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Grosse Gefühle im Musikunterricht

Lesedauer: 4 min

Grosse Gefühle im Musikunterricht

In den Unterrichtsstunden von Musikpädagogin Sibylle Dubs geht es hoch her: Von einem an Romeo und Julia erinnernden Drama über eine inszenierte Hochzeit zweier Jungs bis hin zu einem grossen Happy End mit bunten Gummibärchen am weissen Brautkleid.
Text: Sibylle Dubs

Zeichnung: zVg

Passionata – Musikunterricht macht den Unterschied

Oh, sie tragen Ihre Haare heute offen, das kommt Ihnen gut.» So begrüsste mich Ilian* eines Morgens an der Türe zum Musiksaal. Ilians Mutter war Coiffeuse und er ihre beste Visitenkarte. Die Frisuren des Zweitklässlers wechselten regelmässig und kündigten die neuen Trends an und er erhielt dafür viel Beachtung. 

Aber an diesem Morgen würdigte Ilian meine Haare, die ich ausnahmsweise nicht zusammengebunden hatte. Ich freute mich über das Kompliment und fragte munter: «Darf ich zu dir als Kundin kommen, wenn du einmal einen Coiffeur-Salon hast?» Darauf lieferte Amanda hinter ihm eine Antwort: «Bis Ilian ein Coiffeur-Geschäft hat, sind Sie schon lange tot.» Ihr Gesichtsausdruck war so düster wie ihre Aussage.

Ilian winkte mich auf seine Höhe runter und ich bückte mich, damit er mir ins Ohr flüstern konnte: «Amanda ist böse auf mich. Sie hat mir gesagt, dass sie mich liebt. Ich liebe sie ja auch. Aber ich kann sie nicht heiraten. Sie ist keine Albanerin.»

Ich platzte offenbar mitten in ein Romeo-und-Julia-Drama und wurde vom Sturm der Emotionen getroffen.

Gefühls-Gedichte lösen Gefühlschaos aus

Hatte womöglich unser aktuelles Projekt dieses Liebeschaos ausgelöst? Wir beschäftigten uns mit unseren Gefühlen und die Kinder schrieben zum Thema diverse Elfchen. Das sind Gedichte aus elf Wörtern, verteilt auf fünf Verse. Eines der Elfchen der Klasse ging zum Beispiel so:

Langeweile  

Draussen regnet‘s 

Ich bin alleine. 

Was soll ich tun? 

Lego!  

Wir wollten die Gefühls-Gedichte auf vielfältige Weise gestalten und dann aufführen. Deshalb komponierten die Kinder daraus Lieder, erfanden Tänze oder untermalten die Worte mit Klängen. Zum Gedicht «Langeweile» bauten wir aus Kisten und Joghurtbechern riesige neonfarbige Legosteine, die wir im UV-Licht fliegen liessen.

Wenn die Vermählung nicht in der Wirklichkeit geschehen sollte, dann wenigstens auf der Bühne.

Zwei der Elfchen handelten von der Liebe. Eines war von Lakan geschrieben und war sehr traurig. Lakan wollte es ohne grossen Zirkus rundherum alleine auf der Bühne stehend vortragen. Das Gedicht endete mit dem Wort «kämpfen» und ein anderes Kind brachte die Idee, dass wir an den Vortrag einen Stockkampf-Tanz anhängen.

Im anderen Liebesgedicht ging es um eine Hochzeit. Es war allen Beteiligten klar, dass dieses Elfchen szenisch umgesetzt werden musste mit Ilian und Amanda als Liebespaar. Wenn die Vermählung nicht in der Wirklichkeit geschehen sollte, dann wenigstens auf der Bühne.  

Schneeballschlacht in Zeitlupe

Doch die junge Liebe zerbrach noch vor Aufführungstermin auf dem Schulweg und Amanda wollte nicht mehr Ilians Ehefrau spielen. Wir brauchten eine neue Braut. Für die Rolle meldeten sich ein paar Kinder. Unter anderem auch Lakan. Ich versuchte abzutasten, ob er eine Art Statement damit ausdrücken wollte.

Der Junge war noch nicht so lange in der Klasse und ich erinnere mich, dass er beim ersten Mal in der Musikschule peinlich berührt dastand und «Was machen denn die da?» fragte, als die Kinder eine Schneeballschlacht in Zeitlupe übten.

Und sein trauriges Liebes-Elfchen hätte mich nicht erahnen lassen, dass er beim anderen Gedicht das Happy-End zu spielen bereit war. Vor allem war ich ehrlich gesagt überrascht, dass Lakan den Mut hatte, auf der Bühne einen anderen Jungen zu heiraten. Denn leider sind wir noch nicht so weit, dass «schwul» nicht mehr als Schimpfwort auftauchen würde bei den Kindern.

Doch erfreulicherweise gab es auf Lakans Vorschlag keine ablehnenden Kommentare, auch nicht vom Bräutigam Ilian, der im richtigen Leben ausschliesslich eine Albanerin ehelichen wollte. So nahm ich Lakan auf die Liste der Anwärter:innen für die Rolle.

Passionata –Musikunterricht macht den Unterschied

Diese Kolumne berichtet von Erlebnissen im Musikunterricht des Stadtzürcher Schulhauses Holderbach. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse besuchen wöchentlich zwei Lektionen Musikalische Grundausbildung (MGA) bei einer Fachlehrperson.

Ab der dritten Klasse haben sie die Möglichkeit, dem Schulhauschor beizutreten. Regelmässig singen und tanzen Kinder und Lehrpersonen zusammen auf dem Pausenplatz.

Musizieren ist das pure Leben und ein pädagogisch fundierter Musikunterricht wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.

Doch wieder kam alles anders. Amanda und Ilian versöhnten sich in einer grossen Pause und die ganze Gruppe kam angerannt, um mir mitzuteilen, dass wieder alles beim Alten sei. Wir nähten aus einem Leintuch einen weissen Rock und die Klasse sollte bunten Krimskrams von zu Hause bringen, der sich als Verzierungen eignet. Ein Kind brachte farbige Deckel von PET-Flaschen. Das zweite, das sich an den Auftrag erinnerte, brachte eine Packung Gummibärchen. Wir klebten alles mit Heissleim auf das Brautkleid.

Am Aufführungstag musste Amanda hinter der Bühne dagegen ankämpfen, dass ihr Kleid nicht angeknabbert wurde. Dann tröteten die Kinder mit selbst gebastelten Kazoos den Hochzeitsmarsch und Ilian holte seine Braut ab, um gemeinsam zum Altar zu schreiten. Er trug einen schicken Anzug. In der Tasche hatte er eine Dose Haargel.

*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.