Wie Marionetten lässt der Hypnotiseur Menschen schlafend zu Boden sinken oder ihren eigenen Namen vergessen. Völlig willenlos werden sie auf der Bühne vorgeführt, blossgestellt. Danach wissen sie von nichts mehr. Oder hypnotisierte Patientinnen liegen in tiefer Trance auf einer Couch, ohne Kontrolle, dem Therapeuten ausgeliefert. Das ist das Bild, das vielen in den Sinn kommt, wenn sie das Wort Hypnose hören. Geprägt von Showhypnosen oder Filmen.
Doch klinische oder medizinische Hypnosetherapie beinhaltet etwas ganz anderes. Deren Ziel ist, vereinfacht gesagt, das pure Gegenteil von Blossstellen oder Ausgeliefertsein. Sie soll stärken. «Hypnose ist mentales Selbstwirksamkeitstraining», sagt Anna Bewer Silvestri. Sie ist Kinderärztin in Thalwil ZH und wendet seit 2018 Hypnose in ihrem Praxisalltag an.
Wenn jemand nicht will, funktioniert Hypnosetherapie nicht.
Caroline Maroni, Psychotherapeutin
Dazu gekommen ist sie, weil sie vermehrt mit Kindern konfrontiert wurde, für die sie mit ihrer Ausbildung als Pädiaterin keine befriedigende Lösung hatte: Einnässen am Tag, funktionelle Bauch- oder Kopfschmerzen – also Schmerzen, für die es keine organische Ursache gibt – oder Schulangst zum Beispiel.
Vertrauen ist sehr wichtig
Genau dafür, aber auch für Einschlafstörungen, Probleme mit der Emotionsregulation, Ängste im Allgemeinen oder Lernblockaden eignet sich die Hypnosetherapie bei Kindern und Jugendlichen. Die Voraussetzung dafür ist, dass das Kind selbst etwas an der Situation verändern will.
«Wenn jemand nicht will, funktioniert Hypnosetherapie nicht», erklärt Caroline Maroni, Psychotherapeutin und Präsidentin der Gesellschaft für klinische Hypnose und Hypnotherapie Schweiz (GHYPS). Auch müssten Eltern sowie Kinder ihr vertrauen, sagt Anna Bewer Silvestri. Deshalb behandelt sie nur Kinder in Hypnosetherapie, die sie aus ihrer Praxis kennt.
Wie läuft nun eine solche Therapiesitzung ab? «Das ist sehr individuell», sagt Eva-Maria Albermann, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Winterthur ZH. Und das sei das Bahnbrechende gewesen, als der amerikanische Psychiater Milton H. Erickson Mitte des 20. Jahrhunderts die Hypnosetherapie entwickelte: Nicht der Therapeut sagt dem Klienten nach einem standardisierten Verfahren, was er tun muss, sondern dieser findet die Lösung für sich selbst.
Trotz der individuellen Ausgestaltung lassen sich einige Grundpfeiler definieren. Zuerst legt das Kind sein Ziel fest. Anna Bewer Silvestri lädt die Kinder dazu ein, ein Motivationsschreiben zu erstellen und zur ersten Stunde mitzubringen. Darin sollen sie festhalten, was sie verändern möchten. Zum Beispiel: «Ich möchte besser mit meiner Lehrerin auskommen» oder «Ich möchte eine trockene Unterhose haben». Vorschulkinder malen oder zeichnen ihr Ziel, beispielsweise ein glückliches Kind auf dem WC, weil sie lernen wollen, dorthin zu gehen.
Wir steuern die Aufmerksamkeit auf das, was das Kind bereits kann.
Caroline Maroni, Psychotherapeutin
Fokus auf Ressourcen
Danach erfolgt die sogenannte Ressourcenanamnese. Gemeinsam mit den Therapeutinnen finden die Kinder heraus, welche Stärken, Interessen und Kompetenzen sie haben. Denn: Hypnosetherapie fokussiert auf die Ressourcen, nicht auf die Defizite.
«Wir steuern die Aufmerksamkeit auf das, was das Kind bereits kann», sagt Caroline Maroni. Als Beispiel erzählt sie von einer Jugendlichen, die Essattacken hatte. Wir nennen sie hier Lea. Caroline Maroni sprach mit Lea zu Beginn darüber, was sie alles bereits getan hatte, um die Essattacken zu vermeiden und ihr Gewicht zu kontrollieren.
«So realisierte Lea, dass sie sehr kompetent war. Sie trieb bereits Sport, bewahrte keine Süssigkeiten oder Snacks zu Hause auf und hatte die Attacken oft gut im Griff.» Schliesslich fanden sie heraus, dass sie dann unkontrolliert ass, wenn sie allein zu Hause war und sich einsam fühlte. Im nächsten Schritt suchten sie eine Lösung dafür. Dies passierte dann unter Hypnose, also in Trance.
Eine ganz natürliche Fähigkeit
Doch was ist die Trance genau? «Es ist der Zustand, in dem wir komplett auf etwas fokussiert sind und alles um uns herum ausblenden», erklärt Eva-Maria Albermann, die für die Schweizerische Ärztegesellschaft für Hypnose (SMSH) Weiterbildungen leitet.
Kinder haben eine ganz natürliche Fähigkeit, in Trance zu gehen. Alle Eltern kennen das: Das Abendessen ist bereit, man ruft das Kind, doch es hört einen nicht, weil es ins Spiel versunken ist. Genau dann ist es in Trance. Kinder sprechen daher besonders gut auf Hypnosetherapie oder Hypnotherapie an – die Begriffe können synonym verwendet werden. «Die Tiefe der Trance ist für die Wirksamkeit der Therapie nicht entscheidend», erklärt Caroline Maroni.
Induzierte Trance
Anna Bewer Silvestri lässt die Kinder während der Hypnose zeichnen, spielen, macht Fantasie- oder Körperreisen. Für Letzteres legen sich die Kinder auf ein grosses Blatt Papier und die Pädiaterin zeichnet sie ab. Danach sehen die Kinder sich von aussen und malen ihr Selbstbild weiter, bis es so ist, wie sie es haben möchten.

Ältere Kinder oder Jugendliche können – wie Erwachsene – in eine sogenannte induzierte Trance geführt werden. Dafür setzen oder legen sie sich bequem hin, fixieren einen Punkt im Raum oder ihre beiden ausgestreckten Zeigefinger. Mit sanfter Stimme führen die Therapeutinnen die Jugendlichen in einen tiefen Entspannungszustand, bis die Fingerspitzen sich berühren und die Augen sich schliessen.
Gefühl des sicheren Orts verankern
Sind die Kinder in Trance, lässt Anna Bewer Silvestri sie in Gedanken an ihren sicheren Ort reisen: «Das ist der Ort, an dem sie sich wohlfühlen und sich selbst sein können.» Das kann der Fussballplatz, der Nordpol oder das eigene Bett sein. An diesem Ort erarbeiten die Kinder die Lösung für ihr Problem.
Zum Beispiel: Ein Kind findet ein Loch in seiner Blase und repariert es. Ein fussballbegeisterter Junge sieht seine Lehrerin fortan als Schiedsrichterin. Nun zettelt er mit ihr keinen Streit mehr an, weil sie ihm sonst die rote Karte zeigen und ihn vom Platz verweisen könnte. Oder eine Jugendliche, die gehänselt wird, baut sich einen Schutzanzug. Wenn andere sie plagen, kann sie in Gedanken in den Anzug schlüpfen.
Die Feenfrage
Eva-Maria Albermann stellt den Kindern manchmal die Feenfrage: «Stell dir vor, heute Nacht kommt eine Fee zu dir, bringt dir ein wunderbares Zaubergetränk und morgen sind all deine Probleme weg. Wie stehst du dann auf? Was ziehst du an? Was frühstückst du? Wie gehst du zur Schule? Wie reagierst du, wenn dich jemand ärgert?» Sie stellt viele konkrete Fragen, damit «die Kinder beim Tagträumen hilfreiche Lösungen finden können».
Das Gefühl, das die Kinder in Trance an ihrem sicheren Ort erleben, verankern sie mit Worten, einer Handbewegung, einer Farbe oder Musik im Körper. Begegnen die Kinder im Alltag einer herausfordernden Situation, können sie sich daran erinnern, sich die Worte sagen oder die Handbewegung machen.
Hypnose ist nicht nur eine Therapie-, sondern auch eine Kommunikationsform, ja eine Haltung.
Das schöne Gefühl im Körper verankern
Lea beispielswiese hat sich in Trance an das Gefühl erinnert, das sie beim Spielen mit ihrer verstorbenen Grossmutter erlebte. Mit einer Handbewegung hat sie dieses Gefühl in ihrem Körper verankert. Wenn sie sich zu Hause einsam fühlte, konnte sie mit der Handbewegung das schöne Gefühl mit der Grossmutter hervorrufen. So bekam sie die Essattacken nach und nach in den Griff.
Eva-Maria Albermann nimmt für Jugendliche die Trancen auf, damit sie diese auf ihrem Handy anhören können. «Das ist wie ein Geländer. Irgendwann benötigen sie es nicht mehr, weil sie sich die Worte selbst sagen können. Dann praktizieren sie Selbsthypnose.»
«Die Lösung ist in dir»
Alle drei befragten Expertinnen betonen, dass Hypnose nicht nur in Therapie angewendet werden kann, sondern eine Kommunikationsform, ja eine Haltung ist. Die Haltung: «Die Lösung ist in dir.» Anna Bewer Silvestri bezeichnet hypnotische Sprache als achtsam und positiv.
Deshalb sagt sie nicht «Du bist nicht trocken», sondern «Du weisst noch nicht, wie dein Kopf und deine Blase zusammen sprechen können». Nicht: «Du hast Angst, alleine in die Schule zu gehen.» Sondern: «Du weisst noch nicht, wie du sicher alleine in die Schule gehen kannst.» Sie wende Konversationshypnose täglich in ihrer Sprechstunde an, mit den Eltern und den Kindern.
Als Beispiel nennt sie ein Kind, das Angst vor dem Impfen hat. Zu diesem sagt sie: «Du bist hier der Chef über das Tempo. Was brauchst du, damit wir die Impfung machen können? Musik? Ein Tier, das du halten kannst?» Sie erklärt dem Kind jeden Schritt, den sie macht, und lässt es mitentscheiden: Pieks links oder rechts? Pflaster bunt oder weiss? Das fördere die Selbstwirksamkeit des Kindes, weil es spüre, dass es die Kontrolle über die Situation hat. So könne es die Angst vor der Spritze nach und nach ablegen.
In das Vertrauen des Kindes investieren
Kann das viele Entscheiden nicht überfordern? «Manchmal ja. Wenn ich merke, dass das Kind überfordert ist, fahre ich den Entscheidungsbaum so weit herunter, bis es eine Frage beantworten kann. Meistens ist das die Farbe des Pflasters.» Es sei auch schon vorgekommen, dass sie eine Impfung vertagt habe, weil das Kind nicht bereit gewesen sei – manchmal zum Unmut der Eltern.
Dann sagt sie zu diesen: «Ich verstehe, dass das für Sie mühsam ist. Aber es ist wie eine Investition in die Selbstwirksamkeit. Wenn ich jetzt in das Vertrauen Ihres Kindes investiere, dann wird es mir in Zukunft den Arm freiwillig hinhalten. Wenn wir es zwingen, nehmen wir ihm die Möglichkeit, seine Gefühle regulieren und seine Angst bewältigen zu können.»
Ich lade die Eltern immer ein, ihre Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was gut läuft.
Anna Bewer Silvestri, Kinderärztin
Mithilfe der Eltern
Den Fokus auf die Stärken statt auf die Schwächen legen – das können Eltern doch auch. Können sie hypnotische Sprache also selbst anwenden? Ja, sind sich alle drei Expertinnen einig. «Ich lade die Eltern immer ein, ihre Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was gut läuft», sagt Anna Bewer Silvestri. Ein Beispiel: Nässt ein Kind an sechs von sieben Tagen ein, sollten Eltern den einen trockenen Tag loben, statt ständig die sechs nassen im Blick zu haben. Caroline Maroni ist sich bewusst, dass viele Eltern selbst nicht ressourcenorientiert erzogen wurden, weshalb ihnen dies zu Beginn schwerfallen könne.
Neben der Sprache zählen laut den drei Expertinnen auch Geschichten oder Rituale im Alltag zur Hypnose. Geschichten, in denen ein Kind zu Beginn etwas noch nicht kann und schliesslich über sich hinauswächst. Ein auf die Hand gemaltes Herz, damit dem Kind der Abschied nicht so schwerfällt. Oder eine Sorgendose, in die das Kind abends seine schwierigen Gefühle legen kann. Eva-Maria Albermann meint: «Es geht bei der Hypnose nicht darum, alles immer nur positiv zu sehen, sondern immer wieder zu schauen, was gut läuft, und dort Energie hineinzustecken.»
Das sollten Eltern bei der Auswahl einer Therapeutin beachten
Fundierte Ausbildungen in medizinischer oder klinischer Hypnose bieten die Gesellschaft für klinische Hypnose und Hypnotherapie Schweiz (GHYPS) oder die Schweizerische Ärztegesellschaft für Hypnose (SMSH) an. Hypnosetherapie bei einer Ärztin, einem Psychiater oder einer Psychotherapeutin wird von der Krankenkasse vergütet. Ansonsten müssen die Eltern selbst bezahlen.
Für GHYPS-Präsidentin Caroline Maroni kommt es bei der Auswahl auch darauf an, ob Eltern jemanden für eine Therapie oder ein Coaching suchen. Denn Hypnose könne auch von Coaches beispielsweise für Lernschwierigkeiten angeboten werden. Als fundierte Weiterbildungen für Coaches nennt sie jene am IEF Zürich oder an der Uni Basel.
Dass Therapeuten mit der Hypnose verantwortungsvoll umgehen, sei wichtig, betont Caroline Maroni. In Trance trete das Analytische, Rationale in den Hintergrund und die Klienten seien für Suggestionen – sie nennt diese auch sprachliche Einladungen – offen. «Das ist die Stärke der Hypnose», sagt Caroline Maroni. «Dieser Zustand kann jedoch auch missbraucht werden.» Gerade Menschen, die in Not seien, seien suggestiv leicht zu beeinflussen. Aus diesem Grund sollten Eltern Therapeuten sorgfältig auswählen.
Erfahren Sie hier mehr darüber, was im Hirn während der Hypnose passiert.








