. Sie lassen sich aber ebenso von Schauspielern, Influencerinnen oder Superhelden inspirieren. Dahinter verbirgt sich die Sehnsucht nach einer bestimmten Eigenschaft, die diese Idole verkörpern. Zum Beispiel Mut, Schlagfertigkeit, immenser Reichtum oder einfach nur mehr Selbstbewusstsein. Und es stört unsere Kinder keineswegs, wenn wir die glühende Begeisterung für ihre Leitbilder nicht teilen.

Im Gegenteil: Würden wir ihren Lieblingsrapper mit der gleichen Inbrunst hören, käme das bei ihnen gar nicht gut an. Denn sie brauchen auf dem komplizierten Weg zur eigenen Identität sehr viel Freiraum. Diese notwendige Abgrenzung ist auch der Grund, warum wir selbst schon als Kind besonders allergisch reagierten, wenn Erwachsene uns bestimmte Idealbilder aufdrängen wollten.

Vorbilder kann man sich nicht immer aussuchen

Beim Thema «Vorbild» gibt es aber noch eine andere Seite: Nicht immer suchen sich Kinder und Jugendliche ihre Vorbilder bewusst aus. Auch unterschwellige Vorbilder können sie ein Leben lang in ihrem Denken und Handeln prägen und sie in ihren späteren Beziehungen zum Partner oder ihrem eigenen Kind beeinflussen.

Damit sind vor allem wir Eltern gemeint, die häufig ebenso unbemerkt wie unbeabsichtigt Verhaltensweisen und Botschaften an die nächste Generation weitergeben. Trotzdem wollen wir ein positives Vorbild sein und hegen die besten Absichten. Schliesslich möchten wir alle unseren Söhnen und Töchtern eine liebevolle und behütete Kindheit angedeihen lassen. Und wir hoffen sehr, dass unser Erziehungsstil sie dabei unterstützt, ihre Fähigkeiten zu entfalten, damit sie später in der Lage sind, ein erfülltes und glückliches Leben zu führen. 

Es ist nicht ratsam, bestimmte Dinge – wie etwa Rauchen – vor Kindern verbergen zu wollen. Sie wissen es längst.

Wenn Eltern dürfen, was ihr Kind nicht darf

Nur übersehen wir dabei einen wichtigen Aspekt: Wir besitzen keinerlei Kontrolle darüber, welches Vorbild wir abgeben. Für unsere Kinder sind wir immer Vorbild. Nicht nur in Momenten, wenn wir gut gelaunt und grosszügig sind oder anderen Menschen gegenüber Respekt, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft zeigen. Dummerweise sind wir auch dann Vorbild, wenn wir einen schlechten Tag haben, uns vielleicht über eine Parkbusse ärgern oder wegen der dauerplappernden Tante die Augen verdrehen. 

Kinder sind exzellente Beobachter der Verhaltensweisen ihrer Eltern. Sie sind näher an uns dran als jeder andere Mensch. Zudem geben wir uns in der Privatsphäre unseres Zuhauses so, wie wir sind: unverstellt. Darum können wir unseren Kindern nichts vormachen. Sie haben ein untrügliches Gespür dafür, wenn wir Wasser predigen und Wein trinken, und stellen uns dann völlig zu Recht zur Rede.

Sie ärgern sich zum Beispiel, wenn wir – natürlich nur zu ihrem Schutz – die Mediennutzung einschränken wollen und sie gleichzeitig sehen, wie wir unser Smartphone ständig in Griffnähe haben. In meinen Workshops frage ich Schülerinnen und Schüler, wie ihre Eltern reagieren, wenn sie für ihr Verhalten kritisiert werden. «Das ist wichtig», heisst es dann, oder «Das ist für die Arbeit». Schauen dann Kinder genauer hin, erwischen sie ihre Eltern beim Spielen, Chatten und Shoppen. Sie fühlen sich nicht nur abgewimmelt, sondern auch betrogen.

Was zählt, sind Klarheit, Authentizität und Ehrlichkeit 

Um Missverständnisse zu vermeiden: Sich nicht an die selbst aufgestellten Regeln zu halten, ist kein Staatsverbrechen, sondern völlig normal. Schwierig wird es immer nur, wenn wir nicht dazu stehen. Die Vorbildfunktion gilt hier ebenso, wenn auch nicht ganz freiwillig.

Darum ist es nicht ratsam, bestimmte Dinge vor Kindern verbergen zu wollen. Ich kenne Eltern, die ihren Kindern verheimlichen, dass sie rauchen oder gerne mal ungesunde Dinge zu sich nehmen. Keine Sorge, die Kinder wissen es längst. Aus der Familien­beratung höre ich immer wieder von Paaren, die sich auseinandergelebt haben und kurz vor der Trennung stehen. Und beide sind der felsenfesten Überzeugung, dass ihre Kinder von den dramatischen familiären Entwicklungen überhaupt nichts mitbekommen haben.

Wir können nicht dauernd ­darauf bedacht sein, ein gutes Vorbild abzugeben. Viel eher sollten wir ­unser Verhalten immer wieder kritisch überprüfen.

Das ist natürlich totaler Unsinn. Denn Kinder haben sehr feine Antennen und ein untrügliches Gespür dafür, wenn zu Hause etwas nicht stimmt. Eigentlich ist die Heimlichtuerei allein dazu gedacht, die Kinder zu schützen. In Wahrheit bringen Eltern ihnen auf diese Weise nur bei, dass es vollkommen in Ordnung ist, Geheimnisse zu haben oder sich schwierigen Situationen durch Unwahrheiten zu entziehen. Wie soll es also gehen, ein gutes Vorbild zu sein?

Niemand kann dauerhaft und bewusst auf seine Vorbildfunktion achten, ohne sich dabei ständig zu verbiegen. Dieser ständige, perfektionistische Anspruch würde uns auf Dauer nur unnötig unter Druck setzen. Stattdessen ist es ratsamer, immer wieder innezuhalten und die eigene Haltung sowie das eigene Verhalten kritisch zu überprüfen. Denn im Leben, insbesondere in der Erziehung, zählen letztlich Klarheit, Authentizität und Ehrlichkeit. Es zählt eben nicht, was wir sagen, sondern was wir tun. Nur mit der Haltung geben wir die Werte weiter, die wir für richtig und wichtig halten. Haltung statt Vorbild.

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Alle Artikel von Thomas Feibel

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