Pubertät: … denn sie wissen nicht, was sie tun

Die Pubertät ist wie ein Sturm, der über Familien hinwegfegt. Eine Tortur für Eltern und Kinder. Im Unterschied zu Mama und Papa können die Jugendlichen jedoch meist nicht anders.
Schlechte Manieren habe die Jugend und verachte Autoritäten. «Sie widersprechen ihren Eltern, verschlingen bei Tisch ihre Süssspeisen und tyrannisieren die Lehrer.» Die Klage stammt nicht etwa von nervenschwachen Eltern im Pubertätsstress, sondern vom Philosophen Sokrates. Und der beklagte immerhin schon vor rund 2400 Jahren das Gebaren der heranwachsenden Söhne und Töchter seines Landes.
Daran geändert hat sich bis heute nicht viel. Die von Sokrates beschriebene Tyrannei sitzt in jeder guten Stube. Bei manchen beginnt das unmögliche Benehmen schon mit zehn Jahren. Sie benehmen sich zum Davonlaufen, boykottieren den Familienausflug oder verweigern grundsätzlich jede Antwort. Eltern, vor allem Mütter, fragen sich: Wo ist es hin, das freundliche Wesen von einst? Das Kind, das Milchzähne sammelte und freigiebig Küsse verteilte?
Anna tastet sich seit nunmehr vier Jahren durch diese Zeit. Die 44-jährige Lehrerin ist Mutter zweier pubertierender Söhne von 14 und 16 Jahren. Der Jüngere gibt seit einem Jahr nur Ein-Wort-Antworten von sich. Was es an Hausaufgaben gibt? «Nichts.» Wie die Party bei David war? «Gut.» Wo er denn um Himmels willen seine nagelneue Jacke liegen gelassen habe? «Ähm.»
Sein älterer Bruder dagegen ist sehr redselig, allerdings nur, wenn er zu Hause ist – was selten der Fall ist. In der Schule ein Ass, gibt er mit seinen Kollegen gern das Enfant terrible. Zu Hause erzählt er Horrorgeschichten über Schlägereien oder Bier- und Kiff-Orgien im Park. Sein Pubertätsdasein gipfelt in regelmässigen Anrufen der Polizei um drei oder fünf Uhr morgens, ob man denn den randalierenden Sohn bitte abholen möchte.
In der Pubertät sind Kinder besonders gestresst: Von der Schule. Von nörgelnden Eltern. Von blöden Mitschülern. Und der ersten Liebe.
Jungs haben den Ruf, besonders häufig über die Stränge zu schlagen. Dabei gelten jene Knaben als besonders gefährdet, die viel Testosteron im Blut haben und früh in die Pubertät kommen. Das Hormon erhöht die Aggressivität. Dennoch: Straffälligkeit im juristischen Sinn ist selten.
«Nur ein kleiner Teil von fünf bis zehn Prozent überschreitet die Grenzen und wird straffällig», erklärt die Entwicklungspsychologin und emeritierte Professorin der Universität Bern, Françoise Alsaker. Sie stützt sich dabei auf das Ergebnis einer Studie an 7500 Jugendlichen aus dem Jahr 2007. Zur Überraschung der Forscher verstanden sich auch 85 Prozent der Befragten sehr gut mit den Eltern. Es gebe natürlich Konflikte, etwa um die Ausgehzeiten, aber nur selten bestünden grundlegende Auseinandersetzungen, welche die Beziehung dauerhaft beschädigten.
Es muss also noch da sein, das freundliche Wesen. Ja, betonen die Pubertätsforscher. Es komme nur gerade nicht mehr heraus. In der Pubertät bilden sich im Gehirn neue Vernetzungen zwischen den Bereichen, die für Gefühle und Kontrolle zuständig sind. In dieser Zeit kann man seine Gefühle nicht so steuern, wie man das als Erwachsener kann. Und ist schon von Kleinigkeiten gestresst.
New Yorker Wissenschaftler haben bei Mäusen das Hormon THP identifiziert, das bei Kindern und Erwachsenen nach Stresssituationen beruhigend wirkt. Bei pubertierenden Jugendlichen löst es jedoch das Gegenteil aus und erschwert so die Bewältigung von Problemen.
In der Pubertät ist die Faulheit biologisch bedingt
Die Unfähigkeit zur adäquaten Reaktion hat also biologische Gründe, das «Ey, du stressisch» ist quasi systembedingt. Zumal die Kids ja wirklich gestresst sind. Von der Schule, von nörgelnden Eltern, von blöden Mitschülern und der ersten Liebe. Dagegen helfe nur «pflanzenartige Lethargie», wie Autor Jan Weiler («Das Pubertier») schreibt: «Das pubertierende Kind kann nicht aufräumen, weil es keinen Bock auf Stress hat. Es kann nicht ans Telefon gehen, weil es das Klingeln unter Leistungsdruck setzt. Es hätte gern Salz in der Sauce, isst diese aber auch ungesalzen, wenn es das Salz selber holen muss.» Die Faulheit, erzieherischer Pubertätskonfliktherd Nummer eins, ist nicht per se gewollte Rebellion.
Stimmungsschwankungen sind Konflikt Nummer zwei. Die 13-jährige Livia zum Beispiel, das älteste Kind von Sarah, einer Bankkauffrau. Gut in der Schule und im Sport nörgelt sie zu Hause permanent herum. Die Stimmungsschwankungen seien eine grosse Herausforderung, sagt Sarah.
Tabula rasa im Kopf
Einmal wurde sie «als langweilige, frustrierte Ökotante» beschimpft, weil sie ihrer Tochter verbot, bei frischen 7 Grad Celsius Shorts, String und Tanktop zu tragen. Nie wolle sie so enden wie sie, nie!, protestierte das Kind. Als Sarah nachfragte, schaute die Tochter sie mitleidig an: «Weil du immer geblümte langärmelige Blusen trägst.» Sie forderte sie auf, ihre Kleider zu sortieren, ansonsten rede sie nie wieder ein Wort mit ihr. Beim Frühstück war alles wieder vergessen, der Coolheitskredit der Mutter wieder aufgefüllt.
Ein Paradebeispiel für nicht miteinander verknüpfte Synapsen, sagen Entwicklungspsychologen. Denn tatsächlich verschwinden in der Pubertät jede Sekunde 30’000 Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen, die sogenannten Synapsen. Klingt dramatisch, ist aber normal. Die Tabula rasa im Kopf ermöglicht es sogar erst, dass die Jugendlichen zunehmend komplexe Entscheidungen treffen und Meinungen analysieren können.

Erwachsene bemerken diesen Wandel zunächst im Alltag, etwa was das Aussehen angeht. Die Strings von Livia zum Beispiel. Ihre Weigerung, darauf zu verzichten, bedeutet die Infragestellung der Mutter. Deren Einfluss muss schwinden, damit Livia mehr und mehr geistige Eigenständigkeit erlangen kann. Auch das ist systemimmanent.
Die Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen ist ein wichtiger und normaler Weg. Allerdings sei genau dies heute für die Teenies schwieriger denn je, davon ist Alsaker überzeugt.
Pubertät: Die Suche nach Identität und Identifikation
Die Erwachsenen stehlen den Jugendlichen vieles, was ursprünglich den Teenies vorbehalten war: Piercings, Tattoos und radikale Frisuren. Heute versteckt sich unter dem Karohemd von so manchem Hipster-Papa ein Tattoo, und sogar der Pöstler von Welt trägt heute ein Piercing.
«Ich werde jedes Mal wahnsinnig, wenn ich den Mittvierziger sehe, der Cro hört, dabei Limonade durch den Strohhalm trinkt und dann mit seinem elfjährigen Sohn um die Wette rülpst», so Autor Jan Weiler in einem Meinungsartikel zur Pubertät.
Derselben Meinung ist auch Françoise Alsaker. «Jugendliche brauchen eine eigene Kultur und Dinge, die ihnen niemand wegschnappt, um eine starke, eigene Persönlichkeit zu entwickeln.» Dass die Suche nach solchen Identifikationen keine einfache ist, wissen wir Erwachsenen aus eigener Erfahrung. Dass sie mitunter extrem sein kann, auch.
Manchmal äussert sie sich sogar in Gewalt gegen erzieherische Autoritäten. «Parent Battering» nennt die Fachwelt das Phänomen. Zu Deutsch: Elternmisshandlung. Wie viele Fälle es in der Schweiz gibt, weiss niemand. Auch wenn die Hand gegen die Eltern selten erhoben wird, gehen mehrere US-Studien davon aus, dass 9 bis 14 Prozent aller Eltern irgendwann von ihren jugendlichen Kindern physisch angegriffen werden.
Die Pubertät ist ein Abschied von gestern, ein Abschied vom bekannten Terrain.
Die Kantonspolizei Zürich rückt pro Jahr schätzungsweise 20 Mal wegen Elternmisshandlung aus. Gewalt in der Familie findet hinter zugezogenen Vorhängen statt, erst recht wenn es Eltern sind, die den Schlägen der eigenen Kinder ausgesetzt sind.
Die Unfähigkeit, die eigenen Kinder zu erziehen, erzeugt Scham. Auch bei Esther, 39, Mutter eines 18-jährigen Sohnes. Als sie mit ihm wegen Ausgehzeiten und Alkohol aneinander geriet, sagte er: «Du hast mir gar nichts zu sagen.» Es folgte aber kein Aufschluchzen, das in Türe knallen untergeht. Der Sohn, stattliche 1,87 Meter gross, drückte seine zierliche Mutter an die Wand. Esther sagt tapfer: «Ich will mir später nicht vorwerfen, ich hätte nicht alles versucht.»

Ja, Kinder stritten nicht nach den Regeln, die uns gefielen, sondern setzten auch gern mal ihren Körper ein, sagt Jesper Juul. Kommt es in einer Familie bei einem Streit zu Wutanfällen oder eskaliert die Situation, rät der Familientherapeut, eigene Regeln zu definieren. Was ist in meiner Familie bei Ärger erlaubt? Türen knallen, unflätige Wörter benutzen, laut werden? Gelten gleiche Regeln für Kinder wie für Erwachsene? Und immer gelte es, das Gespräch zu suchen. Nichts straft und verunsichert gemäss Juul mehr, als wenn die Eltern sich abwenden oder den Wütenden ausgrenzen.
Für nervenschwache Eltern im Pubertätsstress ist es allerdings schwierig, herauszufinden, wann das Kind den Rückzug braucht und wann es ihn aus Protest antritt. Der 17-jährige Luca verhängte seiner Mutter vor vier Jahren absolutes Zimmer-, Aufgaben-, Aufräum- und Waschverbot. Das sei ein Schock gewesen, sagt seine Mutter, zumal er lange Zeit als entwicklungsverzögert gegolten und entsprechend viel Unterstützung benötigt habe. Auch die Mutter von Lara, 16 Jahre, klagt, dass das Kind sich im Zimmer vergräbt.
Chaos innen und aussen
Überhaupt, das eigene Zimmer. Vor über 200 Jahren nannte der Pädagoge Pestalozzi das Pubertätszeitalter «Zerstreuung», das Chaos im Kinderzimmer mit stinkenden Socken und vertrockneten Zwischenmahlzeiten titulierte er als «Streuordnung». Der Begriff umschreibt sehr anschaulich eines: die Höhle, in die sich Heranwachsende zurückziehen, in der sie vor sich hindämmern und abdünsten.
Zerstreuung sei ein Begriff, der die emotionale und psychische Situation treffend wiedergebe, sagt Jan-Uwe Rogge, Psychologe und Autor zahlreicher Erziehungsratgeber, in seinem Blog: «Nicht bei der Sache sein, sich Stimmungen hingeben. Alles fliesst, alles schwimmt, kein Halt, nirgendwo.» Und so spiegle die Streuordnung, die sich im Kinderzimmer breit macht, die Gefühlslage der Heranwachsenden wider.
Das pubertierende Kind kann nicht aufräumen, weil es keinen Bock auf Stress hat.
Die Pubertät ist ein Abschied von gestern, ein Abschied vom bekannten Terrain. Das neue Land ist noch nicht in Sicht, seine Regeln und Rituale noch unbekannt. Was hilft in der Zeit dieser Orientierungslosigkeit? Laut Jan Weiler nur bedingungsloses Verständnis: «Damit ist keine Haltungslosigkeit gemeint, aber die unbedingte Bereitschaft, die Sorgen der Kinder ernst zu nehmen.
«Wie lange muss man das aushalten?», ist die meistgehörte Frage verzweifelter Eltern. Die gute Nachricht: Es wird besser. Die schlechte: Es dauert. Zwei, vier Jahre oder länger. Manche, so schreibt Jan Weiler ironisch, «verbleiben für immer im Schattenreich der Adoleszenz, machen aber dennoch manchmal Karriere». Da hilft nur viel Verständnis und die Einsicht: Doch, wir waren auch so schlimm.