Frau Weaver, was ist das Rushing-Woman-Syndrom?
Es handelt sich dabei nicht um eine medizinische Diagnose. Ich wollte beschreiben, was ich bei vielen meiner Patientinnen beobachtet habe: die biochemischen, ernährungsbedingten und emotionalen Veränderungen, die daraus entstehen, wenn eine Frau dauerhaft unter Druck steht und das Gefühl hat, ständig hetzen zu müssen. Das Syndrom beschreibt also das Umfeld, das viele Frauen heute haben.
Wie hängt das mit der mentalen Überlastung zusammen?
Das Phänomen des Mental Load überschneidet sich stark damit. Beidem liegt oft ein tief empfundenes Verantwortungsgefühl, Schuldbewusstsein zugrunde oder der innere Glaube, für alle alles sein zu müssen. Beides zusammen – Mental Load und das Rushing-Woman-Syndrom – kann Frauen körperlich und emotional vollkommen erschöpfen.
Wo sehen Sie die grössten Gesundheitsrisiken?
Wenn Frauen dauerhaft unter Stress stehen, übergehen sie oft die leisen oder auch lauten Signale ihres Körpers: dass er Ruhe, Nährstoffe oder Verbindung braucht. Mit der Zeit kann das zu diversen körperlichen Symptomen führen wie Verdauungsproblemen, Schlafmangel, Erschöpfung, Angstzuständen oder Stimmungsschwankungen.
Langfristig führt dieser Zustand zu einem Mangel an lebenswichtigen Nährstoffen wie den B-Vitaminen, Vitamin C, Magnesium, Zink und Eisen. Die körperliche Gesundheit nimmt massiv Schaden, der Geist fühlt sich ängstlich oder benebelt.

Welche Auswirkungen hat chronischer Stress bei Frauen?
Chronischer Stress signalisiert dem Körper: Dein Leben ist in Gefahr. Der Körper unterscheidet dabei nicht zwischen einer echten Bedrohung und einer nur empfundenen – also zum Beispiel, ob du tatsächlich in Lebensgefahr schwebst oder dich einfach nur von einer überquellenden E-Mail-Inbox überfordert fühlst.
Dieses Stresserleben kann eine biochemische Kaskade in Gang setzen, die den Eisprung hemmt – und damit auch die Produktion von Progesteron drosselt, einem der wichtigsten weiblichen Fruchtbarkeitshormone. Denn natürlich will der Körper in einer als gefährlich empfundenen Situation keine Schwangerschaft riskieren.
Verändert sich noch mehr?
Ja, Progesteron hat noch viele weitere Aufgaben. Es wirkt entwässernd und ist ein starkes natürliches Anti-Angst-Hormon. Sinkt der Spiegel, kann das zu erhöhter Ängstlichkeit, PMS (prämenstruelles Syndrom), Wassereinlagerungen, unregelmässigen Zyklen und Schlafproblemen führen. Mit der Zeit kann diese Dysbalance auch den Östrogenspiegel beeinträchtigen – über die Leber und das Darmmikrobiom – und das Verhältnis zwischen Östrogen und Progesteron stören. Das kann wiederum zu verstärkten Beschwerden in den Wechseljahren führen oder Probleme wie Myome und starke Blutungen verschlimmern.
Wenn man mitten in der Nacht aufwacht und nicht mehr einschlafen kann, ist das häufig die Folge von chronischem Stress.
Gibt es konkrete Warnzeichen, auf die Frauen achten sollten?
Ja. Wenn man ständig müde ist, egal wie viel man schläft, sich schlechter konzentrieren kann, reizbarer ist als sonst, Veränderungen im Zyklus bemerkt, unter Schlafstörungen leidet oder sich emotional taub oder überfordert fühlt – dann sendet der Körper klare Signale. Er bittet um eine Pause, um Veränderung: in Ernährung, Bewegung, Atmung, Denken, Fühlen oder Wahrnehmen. Diese Signale sollte man ernst nehmen.
In Ihrem Buch verwenden Sie den Begriff «tired but wired». Was genau meinen Sie damit?
«Tired but wired» beschreibt den Zustand, in dem man völlig erschöpft ist und dennoch nicht abschalten kann. Man liegt im Bett, fühlt sich ausgelaugt, doch die Gedanken rasen unaufhörlich, Ruhe ist nicht möglich. Oder man wacht mitten in der Nacht auf und kann einfach nicht mehr einschlafen. Dieses Phänomen ist häufig die Folge von chronischem Stress, Reizüberflutung und einem Nervensystem, das zu lange auf Adrenalin gelaufen ist.
Was genau ist die Aufgabe des autonomen Nervensystems?
Es besteht aus zwei Teilen: dem sympathischen (Kampf-oder-Flucht-Modus) und dem parasympathischen (Ruhe-, Verdauungs- und Regenerationsmodus) Teil. Chronischer Stress sorgt dafür, dass der sympathische Zweig dauerhaft dominiert – so, als würde man ständig aufs Gaspedal treten. Der parasympathische Teil, der eigentlich für Ruhe, Verdauung, Reproduktion und Heilung zuständig ist, bekommt im Zustand ständiger Überlastung viel zu selten die Chance, aktiv zu werden.
Welche Veränderung empfehlen Sie, um den Körper wieder in Balance zu bringen?
Sanfte, regelmässige Rituale im Alltag können sehr unterstützend sein: langsames, tiefes Atmen in den Bauch, kurze Spaziergänge in der Natur, mit hochgelegten Beinen liegen, langsame, atemzentrierte Bewegungen wie Tai-Chi oder einfach Momente ohne Bildschirm. Auch eine entspannende Abendroutine und weniger Reize wie Koffein und Zucker können helfen, wieder in einen regenerativen Zustand zu finden. Bestimmte Heilpflanzen – etwa Schlafbeere (Withania), Zitronenmelisse, Magnolie oder Kamille – können zusätzlich unterstützen.
Frauen müssen sich klarmachen, dass der eigene Wert nicht davon abhängt, wie viele Punkte auf der To-do-Liste abgehakt werden.
Pausen können ein Türöffner sein, um Energie und das Gespür für sich selbst zurückzuerobern. Dazu muss man sich aber erst einmal eingestehen, dass etwas anders werden darf.
Letztlich werden Rushing Women erst dann wirkliche Ruhe finden, wenn sie hinterfragen, was ihren inneren Stress eigentlich antreibt. Welche Gedanken, Überzeugungen, Werte oder Verhaltensmuster lassen diesen ständigen Druck entstehen? Sagt man Ja, obwohl man Nein meint? Koppelt man den Selbstwert an Leistung? Fürchtet man, andere zu enttäuschen – oder ihre Ablehnung? Oder fürchtet man sich davor, nicht mehr als fähig wahrgenommen zu werden?
Was raten Sie Frauen, die genau wissen, dass sie an ihre Grenzen stossen, und trotzdem glauben, weitermachen zu müssen?
Sie müssen sich klarmachen, dass der eigene Wert nicht davon abhängt, wie viele Punkte auf der To-do-Liste abgehakt werden. Sonst kommt es zu einem gefährlichen Kreislauf: Schuldgefühle, Perfektionismus und Selbstwertzweifel sind oft die eigentliche Ursache für den chronischen Stress vieler Frauen. Dieser Stress wiederum treibt die Beschwerden an, unter denen sie leiden.
Man kann sich noch so gesund ernähren und leben – wenn man im tiefsten Inneren nicht glaubt, dass man Ruhe oder Stille verdient, oder wenn man unbewusst ständig nach Anerkennung sucht, wird der Körper im Stressmodus bleiben. Solche inneren Überzeugungen zu hinterfragen, ist ein zentraler Schritt zur echten Heilung.