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«Wir behandeln Kinder wie Objekte»

Aus Ausgabe
07+08 / Juli + August 2025
Lesedauer: 13 min

«Wir behandeln Kinder wie Objekte»

Als Supervisorin und Expertin für Gewaltfragen begleitet Simone Hunziker Familien und Schulen in Krisen. Die ehemalige Primar- und Sonderschullehrerin weiss, was beide Systeme ans Limit bringt und Kinder aus dem Ruder laufen lässt.
Interview: Virginia Nolan

Bilder: Sophie Stieger

Frau Hunziker, fangen wir bei den Schulen an: Wo drückt da der Schuh?

Die Volksschule ist überlastet. Lehrpersonen haben zu wenig Zeit für die pädagogische Arbeit, müssen immer mehr Zusatzfunktionen übernehmen. Die Liste administrativer Aufgaben wird länger, dazu kommt die Koordination von Heilpädagoginnen, Logopäden, Klassenassistenzen oder Zivildienstleistenden, mit denen sich Lehrpersonen absprechen oder die sie anleiten müssen. Da waren nie so viele Leute im Klassenzimmer. Und stets kommen neue Projekte, pädagogische Konzepte oder Fächer hinzu. Das Karussell Schule dreht sich immer schneller.

Wir wollen, dass alles perfekt läuft. Das führt zu hohen, teilweise unrealistischen Erwartungen.

Wie kommt das?

Schulleitung, Lehrpersonen, Eltern: Alle stehen unter Druck, weil sie den Anspruch haben, dass die Dinge optimal laufen müssen. Gefragt sind perfekte, nicht bestmögliche Lösungen. Wir haben es hier also nicht mit einem Schul- oder Elternproblem zu tun, sondern mit einem gesellschaftlichen.

Was meinen Sie damit?

Wir sind auf Erfolg aus, müssen maximal performen, weil immer mehr Blicke auf uns gerichtet sind. Selbst Entspannung ist zum Leistungssport geworden. Man geht in den Atmungskurs oder zum Waldbaden, ruft nach Spezialisten, wenn es nur darum geht, den Kopf zu lüften. Dieser Optimierungsdruck führt zu hohen, mitunter unrealistischen Erwartungen, die Menschen an sich selbst und andere haben. Man verliert den Blick für Dinge, die gut laufen. Und an unseren Schulen läuft vieles gut.

Simone Hunziker begleitet seit über zehn Jahren als systemische Supervisorin und Coach Familien, Lehrpersonen und Schulleitungen in akuten Krisen. Sie ist Mitbegründerin der ehemaligen Kriseninterventionsstelle Spur+ in Uster ZH und Co-Geschäftsführerin der neu gegründeten Anlaufstelle Ensira. Hunziker ist Mutter von zwei Teenagern.

Zum Beispiel?

Man redet die Volksschule schlecht, wenn es um Ressourcen geht – dabei hatte sie noch nie so viele. Auch beobachte ich, dass sich Schulen immer öfter mit Haltungsfragen auseinandersetzen, mit Werten, für die sie einstehen wollen. Und dass vor allem junge Lehrpersonen sich lösen vom Anspruch, mit allem allein klarkommen zu müssen; dass man gemeinsam nach Lösungen sucht. Eine weitere positive Entwicklung, die aktuell in Gefahr ist, betrifft die schulische Integration: Kinder nicht gleich auszusortieren, wenn es schwierig wird, ist im Hinblick auf Gewaltprävention entscheidend.

Warum?

Die Gewaltforschung zeigt, dass es keine gute Idee ist, Kinder mit Verhaltensproblemen zu separieren. Erstens fehlen ihnen dann positive Vorbilder, von denen sie lernen können. Zweitens reagieren Menschen aus evolutionären Gründen extrem, wenn soziale Ausgrenzung droht. Anschluss an eine bestehende Gruppe ist für uns existenziell.

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Die Angst, ins Abseits zu geraten, führt zu heftigen Reaktionen, weil wir uns in Gefahr sehen – Verhaltensprobleme verschlimmern sich. Zudem verschwinden solche Kinder nicht aus der Gesellschaft, wenn wir sie aus der Schule aussondern. Wir zahlen einfach später den Preis, wenn es nicht gelingt, sichere Schulen zu schaffen, in denen man Probleme so gut wie möglich gemeinsam angeht.

Mit welchen Gewaltproblemen sind Schulen konfrontiert?

Einerseits beobachten wir zunehmende verbale Gewalt, Beleidigungen und Drohungen gegenüber Lehrpersonen und Schulpersonal, die nicht nur von Kindern und Jugendlichen, sondern auch von deren Eltern ausgehen. Wir haben es hier wiederum mit einem gesellschaftlichen Trend zu tun.

Inwiefern?

Während häusliche oder körperliche Gewalt in der Erziehung sehr wohl existieren, dank intensiver Prävention aber zurückgehen, nimmt verbale Gewalt zu. Sei es in politischen Diskussionen oder im täglichen Miteinander, es ist beinahe üblich, dass Menschen ihren Frust ungefiltert von sich schleudern. Staatliche Institutionen wie die Schule sind dabei ein beliebtes Ziel.

Kinder brauchen heute mehr Anleitung und Betreuung. Es gibt Teenager, die weder Schuhebinden noch richtig Zähneputzen gelernt haben.

Da wirkte die Covid-Pandemie als Brandbeschleuniger, ebenso die sozialen Medien – da muss man die Reaktion des Gegenübers nicht aushalten. Andererseits machen wir in der schulischen Krisenintervention die Beobachtung, dass Gewalt auch immer jüngere Stufen betrifft.

Worum geht es da konkret?

Lehrpersonen berichten bereits auf Kindergartenstufe von Mädchen und Buben, die sich wie Pubertierende verweigern, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, oder wenn etwas von ihnen verlangt wird. Dann wenden sie Gewalt an. Schlagen also Gleichaltrige, beissen oder werfen Steine nach ihnen, spucken Lehr- und Betreuungspersonen an, treten oder drohen bei Unpässlichkeiten damit, die Eltern zu holen.

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Wer sind diese Kinder?

Eine Kindergartenlehrperson sprach in dem Zusammenhang einmal von «emotional unterernährten Kindern», das trifft es aus meiner Sicht gut. Die Kinder können alltägliche Abläufe wie aufs WC gehen oder die Jacke anziehen nicht selbständig bewältigen. Auch den Umgang mit Gleichaltrigen sind sich viele nicht gewohnt. Ganz allgemein brauchen Kinder heute mehr Anleitung und Betreuung. Ich habe es manchmal mit Teenagern zu tun, die weder Schuhebinden noch richtig Zähneputzen gelernt haben.

Was läuft da schief?

Die Krisenfaktoren sind vielfältig. Mir fallen zwei Phänomene auf, die nach meiner Erfahrung zunehmen. Erstens sehen wir immer öfter existenziell bedrohte Familien, die ihre Fixkosten kaum stemmen können. Diesen Eltern fehlt es an Ressourcen für Erziehung, oft auch, weil sie sozial isoliert sind. Früher verortete man verhaltensauffällige Kinder primär dort, heute greift diese Annahme zu kurz.

Kinder, Eltern und Schule
«Immer mehr Eltern überlassen ihrem Kind jede Entscheidung und ermöglichen ihm alles», sagt Simone Hunziker.

Warum?

Kinder, die sich selbst überlassen werden, können sich nicht gesund entwickeln – diejenigen, denen alles abgenommen wird, auch nicht. Wir haben es, um die zweite auffällige Entwicklung zu benennen, mit immer mehr Eltern zu tun, die ihrem Kind jede Entscheidung überlassen und ihm gleichzeitig alles ermöglichen wollen. Wie beim Curling wischen sie alle Unebenheiten beiseite, die dem Kind im Weg stehen könnten. Wir behandeln Kinder zunehmend wie Objekte.

Was heisst das?

Kinder wollen etwas schaffen und stolz auf sich sein können. Dafür müssen sie scheitern, Fehler machen und an Widerständen wachsen dürfen. Es ist daher fatal, wenn wir ihnen alle Unannehmlichkeiten ersparen und es ihnen so bequem wie möglich machen, ihr Freizeitprogramm durchtakten und bei allem, was sie betrifft, selbst aktiv werden. So behandeln wir ein Kind nicht wie ein Individuum, das über eine eigene Perspektive verfügt, sondern wie ein Objekt, das es zu managen gilt. Dann liegt es nahe, dass ein Kind auch seine Mitmenschen als Objekte betrachtet und mit ihnen umspringt, wie es ihm beliebt – Objekte kennen ja keinen Schmerz.

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Warum handeln Eltern so?

Sie möchten ihre Aufgabe so gut wie möglich machen. Wenn ich den Kuchen als Mutter selbst backe, wird er präsentabler. Und wenn in der Klasse meines Sohnes «alle» Eltern – wie er zumindest berichtet – ihren Kindern beim Vortrag helfen, dann tue ich das auch, weil ich sonst einen Nachteil für mein Kind befürchte. Hier kommt dieser allgegenwärtige Optimierungsdruck ins Spiel, über den wir gesprochen haben. Was für ihre Entwicklung am wichtigsten ist, lernen Kinder aber nicht in Kursen.

Sondern?

Einen guten Umgang mit schwierigen Gefühlen entwickeln, sich Problemlösefähigkeiten aneignen, mit anderen kooperieren und etwas allein schaffen können – um solche Fähigkeiten festigen zu können, brauchen Kinder Freiräume. Das freie Spiel mit Gleichaltrigen und alltägliche kleine Herausforderungen wie ein selbständig bewältigter Schulweg oder Mithilfe im Haushalt bieten das beste Übungsfeld dafür. Aber die kindliche Freizeit ist heute so durchgetaktet und pädagogisiert, dass solche Lernerfahrungen zu kurz kommen. Als Eltern braucht es Mut, einen anderen Weg zu gehen.

Es braucht viel Mut und Zuversicht, dass das eigene Kind nicht ins Hintertreffen gerät, wenn man einen Gang runterschaltet.

Inwiefern?

Wenn ich beobachte, was andere ihren Kindern an professioneller Förderung und Bespassung bieten, muss ich aushalten können, dass sich mein Kind am Wochenende erst mal langweilt, weil ich es weder zum Tenniskurs noch ins Lernatelier schicke, es auch nicht mit nach draussen zum Spielen begleite, sondern wenn nötig dreimal ermutige, selbst loszuziehen.

Es braucht viel Mut und Zuversicht, nicht dem Zweifel zu verfallen, dass das eigene Kind ins Hintertreffen gerät, wenn man einen Gang runterschaltet. Hinzu kommt die Angst vor Liebesverlust. Wie gesagt stehen Eltern heute in allen Gesellschaftsschichten unter Druck. In dem Kontext werden Kinder öfter zum Projekt, aber auch zum Zufluchtsort – ihrer Zuneigung kommt damit eine neue Bedeutung zu.

Eltern wollen von ihren Kindern geliebt werden.

Darum soll die gemeinsame Zeit frei von Konflikten sein. Wer Mithilfe im Haushalt einfordert, macht sich beim Nachwuchs wenig beliebt – da geht man lieber zusammen snowboarden. Den meisten Eltern ist nicht bewusst, was sie mit ihrer Konfliktvermeidung bewirken. Darum ist Aufklärung zur kindlichen Entwicklung so wichtig. Lehrpersonen sind Expertinnen und Experten dafür – aber sie brauchen Ressourcen für die Elternarbeit, und zwar in unbelasteten Zeiten.

Kinder, Eltern und Schule
«Es braucht nicht für alles Spezialistinnen. Es hält Schulen davon ab, nach eigenen Lösungen zu suchen», sagt Simone Hunziker im Gespräch mit Fritz+Fränzi-Redaktorin Virginia Nolan.

Aber was sollen Schulen tun, wenn Eltern Erziehung dahin auslagern?

Sie sollten ihrerseits am Erziehungsauftrag festhalten. Beim Curlingspiel nicht mitmachen und nicht auch noch versuchen, dem Kind alle Herausforderungen vorwegzunehmen. Ich beobachte oft, dass für sogenannte Problemkinder Massnahmen getroffen werden, die ihnen keine Möglichkeit lassen, sich in Selbstverantwortung zu üben. Man montiert auf allen Seiten Stützräder und vergisst, dass das Kind irgendwann in der Lage sein muss, allein zu fahren.

Können Sie ein Beispiel machen?

Man sollte zwei Dinge im Blick haben: Wo braucht es Unterstützung oder Schutz, damit ein Kind gewisse Fähigkeiten trainieren kann? Aber auch: Wo gibt es Freiräume für eigenes Lernen? Dieser Aspekt kommt nach meiner Erfahrung oft zu kurz. Dann erhält ein Kind beispielsweise über weite Strecken Eins-zu-eins-Betreuung durch die Klassenassistenz und es läuft gut, bis diese Begleitung wegfällt, weil der Übertritt in die Oberstufe ansteht oder Ressourcen neu verteilt werden. Massnahmen sollen keine Rundumabsicherung sein – das Kind muss auch Möglichkeiten haben, etwas selbst zu schaffen.

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Dabei, sagen Sie, sollten Schulen Mut zur Lücke haben.

Unbedingt. Es braucht nicht für alles Spezialistinnen. Manchmal wirkt das Argument, man sei auf dieses oder jenes nicht spezialisiert, lähmend und hält Schulen davon ab, eigene Lösungen zu suchen.

Dabei ginge es zur Not auch ohne Heilpädagogin?

Das würde ich nicht pauschal behaupten – aber es braucht sie nicht immer. Es ist gut, dass wir spezialisierte Leute haben, aber vorher muss man sich fragen: Was wollen wir im konkreten Fall erreichen? Braucht es dafür einen Spezialisten? Was kann er, wozu wir selbst nicht in der Lage sind? Wo können die Eltern unterstützend mitwirken? Entscheidend ist eine systemische Denkweise, die vorhandene Ressourcen sichtbar macht und externe Unterstützung gezielter einsetzt. Zudem müssen sich alle über ihre Rolle im Klaren sein.

Was wollen Sie damit sagen?

Ein Merkmal einer akuten Krise ist, dass die Beteiligten Funktionen übernehmen, die anderen zugedacht wären. Dann hält die Schulleiterin es etwa für nötig, im Klassenzimmer einzugreifen, während der Klassenlehrer sich Belangen annimmt, die Aufgabe der Schulleitung sind. Das passiert nicht, weil die jeweiligen Personen anderen Nachlässigkeit unterstellen – sie wollen ihre Sache in schwierigen Situationen einfach gut machen. So reibt man sich gegenseitig auf.

Wenn Lehrpersonen und Eltern am gleichen Strick ziehen, fühlen Kinder sich sicher und nicht dazu veranlasst, Erwachsene gegeneinander auszuspielen.

Wie geht es besser?

Indem man – nicht erst, wenn es brennt – im Team bespricht: Wer macht was? Diese Auslegeordnung ist keine einmalige Übung. Ein regelmässiger Austausch darüber, wo man als Schule hin will und aktuell steht, ist entscheidend. Solche Reflexionsräume zu pflegen, verhindert, dass es zur kollektiven Überforderung kommt – für die Kinder ein gutes Gespür haben.

Und was passiert dann?

Dann übernehmen sie das Ruder. Wenn die Erwachsenen ihre Verantwortung nicht angemessen wahrnehmen, bestimmen Kinder die Regeln. So etwas passiert nicht von heute auf morgen. Es sind problematische Muster, die sich verselbständigen konnten, weil alle Beteiligten wegschauten, sich dann mit Pflasterlösungen behalfen und die Schuld schliesslich anderswo verorteten. Typischerweise macht die Schule Probleme dann an einzelnen Kindern fest, während Eltern den Fehler bei der Schule suchen.

Wie macht man es besser?

Kinder müssen spüren, dass die beteiligten Erwachsenen am gleichen Strick ziehen und jeder seine Verantwortung wahrnimmt. Dann fühlen sie sich sicher und nicht dazu veranlasst, Erwachsene gegeneinander auszuspielen und Positionen einzunehmen, denen sie nicht gewachsen sind. Ich kann nur betonen: Wir müssen miteinander reden – innerhalb der Schule und ganz besonders mit den Eltern, um mit ihnen eine gemeinsame Haltung zu erarbeiten.

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Aber was, wenn Eltern dazu weder den Willen noch das Interesse haben?

In über zehn Jahren Familienbegleitung habe ich eines gelernt: Es gibt kein Richtig oder Falsch und für Probleme immer einen Grund. Eltern stellen sich nicht einfach so quer. Manche gehen aus Angst, dass ihr Kind ausgegrenzt werden könnte, auf Konfrontation, andere blocken ab, weil sie glauben, versagt zu haben, sich schämen und nicht «auffliegen» wollen. So ist etwa Gewalt von Kindern gegenüber Eltern ein Tabuthema, mit dem wir schon im Kindergarten zunehmend konfrontiert sind. Wenn das Kind dann negativ auffällt und die Lehrperson die Eltern damit konfrontiert, fühlen sich diese in die Enge getrieben.

Was kann dann helfen?

Unvoreingenommen nachfragen, aufmerksam zuhören, ehrliches Interesse zeigen. Dass die Lehrperson versucht zu verstehen: Was passiert in dieser Familie? Eltern fürchten sich vor solchen Gesprächen, auch Lehrpersonen bereiten sie Unbehagen – oft mit der Folge, dass sie hinausgeschoben werden oder die Lehrperson sich hinter einem standardisierten Beurteilungsraster versteckt. Sie stützt ihre kritischen Beobachtungen dann auf Kreuzchen, statt den Dialog zu suchen. Die Eltern haben Angst, verurteilt zu werden, die Lehrperson will sich nicht zu weit auf die Äste hinauslassen, weil sie Gegenwind befürchtet.

Kooperation setzt Vertrauen voraus, und dieses muss erarbeitet werden. Das braucht Zeit.

Die Situation ist verzwickt.

Das Verhalten aller Beteiligten ist nachvollziehbar, aber unproduktiv. Kooperation setzt Vertrauen voraus, und dieses muss erarbeitet werden. Ich erlebe tagtäglich, wie kooperativ, selbstkritisch und offen Eltern sind, wenn sie Vertrauen fassen können, wenn ihre Situation nicht beurteilt, sondern so anerkannt wird, wie sie gerade ist: schwierig. Dann sind sie selbst zu einschneidenden Veränderungen bereit.

Zum Beispiel?

Wer Eltern glaubhaft vermitteln kann, dass die Sorge ums Kind im Zentrum steht, findet einen Weg. Nicht von heute auf morgen, aber Schritt für Schritt. Ich habe noch nie erlebt, dass Eltern, die ihre Not anerkennen – dass sie beispielsweise aus Überforderung gewalttätig werden –, diese Situation aufrechterhalten wollen. So bin es zum Beispiel nicht ich, die Gefährdungsmeldungen an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde macht, ich erarbeite sie gemeinsam mit den Eltern, die ich begleite.

Sie bringen Eltern dazu, eine Gefährdungsmeldung in eigener Sache zu machen?

Ich bringe sie nicht dazu – Eltern erkennen im Lauf des gemeinsamen Prozesses, dass sie Unterstützung holen und etwas verändern können. Dies setzt aber voraus, dass sie sich verstanden und sicher fühlen. Dann sind auch in der Schule fruchtbare Gespräche möglich, selbst wenn die Frage im Raum steht, ob ein Kind in der Regelschule bleiben kann. Manchmal ist das nicht möglich, dann geht es darum, eine alternative Lösung zu erarbeiten – gemeinsam mit den Eltern. Dies setzt, wie gesagt, eine Vertrauensbasis voraus. Lehrpersonen brauchen mehr Zeit für Beziehungspflege.

Wo sollen sie sich diese Zeit herholen?

Schulen können Lehrpersonen entlasten, wenn sie Hilfskräfte wie Klassenassistenten oder Zivildienstleistende gezielter einsetzen. Diese können Lehrpersonen vieles abnehmen: Administration, Korrespondenz, Organisation oder Infrastrukturthemen. Was Schulen grundsätzlich im Blick haben sollten: Wie viel Administration ist wirklich nötig? Und es lohnt sich, als Schule auf etwas Glanz zu verzichten.

Was meinen Sie damit?

Dass man Sonderprojekte und Workshops auch mal sein lassen kann. Die Lehrperson muss im Klassenzimmer präsent sein, Blickkontakt halten, kommentieren können, was sie beobachtet, damit Kinder und Jugendliche merken: Sie werden gesehen und gehört – das ist ihr zentralstes Bedürfnis. Administration lässt sich outsourcen, Beziehungsarbeit nicht.