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Singen zwischen Lasagne und Küchenuhr

Lesedauer: 5 min

Singen zwischen Lasagne und Küchenuhr

Bei einem Besuch in einer anderen Schule wird Musikpädagogin Sibylle Dubs einmal mehr bewusst, wie entscheidend der Musikraum für den Unterricht ist.
Text: Sibylle Dubs

Zeichnung: zVg

Passionata – Musikunterricht macht den Unterschied

Als ich kürzlich bei einem Schulbesuch im Musikunterricht neben einer köchelnden Lasagne für vierzig Personen sass, wusste ich: Ich muss über die Kraft der Sinne schreiben. 

In meiner Rolle als Mentorin für neue Lehrpersonen im Fach Musikalische Grundausbildung besuche ich regelmässig Schulen und erhalte so Einblick in viele Musikräume. Manche sind grosszügig und einladend, andere zumindest zweckmässig eingerichtet.

Doch immer wieder begegne ich Unterrichtssituationen, in denen der Raum mit fachfremdem Material überfüllt ist: Putzutensilien, gestapelte Stühle oder Büromaterial stehen im Weg. Manchmal müssen meine jungen Kolleginnen zwischen Esstischen und Spielsachen mit den Kindern tanzen und musizieren, weil gleich im Anschluss der Hort den Raum übernimmt.

So kam es, dass während einer Musiklektion Mitarbeitende einen grossen Chromstahl-Heizwagen befüllten, dessen lautes Gebläse den Duft von Lasagne im Raum verteilte. 

Der dritte Pädagoge

Natürlich liegt die Ursache dieser Zustände nicht im bösen Willen der Schulleitung, sondern in schlichter Raumknappheit. Und doch wäre es unvorstellbar, dass irgendein anderes Schulfach unter vergleichbaren Bedingungen stattfinden müsste.

Wer im Bildungsbereich arbeitet, kennt den Leitsatz: Der Raum ist der dritte Pädagoge. Eine gute Lernumgebung spricht die Sinne an – sie darf sie nicht stören.  

Musik war schon vielen Menschen eine Stütze und hat sie durch schwierige Zeiten getragen.

Die Musikalische Grundausbildung kann ihren Bildungsauftrag folglich nicht erfüllen, wenn der dritte Pädagoge nach Lasagne riecht.

Dies motiviert mich umso mehr, über unseren Beruf zu schreiben und warum wir Raum für die Sinne brauchen. Musik kann uns verwandeln, ablenken, aufheitern oder stören. Sie war schon vielen Menschen eine Stütze und hat sie durch schwierige Zeiten getragen. Auch eine ehemalige Schülerin von mir.

Gänsehaut-Momente

Die kleine Zahra* war ruhiger und zurückhaltender als die anderen Mädchen. Ihr Vater war krank und starb, als sie in der zweiten Klasse war. Von aussen konnte ich kaum erkennen, wie es ihr ging. Sie zeigte wenig Emotionen und erzählte mir nie etwas über sich.  

Doch wenn ich in die Runde fragte, wer eine Strophe alleine singen möchte, meldete sich Zahra gerne. Und zusammen mit ihrem Freund Arjin, ebenfalls ein leidenschaftlicher Sänger, komponierte sie Lieder, die sie gemeinsam auf der kleinen Bühne im Singsaal der Klasse vortrugen.

Zahra sang unvergleichlich schön. Die Kinder und ich bekamen immer wieder Gänsehaut. Dabei machte sie keine Show. Ihr Gesicht blieb beim Singen entspannt und ihr zierlicher Körper stand beinahe regungslos da, während aus ihrem Inneren die schönsten Klänge hervorkamen. Oft dachte ich: Dieses Kind singt für sich selbst. Es erlebte etwas Schönes und wir durften daran teilhaben. Über die Musik fühlte ich mich Zahra verbunden, ohne dass wir je ein vertrautes Gespräch geführt hätten. 

Nach der Zeit der musikalischen Grundausbildung trat Zahra unserem Schulhauschor bei. Die Jahre vergingen und als sie in der fünften Klasse war, verabschiedete sie sich nach einer Probe als eine der Letzten. Sie sagte: «Wissen Sie, ich liebe Musik. Menschen können mich verlassen, aber die Musik trage ich immer bei mir.» Sie erzählte, wie die Melodien beim Singen ihr ein Gefühl gaben, das sie nicht beschreiben konnte.  

Die Sinne sind unsere Fenster zur Innen- und Aussenwelt.

Gudrun Gierszal, Chorleiterin und Podcasterin

Für Sinneserlebnisse fehlen uns die Worte: eine vertraute Stimme, ein Duft voller Erinnerungen oder ein Anblick, der uns staunen lässt.  

Gudrun Gierszal, Chorleiterin und Podcasterin, sagte den schönen Satz: «Die Sinne sind unsere Fenster zur Innen- und Aussenwelt.» Sie beschreibt in der Folge ihre Techniken, wie sie die Kraft der Sinneswahrnehmung nutzt, um einen Raum zu erschaffen, in dem alle «in ihrer Unterschiedlichkeit angenommen sind und sich trotzdem einer gemeinsamen Sache widmen».

Tiefe Erlebnisse beim Singen

Gierszal erinnert daran, dass diese positive Erfahrung von Gemeinschaft, die Kinder im Musikunterricht erleben können, von gesellschaftlicher Bedeutung ist. Indem wir die Kraft der Sinne nutzen, schaffen wir im Musikunterricht nicht nur bessere Lernbedingungen, sondern auch tiefere Erlebnisse für die Kinder.

Doch was wäre gewesen, hätte ich statt meines liebevollen Singsaals einen Raum wie bei meinem letzten Schulbesuch gehabt?

Passionata –Musikunterricht macht den Unterschied

Diese Kolumne berichtet von Erlebnissen im Musikunterricht des Stadtzürcher Schulhauses Holderbach. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse besuchen wöchentlich zwei Lektionen Musikalische Grundausbildung (MGA) bei einer Fachlehrperson.

Ab der dritten Klasse haben sie die Möglichkeit, dem Schulhauschor beizutreten. Regelmässig singen und tanzen Kinder und Lehrpersonen zusammen auf dem Pausenplatz.

Musizieren ist das pure Leben und ein pädagogisch fundierter Musikunterricht wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.

Ich stelle mir Zahra vor, wie sie als Erstklässlerin mit ihrer Stimme gegen das Brummen des Ofens hätte antreten müssen oder wie mitten in ihrem Solo das Piepsen des Timers das Personal vom Nebenraum angelockt hätte, um die Lasagne zu überprüfen.

Zahra hätte wohl nicht erfahren, wie nicht nur die Musik, sondern die ganze Klasse sie in diesem Moment getragen hat. Sie wäre vielleicht nicht sechs Jahre lang in diesen Raum zurückgekehrt. Und ich hätte nie erfahren, wie glücklich sie die Melodien machen, die sie für immer in sich trägt.

*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.