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Jedes Kind ist eine Wundertüte

Lesedauer: 5 min

Jedes Kind ist eine Wundertüte

Musikpädagogin Sibylle Dubs hat im Trubel des Schulalltags kurzzeitig vergessen, wie wertvoll es ist, den Schülerinnen und Schülern stets mit Neugierde zu begegnen. Zum Glück öffnet Erik ihr die Augen.
Text: Sibylle Dubs

Zeichnung: zVg

Passionata – Musikunterricht macht den Unterschied

Als ich diese Sommerferien die Namenslisten meiner neuen ersten Klassen durchlas, kreisten mir so manche Gedanken. Ist Viviana* wohl auch so still wie ihre grosse Schwester, die früher bei mir im Unterricht war? Wird Luan der Ordner ebenso schnell kaputt gehen, wie seinem Namensvetter vor vier Jahren? Dann hielt ich inne. Ich war gerade dabei, das Wesen von ehemaligen und zukünftigen Schulkindern mit Etiketten zuzukleben.

Meine Freundin verglich Kinder einmal mit Wundertüten. Das Bild gefällt mir: Die Vorfreude auf etwas, das noch verdeckt ist.

Zum Schulstart möchte ich zu diesem Thema über ein lehrreiches Erlebnis mit meinem früheren Schüler Erik berichten.

Erik war in der Schule oft in Gedanken abwesend und es schien mir, er hätte sich im ersten Jahr nur wenig auf Aktivitäten im Musikunterricht eingelassen. Zum Beispiel machte er nicht mit, als alle Kinder unter das Nebeltuch schlüpften. Das ist ein grosser transparenter Vorhangstoff, der vielen Zwecken dient.

An diesem Morgen legte sich die ganze Gruppe mit einem Lautsprecher darunter, um eine Aufnahme anzuhören. Nur nicht Erik. Er stand ein paar Meter entfernt und grinste mit gerunzelter Stirn in unsere Richtung. Als ich zu ihm ging und fragte, ob er sich nicht das Ergebnis anhören mochte, stellte sich heraus, dass er nicht mitgekriegt hatte, wie wir soeben das Herbst-Lied samt selbst gestaltetem Arrangement aus Stabspielen, Triangel und Regenrohr aufgenommen hatten. Obwohl er dabei war und direkt neben mir stand.

Wie ein junger Muni

Seine Platzierung war kein Zufall. Um Konflikte mit anderen Kindern zu vermeiden, richtete ich meine Unterrichtsplanung darauf aus, dass Erik in meiner Nähe war. Besonders Nino, der seinerseits Mühe hatte, sich zu regulieren, fühlte sich durch Eriks passives Verhalten schnell provoziert. Wenn es Streit gab, war Erik den anderen Kindern verbal unterlegen und rammte, mit dem Kopf nach unten, seine Kontrahenten wie ein junger Muni.

Die Dynamik in der Klasse beschäftigte mich. Um mit möglichst wenig Störungen durch die Musik-Morgen zu kommen, suchte ich nach Aufgaben und Inhalten, die dem Wesen der Kinder angepasst waren. Zumindest glaubte ich das.

Ich traute Erik nicht einmal zu, dass er die Aufgabe verstanden hatte.

Bis zu dem Spätsommermorgen, als ich zu Beginn des Unterrichts ein Xylophon vor die Klasse stellte. Mein Plan war, den Kindern mit einem anspruchsvollen Hörtraining einen kleinen Rätselspass zu bieten. Ich sang eine Melodie vor mit Solmisations-Silben (Do-Re-Mi etc.) vor und wer sich meldete, hatte einen Versuch, diese Melodie nachzuspielen.

Als Erik sogleich aufstreckte, nahm ich ihn nicht dran. Ich erwartete nicht, dass er etwas zum Thema beitragen, sondern vielleicht über die Katze berichten wollte, die er draussen auf dem Pausenplatz entdeckt hatte. Stattdessen durfte Yasmina ihr Glück am Xylophon probieren. Sie schaffte es nicht.

Eriks Trick

Auch beim zweiten Anlauf wäre mir nicht in den Sinn gekommen, Erik dranzunehmen, der wieder aufstreckte und mich dazu mit seinen Augen fixierte. Ich war sicher, dass er zu wenig Vorstellung vom Tonraum hatte, um diese Aufgabe zu bewältigen. Ich traute ihm nicht einmal zu, dass er sie verstanden hatte. Erst gerade hatten wir im Treppenhaus die Tonleiter rauf und runter gespielt mit Boomwhackers (klingende Kunststoff-Röhren) und Erik hatte jeden seiner Einsätze verpasst. Ich übergab deshalb Gino die Xylophon-Schlägel. Aber auch sein Versuch war weit entfernt von der richtigen Melodie.

Erik schüttelte seinen gestreckten Arm nun energisch in meine Richtung. Vielleicht muss er dringend aufs WC, dachte ich und rief ihn auf. Er schritt nach vorne, nahm Gino die Schlägel aus den Händen, setzte sich hin und spielte exakt die sieben Töne, die ich vorgesungen hatte. Und darüber hinaus begann er auch noch den anderen Kindern «seinen Trick» zu erklären. «Dort», er zeigte nach links wie ein Verkehrspolizist, «ist tiefer und dort» er glitt mit dem Filzkopf seines Schlägels über das Xylophon, «ist höher. Zuerst drei Töne Do, Re, Mi. Dann Sprung bis So. Dann oben ein La, wieder So wieder und Do.»

Der Mensch ist grundsätzlich und nicht bloss vorläufig, bis wir ihn etwas besser kennen, ein Geheimnis.

Hermann Siegenthaler

Ich war begeistert, dass Erik so eine starke Leistung zeigte und musste nach dem Unterricht sogleich der Klassenlehrerin davon berichten. Auf dem Nachhauseweg liess ich die Szene nochmals vergnügt Revue passieren.

Doch auf einmal stellte ich mir die entscheidende Frage: Wieso war dieser Morgen wortwörtlich unerwartet für mich? Die Antwort steht im Musikpädagogik-Buch von Hermann Siegenthaler nachzulesen: «Es ist eben einfacher, den Menschen durch klare Begriffe zu belegen, als ihm unendliche Offenheit und Verwandlungsmöglichkeit zuzugestehen».

Passionata –Musikunterricht macht den Unterschied

Diese Kolumne berichtet von Erlebnissen im Musikunterricht des Stadtzürcher Schulhauses Holderbach. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse besuchen wöchentlich zwei Lektionen Musikalische Grundausbildung (MGA) bei einer Fachlehrperson.

Ab der dritten Klasse haben sie die Möglichkeit, dem Schulhauschor beizutreten. Regelmässig singen und tanzen Kinder und Lehrpersonen zusammen auf dem Pausenplatz.

Musizieren ist das pure Leben und ein pädagogisch fundierter Musikunterricht wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.

Neugierig bleiben

Dass ich glaubte, meinen Unterricht dem Wesen der Kinder anzupassen, war ein Irrtum. Es war ihr früheres Verhalten und die durchgemachten Konflikte, welche meinen Lektionen die Leitplanken gaben. In der Überforderung vergass ich, wie wertvoll es auch für mich gewesen wäre, den Kindern auch noch nach einem Jahr mit Neugierde zu begegnen. Ich habe den Unterricht vorausgeplant, ohne wahrzunehmen was mir entgegenkommt.

Auch darüber schreibt Siegenthaler. In diesen Sommerferien studierte ich die Stelle wieder einmal und traf auf folgenden wunderschönen Satz: «Der Mensch ist grundsätzlich und nicht bloss vorläufig, bis wir ihn etwas besser kennen, ein Geheimnis.»

Zurück im Schulhaus beschriftete und verzierte ich die Kistchen für die Geräteschühchen meiner neuen ersten Klassen und dabei stieg pure Vorfreude auf. Denn egal, ob die Kinder am ersten Tag über die Schwelle des Singsaales hüpfen oder ängstlich hereinschleichen, ich darf wieder zwei Jahre lang jede Woche darüber staunen, was in den Wundertüten steckt.

*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.