«Moderne Nomaden»: Freundschaften unterwegs
Autorin Debora Silfverberg reist mit ihrem Mann und den zwei Teenagertöchtern seit vier Jahren durch Europa. Auch wenn sie ihre Freunde oft monatelang nicht sehen, sind ihre Töchter selten einsam.
Pflegen unsere 14- und 16-jährigen Töchter genügend soziale Kontakte, wenn sie ständig an einem anderen Ort leben? Diese Frage beschäftigt meinen Mann und mich regelmässig. Manchmal fühlt es sich an wie ein kleiner Stachel, der sich in unser Selbstverständnis bohrt, dass unser Nomadenleben grundsätzlich in Ordnung ist. Beziehungen ausserhalb der Kernfamilie sind wichtig, daran gibt es keine Zweifel. Deshalb reden wir regelmässig mit unseren Kindern darüber, wie es um ihre Beziehungswelt steht.
Soziale Batterien aufladen
«Meine sozialen Batterien sind etwas leer», sagte die jüngere Tochter kürzlich. Wir hatten die ersten paar Monate dieses Jahres damit verbracht, ältere Familienmitglieder – darunter die 98-jährige Ur-Omi – und Bekannte in Nordfriesland und Berlin zu besuchen. Direkter Kontakt mit Gleichaltrigen blieb für unsere Töchter während dieser Zeit rar. Der Sommer verlief zwar sozialer als der Frühling, doch fehlte den Mädchen eine ganz besondere Gruppe von Freunden.
Es verstreichen oft Monate, in denen das Nomadenleben ausreicht. Doch dann müssen die Freundschaftsbatterien auch analog wieder aufgeladen werden.
Im Herbst fahren wir deshalb auf direktem Weg nach Portugal und lassen die ursprünglich geplante, langsame Route über Nordspanien aus. Noch länger zu warten, halten die Mädchen nicht aus. In unserem Alltag verstreichen zwar oft mehrere Monate, in denen das Familienleben, die Erlebnisse unterwegs und der digitale Kontakt mit Freunden ausreichen. Doch nach dieser langen Durststrecke müssen die Freundschaftsbatterien dringend wieder aufgeladen werden.
Sind unsere Töchter einsam?
Das soziale Leben unserer Kinder entspricht nicht der Norm. Die meisten anderen Jugendlichen im Alter unserer Töchter teilen sich täglich ein Klassenzimmer mit zwanzig bis dreissig Gleichaltrigen. Sich in der Freizeit mit Freunden zu treffen und Gemeinsames zu unternehmen, gehört zu ihrem Alltag. Fühlen sich diese Jugendlichen deshalb nie einsam?
Gemäss einer deutschen Studie mit 11- bis 15-Jährigen ist Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen ein verbreitetes Phänomen. Das Gefühl hat wenig mit der Anzahl Menschen zu tun, die uns umgeben. Man muss nicht unbedingt allein sein, um sich einsam zu fühlen – und umgekehrt kann man auch allein sein ohne ein Gefühl von Einsamkeit.
Unsere Töchter fühlen sich unterwegs selten einsam. Sie haben sich gegenseitig als Geschwister, wir pflegen einen engen Familienkontakt und sie tauschen sich regelmässig über digitale Medien mit ihren Freunden aus.
Zwischendurch sehnen sie sich jedoch nach echten, analogen Freundschaftserfahrungen. Das heisst, gemeinsam verbrachter und erlebter Zeit. Dabei geht es vor allem um physische Nähe, um gemeinsames Übernachten und bis spät in die Nacht schwatzen und lachen. Darum, zusammen Glacé zu essen, Musik zu hören und lustige Selfies zu machen.
Lebenslange Freundschaften trotz Distanz
Ich denke oft über meine eigenen Freundschaften nach. Dabei spielen zwei Menschen eine besondere Rolle. Meine älteste Freundin kenne ich seit dem Kindergarten. Uns vereinte, dass wir in einem Baselbieter Dörfchen beide Berndeutsch sprachen, worüber unsere Kindergärtnerin sich lustig machte. Dies wirkte wie Sekundenkleber auf unsere Beziehung. Wir waren ein starkes Team: Auf dem Kindergartenweg behaupteten wir uns gegen die Lausbuben. Zuhause verarzteten wir gemeinsam unsere Stofftiere mit meinem Arztköfferchen.
In beiden Freundschaften waren wir in den hellsten wie auch den finstersten Stunden füreinander da – und das über Jahrzehnte.
Als sich die Eltern meiner Freundin trennten, zog sie weg. Wir blieben trotzdem in Kontakt. Und obwohl wir danach nie wieder eine Klasse teilten und später über Jahrzehnte in verschiedenen Ländern wohnten, zieht sich unsere Freundschaft wie ein roter Faden durch mein Leben. Sie war unsere Trauzeugin, und ich bin Gotte ihres ersten Kindes. Wir benötigen keinen regelmässigen Kontakt, um sofort wieder ganz vertraut zu sein, sobald wir uns hören oder sehen.
Meine andere Freundin kenne ich aus dem Studium. Nach dem Abschluss pendelte es sich ein, dass wir wöchentlich telefonierten. Heute sind es regelmässige kleine Nachrichten und zwischendurch ein längerer Austausch. Auch mit ihr teile ich seit über 20 Jahren keine räumliche Nähe, trotzdem steht sie mir immer nah. Sie ist eine zentrale Person für mich, weil wir uns während einer sehr prägenden Lebensphase kennenlernten.
Auch wenn ich beide Freundinnen gerne öfter sehen würde, hängt unsere Beziehung nicht davon ab. In beiden Freundschaften waren wir in den hellsten wie auch den finstersten Stunden füreinander da – und das über Jahrzehnte. Meine Welt wäre um einiges einsamer ohne sie.
Was Freundschaften stark macht
Die Freundinnen und Freunde unserer Mädchen leben an verschiedensten Orten in Europa: Deutschland, Frankreich, Portugal und einige sind auch reisend. Auch wenn sie sich nicht regelmässig treffen, werden einige dieser Verbindungen womöglich ein Leben lang halten. Gemeinsam gesammelte Erlebnisse bilden eine starke Freundschaftsbasis. Dazu gehören auch herausfordernde Momente wie Spannungen, Uneinigkeiten oder Enttäuschungen.
Sich zu streiten und dann wieder zu versöhnen, schafft Vertrauen. Natürlich stellt auch örtliche Distanz Beziehungen auf die Probe und nicht alle Freundschaften bestehen diesen Test. Wenn meine Töchter jedoch gute Freunde nach vielen Monaten wiedersehen, fühlt es sich so an, als seien sie nie getrennt gewesen.
Beide Mädchen haben alte Schulfreundinnen in der Schweiz, mit denen sie sich per Post austauschen. Es gibt nichts Schöneres, als nach einer Reise in unsere Basis in Südfrankreich zurückzukehren und einen echten Brief im Briefkasten zu finden.
Freunde müssen nicht gleich alt sein
Nicht alle sozialen Kontakte und Freunde müssen in derselben Lebensphase stecken, um wertvoll zu sein. Durch unser Nomadenleben lernen wir viele Menschen in den verschiedensten Altersgruppen kennen. Mit einem Pärchen verbindet uns – und zwar die ganze Familie – eine besonders innige Freundschaft.
Vom Alter her stehen die zwei unseren Töchtern näher als uns. Letztes Jahr reisten wir eine Weile gemeinsam. Sie erwarteten ein Baby. Wir sahen dem wachsenden Bauch zu und konnten an ihrem kleinen Wunder teilhaben. Während dieser Zeit fehlten weder den Kindern noch uns «Freunde in unserem Alter». Bald sehen wir sie wieder, denn sie reisen immer noch – inzwischen zu dritt.
Sobald wir selber fahren können, bauen wir unseren eigenen Bus aus und besuchen unsere Freunde, wann immer wir wollen.
Die jüngere Tochter
Auch kurze, einmalige Begegnungen unterwegs bereichern übrigens den Alltag und füllen die sozialen Batterien auf. Sei es ein nettes Gespräch beim Abwasch oder eine kurze, freundliche Nachbarschaft auf einem Stellplatz.
Eine bewusste Entscheidung
Nicht immer am selben Ort zu leben, ist eine Entscheidung, die wir als Familie getroffen haben. Jede Entscheidung für etwas ist stets eine Entscheidung gegen etwas anderes. Frei zu sein und reisen zu können heisst, seine Freunde nicht täglich zu sehen. Es bedeutet auch, dass sich die eine oder andere Freundschaft mit der Zeit entfremdet.
Wäre es von daher nicht doch schön, an einem Ort zu wohnen, wo Freunde jederzeit vorbeikommen und man sich jedes Wochenende treffen könnte? Gemeinsam überlegen wir, was wir dafür alles aufgeben müssten. Der Realitätscheck rückt die Prioritäten wieder in ein anderes Licht. Und die jüngere Tochter hat bereits eine Lösung parat: «Sobald wir selber fahren können, bauen wir unseren eigenen Bus aus und besuchen unsere Freunde, wann immer wir wollen.»