Wenn das Kind klaut

Aus Ausgabe
10 / Oktober 2025
Lesedauer: 10 min
Dass Jugendliche stehlen, ist gar nicht so selten. Dahinter kann der Wunsch nach Zugehörigkeit oder Nervenkitzel wie auch ein schwerwiegenderes Problem oder eine psychische Erkrankung stehen. Wie können Eltern gut mit der Situation umgehen? Und wo finden sie Unterstützung?
Text: Christine Amrhein

Bilder: Getty Images

Marcel* und seinen Kollegen ist langweilig. Die Teenager kommen auf die Idee, in einem Geschäft zu klauen. Anfangs sind es nur Kleinigkeiten wie Süssigkeiten, die sie mitgehen lassen. Mit der Zeit werden sie immer mutiger und entwenden elektronische Geräte. Doch dann wird einer erwischt: Die Polizei kommt, es gibt eine Strafanzeige und grossen Ärger mit den Eltern. Marcel und seinen Freunden reicht es: Sie beschliessen, in Zukunft nichts mehr zu stehlen.

Diebstahl ist laut Bundesamt für Statistik das häufigste Delikt bei Jugendlichen. Laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) von 2022 haben 15 Prozent der befragten Jugendlichen innerhalb eines Jahres etwas gestohlen. Diebstahl ist also bei vielen Jugendlichen ein Thema.

Neugier, Wunsch nach Anerkennung oder Gruppendruck

«Manche stehlen nur ein oder wenige Male und wenig wertvolle Dinge. Viele haben einen moralischen Kompass und finden auf einen gesellschaftlich akzeptierten Weg zurück», sagt Anja Meinetsberger, Sozialarbeiterin und Leiterin der Jugend- und Familienberatung Contact in Luzern. «Es kann aber auch vorkommen, dass Jugendliche Wertvolleres klauen oder immer wieder Diebstähle begehen.»

Die Gründe dafür sind vielfältig. Oft stecken Neugier, eine Mutprobe oder der Wunsch, Spass zu haben, dahinter. «Zudem ist bei Jugendlichen das Bedürfnis, dazuzugehören, stark ausgeprägt. Häufig geht es darum, durch den Diebstahl oder die gestohlenen Dinge Anerkennung zu bekommen», erläutert Ina Blanc. Sie ist Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in eigener Praxis und Leiterin der Weiterbildungen in Kinder- und Jugendpsychologie der Universität Basel.

Jugendlichen ist eine kurzfristige Belohnung oft wichtiger als die langfristigen Folgen.

Ina Blanc, Psychologin

«Oft geben Jugendliche auch dem Gruppendruck nach. Denn vielen fällt es nicht leicht, Nein zu sagen.» Oder der Wunsch, etwas haben zu wollen, ist zu gross und die Impulskontrolle noch zu schwach. «Das hat auch mit der Entwicklung des Gehirns zu tun», sagt die Psychologin. «Jugendliche leben stark im Moment, da ist eine kurzfristige Belohnung oft wichtiger als die langfristigen Folgen.»

Manchmal verbirgt sich hinter dem Stehlen ein geringes Selbstwertgefühl oder Probleme in der Familie. Etwa bei Laura*, 14 Jahre, die beim Klauen eines Marken-T-Shirts erwischt wurde. In der Beratung werden die Gründe für ihr Handeln deutlich: Sie fühlt sich oft unsicher und hat in der Schule keine gute Freundin. Mit der Kleidung hofft sie auf mehr Anerkennung und Zugehörigkeit.

Provokation, Rache oder Rebellion

Andere Jugendliche haben das Gefühl, von ihren Eltern zu wenig Aufmerksamkeit oder Zuneigung zu bekommen. «Das Stehlen zeigt dann: Etwas fehlt mir, ich brauche Hilfe», so Ina Blanc.

Und dann gibt es Jugendliche, die tatsächlich wenig Geld zur Verfügung haben. Oder solche, deren Eltern ihnen immer wieder Wünsche abschlagen. «Selten dient Stehlen dazu, eine Sucht oder ein teures Hobby zu finanzieren», berichtet Anja Meinetsberger aus ihrer Beratungspraxis. Weitere Gründe für Diebstähle können sein, dass ein Jugendlicher andere provozieren, sich rächen möchte oder gegen gesellschaftliche Regeln rebelliert.

Wenn Eltern von einem Diebstahl ihres Kindes erfahren, sind sie oft erschrocken oder wütend. Das Verhalten des Kindes zu verurteilen und den Nachwuchs zu bestrafen, findet Anja Meinetsberger als erste Reaktion verständlich, aber wenig hilfreich. «Allerdings sollten sie den Diebstahl auch nicht bagatellisieren oder vertuschen», so die Sozialarbeiterin.

Doch wie können Mütter und Väter gut auf die Situation reagieren – so dass ihr Kind in Zukunft möglichst nicht mehr klaut? «Zunächst sollte man sich beruhigen und sich klarmachen, dass die meisten Diebstähle eher harmlos sind und dieses Verhalten nicht von langer Dauer ist. Jugendliche sind noch in der Entwicklung: Sie probieren Neues aus, machen Fehler und tun auch mal etwas Verbotenes», sagt Meinetsberger.

Fehltritt als Möglichkeit sehen, etwas daraus zu lernen

Zudem sei ein Diebstahl auch eine Chance, ins Gespräch zu kommen und sein Kind zu motivieren, es in Zukunft anders zu machen, findet Ina Blanc. «Wichtig ist also, dass Eltern mit dem Kind reden und sich dafür Zeit nehmen. Dabei sollten sie zuhören und versuchen, sein Verhalten zu verstehen. Sie können fragen: «Was war der Grund, dass du das gestohlen hast?» Sie sollten gleichzeitig auch deutlich sagen, dass es nicht okay ist, anderen Menschen etwas wegzunehmen.»

Gemeinsam können Eltern und Kinder nach Lösungen suchen, die für alle stimmen. «Hilfreich kann es auch sein, Fragen zu stellen, um die Empathie und Weitsicht des Sohnes oder der Tochter zu fördern, etwa: «Welche Werte sind dir wichtig?»», sagt Blanc. Weiterhin sollten Eltern wertschätzen, wenn ihr Kind ehrlich ist und Fehler oder Bedürfnisse hinter der Tat auch eingesteht. Ergänzend können sie die rechtlichen Konsequenzen eines Diebstahls deutlich machen.

«Ist ein geringes Selbstwertgefühl der Grund für den Diebstahl, sollten Eltern ihrem Kind vermitteln, dass es liebenswert ist, wie es ist, und versuchen, ihm aufzuzeigen, wo seine Stärken sind», betont Anja Meinetsberger. «Insgesamt ist es wichtig, dass sie im Blick haben, was der oder die Jugendliche für eine gute Entwicklung braucht. Das kann zum Teil natürlich anspruchsvoll sein.»

Wichtig ist, dass Jugendliche Verantwortung für einen Diebstahl übernehmen und den Schaden wiedergutmachen. «Sie sollten die gestohlenen Dinge zurückgeben und keinen Nutzen davon haben», so Ina Blanc. «Eine Wiedergutmachung kann etwa darin bestehen, den Schaden mit selbst verdientem Geld zurückzuerstatten und sich persönlich oder schriftlich zu entschuldigen.»

Teilweise sehr positive Entwicklungen

Oft tragen die Gespräche dazu bei, dass Jugendliche über ihren Fehltritt nachdenken, ihre Einstellungen überdenken und ihr Verhalten ändern. Laura etwa hat sich einen Schülerjob gesucht, um selbst Geld zu verdienen. Nun kann sie sich die Kleidung selbst kaufen. «Teilweise können sich auch sehr positive Entwicklungen ergeben», so Blanc. «Etwa, dass die Jugendlichen sich jetzt besonders hilfsbereit verhalten, soziale Aufgaben übernehmen oder sich um Ehrlichkeit bemühen.»

Doch oft wissen Mütter und Väter nach einem Diebstahl nicht weiter oder brauchen zumindest einen Rat. «Eltern können sich jederzeit an eine Jugend- und Familienberatungsstelle, eine Erziehungsberatungsstelle oder eine kinder- und jugendpsychologische Beratung wenden», sagt Meinetsberger. Dort wird zunächst in einem Gespräch die individuelle Situation angeschaut, je nach Bedarf kann sich eine umfassendere Beratung oder eine Psychotherapie anschliessen.

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Blanc und ihre Kollegen arbeiten in der Therapie systemisch, also mit dem Jugendlichen und seinen Eltern, und schauen sich die Familienbeziehungen genauer an. «Wichtig ist auch, dass die Jugendlichen lernen, Impulse aufzuschieben und Nein zu sagen», sagt die Psychologin.

So hat Matteo*, der mit seiner Clique häufig in Läden geklaut hat, geschafft, zu sagen: «Ich mach nicht mehr mit.» Und er konnte das gut begründen: «Ich will keinen Ärger mehr mit der Polizei und meinen Eltern. Und ich möchte meine Lehrstelle nicht verlieren.»

Wenn ein tiefgreifenderes Problem vorliegt

Aber auch die Eltern sollten bereit sein, ihr Verhalten zu hinterfragen. «Manchmal ist es nötig, dass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder besser wahrnehmen und mehr darauf eingehen», sagt Blanc. «Wünscht sich ein Jugendlicher mehr Wertschätzung und Anerkennung oder mehr qualitativ gute Zeit mit seinen Eltern? Oder wünscht er oder sie sich etwas, was die Eltern als unsinnig ablehnen, im Freundeskreis aber angesagt ist? Dann kann es sinnvoll sein, seinem Kind auch mal einen solchen Wunsch zu erfüllen.»

Manche Jugendliche klauen immer wieder oder begehen schwerwiegendere Diebstähle. «Wenn Gespräche, Strafen und andere Massnahmen nichts bringen, liegt manchmal ein tiefgreifenderes Problem oder eine psychische Störung zugrunde», sagt Blanc. Dann sollten Eltern sich nach weitergehender Unterstützung für ihr Kind, etwa einer psychologischen Beratung oder Psychotherapie, umschauen.

Bei schweren Fällen raten wir Eltern manchmal, Anzeige zu erstatten. So kann dem Kind am besten geholfen werden.

Anja Meinetsberger, Sozialarbeiterin

Jugendliche mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung etwa neigen dazu, sich nicht an Regeln zu halten, und zeigen nach ihren Taten wenig Reue. Oft begehen sie neben Diebstählen weitere Straftaten, etwa Körperverletzungen. «In solchen Fällen raten wir den Eltern manchmal, selbst Anzeige zu erstatten», sagt Meinetsberger. «Auf diese Weise erhalten die Jugendlichen von der Jugendanwaltschaft Massnahmen, die sie bestmöglich in ihrer Entwicklung unterstützen sollen und ihnen vermitteln, was Recht und Unrecht ist.»

Dann gibt es Fälle, in denen Jugendliche stehlen, weil sie nicht anders können: wenn sie an einer Kleptomanie leiden. Etwa der 16-jährige Reto*: «Er hat immer wieder Büroartikel am Arbeitsplatz gestohlen, obwohl er deshalb mehrmals verwarnt wurde», berichtet Leonardo Vertone, Chefpsychologe und Co-Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforensik an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Oder Anna*, 15 Jahre: Sie klaute notorisch Kosmetikartikel aus Läden, obwohl sie sich fest vornahm, es nicht zu tun.

Kleptomanie ist eine seltene psychische Erkrankung, bei der Betroffene den unwiderstehlichen Drang verspüren, zu stehlen. Oft setzen sie dies trotz negativer Konsequenzen fort. Die Gegenstände sind für sie nicht wichtig – häufig werfen sie sie weg oder horten sie. Nur etwa 0,3 bis 0,6 Prozent der Menschen leiden an einer Kleptomanie. Die Symptome beginnen meist in der Jugend, Frauen sind dreimal so häufig betroffen wie Männer.

«Eltern bekommen das wiederholte Stehlen oft früher oder später mit», sagt Psychologe Vertone. «Viele sind dann ratlos und verzweifelt. Und weil die Störung so selten ist, wissen sie meist nicht, was ihr Kind hat.» Im Prinzip gilt bei einer Kleptomanie das Gleiche wie bei anderen Diebstählen: «Eltern sollten klare Regeln aufstellen, das Gespräch suchen und es auch mal aushalten, wenn ihr Kind abweisend oder trotzig reagiert», sagt der Psychologe. «Sinnvoll ist es in jedem Fall, sich weitere Unterstützung zu suchen, etwa bei einer Beratungsstelle.»

Strategien lernen, um Impulse zu kontrollieren

In die Kinder- und Jugendforensik kommen Jugendliche mit Kleptomanie, weil sie durch wiederholte, nicht erklärbare Diebstähle auffallen. «Wir führen mit ihnen Gespräche, schauen die Aktenlage an und erstellen ein psychiatrisch-psychologisches Gutachten», so Vertone. Wird die Diagnose Kleptomanie gestellt, ordnen die Behörden eine Behandlung an, die – je nach Rückfallrisiko – ambulant oder stationär sein kann. «Meist bevorzugen wir eine ambulante Behandlung, weil sie die Jugendlichen weniger in ihrem Alltag beeinträchtigt», so der Psychologe.

Oft leiden Jugendliche mit Kleptomanie unter psychischen Belastungen, etwa in der Schule oder der Familie. Oder sie haben weitere psychische Erkrankungen wie eine Depression oder Borderline-Persönlichkeitsstörung. «Am hilfreichsten ist dann eine Psychotherapie, bei der die Symptome und Belastungsfaktoren bearbeitet werden. Dadurch lässt häufig auch der Drang zu stehlen nach», erläutert Vertone. «Gleichzeitig lernen die Jugendlichen Strategien, um ihre Impulse besser zu kontrollieren.»

Bisher gibt es keine kontrollierten Studien zur Wirksamkeit von Therapien. «Aber unsere Erfahrungen zeigen, dass Psychotherapie und konsequentes Dranbleiben zu guten Resultaten führen», so der Psychologe. Oft kommen die Jugendlichen wieder ohne Therapie im Alltag zurecht. So auch Reto und Anna: Beide konnten den Drang zu stehlen überwinden. Reto fand eine neue Lehrstelle und Anna konnte wieder regelmässig zur Schule gehen.

* Alle Fälle wurden von den für diesen Text interviewten Experten und Expertinnen geschildert. Die Namen der Jugendlichen wurden von der Redaktion geändert.

Worauf sollten Eltern achten, damit Kinder nicht stehlen?

  • Geben Sie Ihrem Kind schon früh zu verstehen, dass Dinge anderen Leuten gehören und es nicht in Ordnung ist, sie einfach zu nehmen. Den Unterschied zwischen «mein» und «dein» verstehen Kinder ab etwa 4 bis 5 Jahren.
  • Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass es wichtig ist, vor anderen Menschen Respekt zu haben, ehrlich zu sein und niemandem zu schaden.
  • Seien Sie selbst ein gutes Vorbild. Das bedeutet, selbst nicht zu stehlen, Besitz zu respektieren und ehrlich zu sein.
  • Vermitteln Sie Ihrem Kind die Bedeutung von Geld: dass alles etwas kostet und Eltern dafür arbeiten.
  • Fördern Sie die Fähigkeit Ihres Kindes, sich in andere hineinzuversetzen. Etwa, indem Sie fragen, welche Gefühle es bei jemandem auslöst, wenn ihm etwas gestohlen wird.
  • Studien haben gezeigt, dass ein autoritativer Erziehungsstil am hilfreichsten ist, damit Kinder und Jugendliche nicht straffällig werden. Dabei erziehen Eltern ihre Kinder mit viel Liebe und Wärme, setzen aber auch klare Regeln, erklären diese und achten darauf, dass sie eingehalten werden. Und: Zeigen Eltern Interesse an ihren Kindern und wissen sie gut Bescheid, was diese in der Freizeit machen, sinkt das Risiko, dass ihre Kinder kriminell werden.