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Wie Eltern den Mental Load gerechter aufteilen können

Aus Ausgabe
09 / September 2025
Lesedauer: 15 min
Wer übernimmt die Verantwortung, dass der Familienalltag funktioniert? Warum leiden vor allem Frauen unter der Last der Denkarbeit? Sechs Expertinnen und Experten geben Antworten auf die drängendsten Fragen zum Thema Mental Load.
Text: Julia Meyer-Hermann
Bilder: Fabian Hugo / 13 Photo

Wir alle kennen die Situation: Beim Abholen im Kindergarten, am Elternabend oder beim kurzen Gespräch an der Ladenkasse treffen wir eine Freundin, einen Bekannten, eine andere Mutter. Man fragt: «Und, wie gehts dir?» Und die Antwort lautet beängstigend oft: «Müde. Alles ein bisschen viel gerade.» Gemeint ist: Job, Kinder, Termine, vielleicht noch ein kranker Vater, die ständige To-do-Liste im Kopf und das diffuse Gefühl, dass man allem irgendwie hinterherläuft.

Oft genügt dann ein einziger ehrlicher Satz wie «Mir geht es genauso» oder «Ich weiss, was du meinst», um beim Gegenüber ein Gefühl von Erleichterung hervorzurufen. Denn die Wahrheit ist: Diese Daueranspannung, die ständige mentale Präsenz, das Gefühl, nie wirklich abschalten zu können – das kennen viele.

Ständig überlastet

Die Zahlen belegen es: Viele Eltern – vor allem Mütter – fühlen sich ständig überlastet. Laut dem aktuellen Swiss Family Barometer geben rund 32 Prozent aller Eltern an, dass sie sich durch die Anforderungen von Beruf und Familie permanent überfordert fühlen. Bei Eltern mit Vollzeitjob und kleinen Kindern sind es fast 50 Prozent.

Der Begriff dafür: Mental Load. Was wie ein Modewort klingt, beschreibt in Wahrheit ein strukturelles Problem. Eine dauerhafte Überlastung, die Beziehungen unter Druck setzt, die Gesundheit gefährdet und Familien zermürben kann.

Mental Load ist eine Form kognitiver Dauerbeanspruchung.

Filomena Sabatella, Psychologin

Doch was ist es genau, was Eltern so belastet? Wie entsteht Mental Load? Wohin kann diese dauerhafte Überlastung führen und vor allem: Wie kann sie reduziert werden? Zusammen mit sechs Experten und Expertinnen – Psychologen, Therapeutinnen und Beraterinnen aus dem Bereich Familienhilfe – haben wir die wichtigsten Fragen zusammengestellt und beantwortet.

1. Was ist Mental Load überhaupt?

Mental Load – das klingt erst einmal harmlos. Fast so, als ginge es bloss um ein paar Gedanken zu viel. In Wahrheit steckt hinter dem Begriff eine strukturelle Überlastung. Gemeint ist die Verantwortung dafür, dass der Alltag funktioniert. Es geht nicht nur um die praktische Ausführung von Aufgaben, sondern vor allem um die mentale Vorarbeit.

Die Psychotherapeutin Nuša Sager-Sokolić, Leiterin des Klaus-Grawe-Instituts in Zürich, erklärt: «Mental Load bezeichnet die Last der gesamten Denkarbeit, damit ein System funktionieren kann. Es bedeutet, die Übersicht zu behalten, mitzudenken, zu erinnern, zu koordinieren. Ich bin zuständig, dass Dinge geschehen, auch wenn ich sie nicht selbst ausführe.»

Es geht also um das Planen, Erinnern, Koordinieren und vorausschauende Denken. Es geht um das ständige Mitdenken-Müssen, oft über viele Bereiche hinweg – Schule, Kita, Arzttermine, Einkäufe, Geburtstage, Freizeit, Familiengefüge.

2. Warum ist das so anstrengend?

«Mental Load ist eine Form kognitiver Dauerbeanspruchung», sagt die Psychologin Filomena Sabatella, Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Als Mutter wurde ihr selbst bewusst, wie sehr sie die ständige Denkarbeit belastet. «Im Hinterkopf läuft permanent ein Planungsprozess, selbst wenn man körperlich gerade etwas anderes macht.» Seitdem leitet sie verschiedene Forschungsprojekte und Workshops zu dem Thema. Sie vermittelt: Mental Load ist keine To-do-Liste, sondern ein psychisch angespannter Zustand, aus dem man nur schwer herausfindet. Es ist kein Projekt, das endet. Es ist ein Dauerzustand.

Mental Load: Dinge, die sich häufen
Im Familienalltag häufen sich ständig viele Dinge an, die jemand im Blick haben muss – meist ist es die Mutter.

3. Warum ist Eltern oft nicht bewusst, dass sie überlastet sind?

Dass diese Form der Belastung oft übersehen wird, ist kein Zufall – im Gegenteil: Gerade wenn alles scheinbar reibungslos läuft, ist die mentale Arbeit am grössten. Sven Steffes-Holländer, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Vorstand der Gesellschaft für Psychosomatische Medizin Berlin, arbeitet seit Jahrzehnten zu systemischen Stressmustern in Familien.

Er sagt: «Ein zentrales Merkmal von Mental Load ist die Unsichtbarkeit. Das ist kein lautes Problem. Es ist eher wie ein Geräusch im Hintergrund, das nie aufhört – eine Form innerer Wachheit und Alarmbereitschaft.»

Eltern stehen unter sehr grossem Druck, alles richtig zu machen.

Yvonne Müller, Sozialarbeiterin

Auch die emotionale Komponente gehört dazu, betont Steffes-Holländer: «Man trägt nicht nur organisatorisch Verantwortung, sondern ist auch emotional involviert: Wird alles rechtzeitig erledigt? Ist an alle gedacht? Fühlt sich jemand übergangen? Diese emotionale Mitverantwortung verstärkt die mentale Erschöpfung.»

4. Warum erleben wir gerade so einen Hype um den Begriff Mental Load? Hatten unsere Eltern das nicht auch schon?

Der Begriff Mental Load ist in den letzten Jahren populär geworden, weil viele Menschen ihre Überforderung plötzlich benennen konnten. Die Verteilung der Belastung und die gesellschaftliche Wahrnehmung haben sich verändert.

Nuša Sager-Sokolić sagt: «Eltern müssen heute mehr entscheiden, mehr koordinieren, mehreren Rollen gerecht werden – und dabei ständig reflektieren, ob sie es richtig machen. Mental Load ist deshalb kein Modetrend, sondern Ausdruck einer realen gesellschaftlichen Dynamik.»

5. Was hat sich konkret verändert?

Die Komplexität des Alltags und die ständige Verfügbarkeit haben zugenommen: Homeoffice, flexible Arbeitszeiten, ganztägige Betreuung, digitale Kommunikation – alles ist gleichzeitig, alles jederzeit. Was früher klar getrennt war, verschwimmt heute: «Früher hat man vielleicht einmal am Tag seine Mails gecheckt und seinen Anrufbeantworter abgehört», sagt Sven Steffes-Holländer.

«Heute ist man 24 Stunden erreichbar. Alle Kanäle sind offen, alle Informationen jederzeit verfügbar. Das erzeugt eine dauerhafte Reizlage und führt dazu, dass viele sich ihr nicht mehr entziehen können.»

Viele Väter haben das Gefühl: Ich will ja – aber ich weiss nicht, wie.

Sven Steffes-Holländer, Facharzt für psychosomatische Medizin

Auch die Anforderungen an die Elternrolle sind gestiegen. Yvonne Müller, Co-Leiterin des Elternnotrufs, sagt: «Eltern stehen unter einem riesigen Druck, alles richtig zu machen. Sie sollen heute nicht mehr nur versorgen, sondern begleiten, fördern, reflektieren – emotional präsent sein, achtsam kommunizieren, kindgerecht handeln.» Auch dieser Anspruch erzeugt Mental Load.

Dazu kommt: Früher war die Arbeitsteilung oft traditioneller – der Mann verdiente, die Frau kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Heute sind oft beide Elternteile berufstätig und müssen sich die Care-Arbeit teilen. Das gelingt nicht immer gleich gut.

6. Inwieweit ist die mentale Belastung wissenschaftlich belegt?

Mehrere internationale Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen kognitiver Dauerbelastung und erhöhtem Cortisolspiegel, beeinträchtigter Emotionsregulation und einer höheren Anfälligkeit für Erschöpfung, Schlafstörungen und Depression.

«Dauerhafte mentale Aktivität erhöht das Stressniveau im Körper», sagt Filomena Sabatella. «Wir haben eine erhöhte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, sind ständig im Alarmzustand.» Auch Sven Steffes-Holländer beschreibt die Folgen auf neurologischer Ebene: «Das Gehirn ist ständig beschäftigt, es gibt keine Ruhephase. Das erschöpft auf lange Sicht und kann depressive Symptome oder Schlafstörungen begünstigen.»

7. Wer trägt die mentale Last in Familien?

Frauen übernehmen nach wie vor den grössten Teil der Verantwortung im Alltag. In der Schweiz sind laut dem Bundesamt für Statistik etwa 82 Prozent der Mütter berufstätig. Diese Mütter arbeiten im Haushalt aber nach wie vor über 50 Stunden und kommen so pro Woche oft auf über 80 oder 90 Stunden.

Eine Doppelbelastung, die dauerhaft zermürbt – zumal sie nicht nur bedeutet, viele To-dos abzuarbeiten, sondern dauerhaft an alles zu denken, alles zu koordinieren, alles im Blick zu behalten. Es ist die ständige Zuständigkeit in allen Bereichen – vom Kindergeburtstag bis zur nächsten Deadline im Job, von der Winterjacke bis zur Klassenarbeit, vom Arzttermin bis zur Steuererklärung.

Mike Reichen und Martina Jüsi verstehen Familienarbeit als gleichwertige, gesellschaftlich geteilte Aufgabe. Mehr dazu erfahren Sie hier.

Die Psychologin und Bestsellerautorin Patricia Cammarata, eine der prominentesten Stimmen zum Thema Mental Load im deutschsprachigen Raum, sagt: «Die mentale Last ist ein strukturelles Problem, das sich aus gesellschaftlichen Zuschreibungen speist. Mädchen lernen früh, empathisch zu sein, Beziehungen zu pflegen, sich zuständig zu fühlen. Das führt dazu, dass sich viele Frauen unbewusst in traditionelle Muster fügen – selbst wenn sie es eigentlich anders machen wollen.»

Doch Mental Load entsteht nicht nur, wenn beide Eltern erwerbstätig sind. Yvonne Müller vom Elternnotruf ergänzt: «Auch wer sich ausschliesslich um Kinder und Haushalt kümmert, ist mental rund um die Uhr im Einsatz. Doch viele nehmen das nicht wahr, weil keine zweite Arbeitswelt existiert. Die emotionale und organisatorische Dauerverfügbarkeit wird unterschätzt – gerade, wenn sie zu Hause stattfindet.»

8. Und wie geht es den Vätern?

Auch viele Väter spüren den Druck, allem gerecht zu werden – beruflich präsent zu sein, emotional verfügbar, verlässlich im Familienalltag. Doch die gesellschaftlichen Erwartungen an Väter sind widersprüchlich: Sie sollen sich mehr einbringen, aber gleichzeitig «mitlaufen», nicht «mitbestimmen». Das erzeugt Unsicherheit und Frust.

Psychosomatiker Sven Steffes-Holländer beobachtet in seiner klinischen Arbeit: «Viele Väter haben das Gefühl: Ich will ja – aber ich weiss nicht, wie. Sie erleben, dass sie sich engagieren, dass sie mehr tun als ihr eigener Vater, und trotzdem scheint es nie zu reichen.»

Filomena Sabatella von der ZHAW ergänzt: «Männer fühlen sich oft in der Rolle der Zuarbeiter, nicht als gleichwertige Bezugsperson. Dabei wünschen sich viele eine echte Teilhabe – aber es fehlen Räume, in denen auch sie über Überforderung sprechen dürfen, ohne sofort als schwach zu gelten.»

9. Warum schaffen es Paare, die eine gleichberechtigte Aufgabenteilung anstreben, nicht, die mentale Last besser zu verteilen?

«Viele Väter wollen heute präsent sein, aber sie haben es selbst in ihrer Kindheit nicht erfahren», sagt Yvonne Müller. «Ihnen fehlen die Vorbilder und das Zutrauen. Sie greifen punktuell ein, statt Verantwortung wirklich zu übernehmen.» Dieses «Helferdenken» führt dazu, dass die Hauptverantwortung meist bei der Mutter bleibt – und der Vater sich eher als unterstützende Kraft sieht, nicht als gleichwertig Zuständiger.

Frauen glauben häufig, sie seien verantwortlich, müssten sich kümmern. Das verhindert eine echte Übergabe.

Nuša Sager-Sokolic, Psychotherapeutin

Solche unausgesprochenen Rollenbilder prägen oft den Alltag: Die Frau organisiert, der Mann «hilft». Wenn sie überlastet ist, folgt dann nicht selten der gut gemeinte Satz: «Du musst das doch gar nicht machen.»

Psychotherapeut Sven Steffes-Holländer warnt: «Der klingt erst mal unterstützend, aber er entwertet das, was die andere Person leistet.» So wird Verantwortung nicht aktiv geteilt, sondern werden Aufgaben als unwichtig deklariert.

10. Warum fällt es Frauen oft so schwer, Verantwortung abzugeben?

Viele Mütter wünschen sich mehr Entlastung, aber geben die Verantwortung im Alltag trotzdem nur ungern ab. Das liegt oft an einem tief eingeprägten Reflex: «Ich mach das schnell selbst – dann ist es erledigt.»

Die Psychologin und Autorin Patricia Cammarata beschreibt dieses Verhalten so: «Frauen übernehmen, greifen ein, korrigieren, weil sie es so gelernt haben. Wenn ich es nicht mache, wird es nicht gemacht – oder zu spät oder falsch.» Die Folge: Der Partner zieht sich zurück, überlässt der Frau die Planung – und ungewollt verfestigt sich genau die Rollenverteilung, die beide eigentlich vermeiden wollten.

Nuša Sager-Sokolić vom Klaus-Grawe-Institut ergänzt: «Viele Frauen tragen in sich den Glaubenssatz: Ich bin verantwortlich. Ich muss mich kümmern. Ich bin nur eine gute Mutter, wenn ich das alles kann. Das verhindert echte Übergabe, selbst wenn der Partner bereit wäre.» Solche inneren Überzeugungen wirken oft stärker als rationale Einsicht – und lassen sich nur verändern, wenn sie bewusst gemacht und bearbeitet werden.

11. Wie geht es Alleinerziehenden?

Mental Load ohne Partner – das bedeutet: keine Pausen, keine Möglichkeit zum Delegieren, keine Absicherung. Psychologin Filomena Sabatella sagt: «Alleinerziehende sind organisatorisch und emotional ständig im Einsatz. Viele sagen: Ich bin viel zu müde, um etwas zu ändern. Sie machen weiter, obwohl sie innerlich längst nicht mehr können.»

Die Folge, so Sabatella, sei häufig ein chronisches Stresserleben, verbunden mit Schlafstörungen, Gereiztheit, Niedergeschlagenheit oder sogar depressiven Symptomen.

Mental Load: Wäsche waschen
Kleider waschen: eine der unzähligen wiederkehrenden Aufgaben, die im Familienalltag erledigt werden müssen.

12. Was hilft in einer solchen Situation?

Barbara Turina, Geschäftsführerin des Entlastungsdienstes Schweiz im Kanton Zürich, kennt diese Überforderung aus vielen Gesprächen. Ihre Organisation begleitet Familien und Menschen mit Unterstützungsbedarf im Alltag – etwa mit betreuungsbedürftigen Angehörigen oder Kindern mit Beeinträchtigungen.

«Viele Alleinerziehende, die zu uns kommen, haben keine Ausstiegsinseln – niemanden, der mal übernimmt.» Sie scheuen manchmal den bürokratischen Aufwand: Wer Unterstützung sucht, muss Anträge stellen, Rechte kennen, Finanzierung klären. «Viele wissen gar nicht, was ihnen zusteht. Und bis sie bei uns ankommen, ist die Erschöpfung oft schon so weit fortgeschritten, dass alles zu viel erscheint.»

Es tut vielen Eltern unglaublich gut, wenn jemand sieht, was sie Tag für Tag leisten.

Barbara Turina, Geschäftsführerin Entlastungsdienst Kanton Zürich

Yvonne Müller vom Elternnotruf rät dazu, gezielt nach Unterstützung im eigenen Umfeld zu suchen und dabei auch neue Wege zu denken. «Alleinerziehende brauchen ein stabiles Netzwerk. Das kann aus Grosseltern, Freundinnen oder Nachbarn bestehen – Menschen, die regelmässig entlasten.»

In vielen Gemeinden gibt es Familienzentren, Elterncafés oder Tandemprojekte, bei denen Eltern sich gegenseitig unterstützen. Auch sogenannte Patenschaftsmodelle – etwa über Caritas oder lokale Sozialdienste – können helfen, Betreuung zu organisieren oder einfach mal eine Pause zu ermöglichen. Wichtig sei, so Müller, «dass Eltern sich nicht dafür schämen, Hilfe anzunehmen. Niemand muss das allein schaffen.»

13. Und was soll man tun, wenn ein Kind besondere Bedürfnisse hat?

Der Mental Load wird zur Dauerbelastung, wenn nicht nur die tägliche Doppelverantwortung für Job und Familie gestemmt werden muss – sondern zusätzlich ein Kind mit Beeinträchtigung intensive Betreuung braucht. Barbara Turina vom Entlastungsdienst sagt: «Viele dieser Familien sind mehrfach belastet: finanziell, organisatorisch und auch sozial.»

Denn zu den ständigen Herausforderungen – Therapietermine, Ämtergänge, Diagnostik, Schul- und Betreuungsfragen – kommt oft ein Gefühl der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit. «Wer ein sogenannt «besonderes Kind» hat, hat oft keine Energie mehr, um soziale Kontakte zu pflegen. Die eigene Erschöpfung wird nicht gesehen.»

Beruf, Familie, Hobby: Jennifer und Christoph Grabbe stellen in ihrer raren Freizeit auch noch Metallkreationen her. Mehr dazu erfahren Sie hier.

Umso wichtiger sei es, dass Betroffene frühzeitig entlastet werden – durch professionelle Angebote, durch Beratung, durch einen Raum, in dem sie sagen dürfen: Ich kann nicht mehr. Barbara Turinas Organisation vermittelt in solchen Fällen geschulte Betreuungspersonen, die stundenweise entlasten. Für viele Eltern, so Turina, sind ihre Betreuungspersonen «die Einzigen, die wirklich sehen, was sie Tag für Tag leisten. Und es tut unglaublich gut, endlich einmal gesehen zu werden.»

14. Wie können Paare die Last gerechter verteilen?

Wer sich einmal bewusst gemacht hat, wie viel unsichtbare Arbeit täglich anfällt, will oft etwas verändern. Doch genau das ist gar nicht so einfach – selbst in modern denkenden Beziehungen. Die gute Nachricht: Es gibt konkrete Strategien, wie sich Mental Load gemeinsam reduzieren lässt.

Ein erster Schritt: alles sichtbar machen, was im Hintergrund mitläuft. Statt nur zu sagen «Ich bin überlastet», empfehlen viele Expertinnen und Experten, Mental-Load-Listen zu erstellen. Welche Aufgaben fallen regelmässig an? Wer denkt an was? Wer organisiert, plant, erinnert, kontrolliert?

Patricia Cammarata rät: «Am besten setzt man sich gemeinsam hin und listet auf, was im Alltag tatsächlich alles gemacht und bedacht werden muss – nicht nur die sichtbaren Dinge wie Waschen oder Einkaufen, sondern auch das Unsichtbare: an Arzttermine denken, neue Kleidung besorgen, Geschenke planen.»

Der zweite Schritt: klare Zuständigkeiten definieren – mit allem, was dazugehört. «Wirkliche Entlastung entsteht nur, wenn ganze Aufgabenbereiche inklusive Denkverantwortung übergeben werden», sagt Psychotherapeutin Nuša Sager-Sokolić. «Wenn beide wissen: Ich bin verantwortlich für diesen Bereich – nicht nur als Aushilfe oder zur Unterstützung –, dann verändert sich das ganze System.»

Auch die Sprache spielt eine zentrale Rolle. «Wer sagt «Ich helfe dir», signalisiert unbewusst: Es ist eigentlich dein Job. Das zementiert bestehende Ungleichgewichte», sagt Nuša Sager-Sokolić. Stattdessen sollten Paare bewusst Formulierungen wie «Ich übernehme …» oder «Ich bin verantwortlich für …» verwenden – denn Sprache verändert Wahrnehmung.

Patricia Cammarata bringt es auf den Punkt: «Es reicht nicht, To-do-Listen abzuarbeiten. Die andere Person muss auch wirklich zuständig sein – sie plant, führt aus, erinnert sich selbst. Nur dann kann Mental Load sinken.»

Es hilft, wenn beide wissen: Wir tragen die Last gemeinsam.

Patricia Cammarata, Psychologin

15. Was hilft noch – jenseits der Aufgabenteilung?

Wer den Mental Load spürbar reduzieren will, braucht mehr als gerechte Zuständigkeiten. Es geht auch darum, den Alltag aktiv zu gestalten – durch Prioritätensetzung, gegebenenfalls Reduktion, Routinen, kleine Rituale, passende Tools und, wenn nötig, professionelle Begleitung. Psychotherapeutin Nuša Sager-Sokolić empfiehlt Paaren, sich regelmässig auszutauschen: «Man kann gemeinsam prüfen: Ist die Verteilung noch stimmig?» Das kann helfen, Erwartungen und Belastungen abzugleichen, bevor sie sich aufstauen.

Auch kleine, verlässliche Rituale schaffen Struktur: ein fixer Zeitpunkt für Planungsgespräche, klare Übergaben am Wochenende, gemeinsame Kalenderführung. Sven Steffes-Holländer spricht von einer Art Mini-Familienkonferenz: «Einmal pro Woche wird geplant: Wer macht was, was ist wichtig, was kann liegen bleiben?» So hält man sich gegenseitig auf dem Laufenden – und entlastet sich langfristig.

Mental Load: Abwaschen
Abwaschen und alles für den nächsten Tag vorbereiten – denn auch dieser wird wieder vollgepackt sein.

Wer alleine nicht weiterkommt, kann sich Hilfe holen. Viele Paare und Familien scheuen diesen Schritt – aus Scham oder weil sie glauben, ohnehin alles allein schaffen zu müssen. Psychologin Filomena Sabatella beobachtet in ihrer Beratung oft: «Viele warten zu lange. Dabei könnte eine einzige Sitzung schon helfen, die eigenen Grenzen klarer zu sehen – und gemeinsam neue Wege zu finden.» Ihr Rat: nicht erst in der Krise handeln. «Mental Load ist ein Alarmsignal. Beratung kann helfen, rechtzeitig gegenzusteuern.»

16. Wird der Mental Load nur bei einer 50:50-Aufteilung gerecht verteilt?

Sven Steffes-Holländer warnt: «Gleichheit ist nicht dasselbe wie Gerechtigkeit.» Es sei wenig hilfreich, alles haargenau aufzurechnen – denn was in einer Phase funktioniert, kann in einer anderen überfordern. Wichtiger sei, dass beide Partner sich als gesehen und getragen erleben – auch wenn das mal 60:40 oder 30:70 bedeutet.

Auch Filomena Sabatella plädiert für dynamische Lösungen: «Es geht nicht um starre Zahlen, sondern darum, dass die Bedürfnisse und Möglichkeiten beider Seiten ernst genommen werden.» Das könne auch heissen, in belastenden Phasen bewusst Entlastungsschulden aufzubauen – mit dem Versprechen, sie später gemeinsam auszugleichen.

Patricia Cammarata schlägt vor, den Begriff der Fairness neu zu denken – hin zu einem flexiblen, partnerschaftlichen Umgang mit Verantwortung. «Es hilft, wenn beide wissen: Wir tragen die Last gemeinsam. Und wir sind im Gespräch darüber, was das im Moment bedeutet.»